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Habitus II: Anwendungen in der qualitativen Medienforschung

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Neben Untersuchungen zur Mediennutzung und zur Medienaneignung (vgl. Meyen 2007; Scherer 2013) wird Bourdieus Soziologie in der qualitativen Medienforschung überall dort genutzt, wo menschliches Handeln im Mittelpunkt steht (vgl. die Überblicksdarstellungen in Park 2014 und Wiedemann 2014 sowie die Beispiel-Arbeiten in Wiedemann/Meyen 2013): in der Journalismusforschung (hier vor allem in Studien zum journalistischen Selbstverständnis, zum Arbeitsalltag in Redaktionen, zu den Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern sowie zur Kodifizierung von journalistischer Qualität), im Bereich Organisationskommunikation und Public Relations (etwa wenn es um den Berufshabitus geht, um die Kapitalformen, die im Feld geschätzt werden, oder um strategische Kommunikation), in der Medieninhaltsforschung (Stichworte Sprache, symbolische Macht und Autorität), in der Mediensystemforschung (Beziehungen zwischen Medienangebot und sozialem Raum) sowie in der wissenschaftssoziologisch orientierten Fachgeschichtsschreibung. Thomas Wiedemann (2012) hat das Habitus-Konzept in seiner Biografie von Walter Hagemann z. B. erstens geholfen, das Untersuchungsmaterial einzuschränken und zu strukturieren, und zweitens intersubjektive Nachvollziehbarkeit gesichert – ein zentrales Qualitätskriterium gerade bei qualitativ angelegten Fallstudien.

Einige Arbeiten nutzen Bourdieus Terminologie auch für Kollektivbiografien. Solche Gruppenporträts stützen sich auf vergleichsweise große Datensätze (etwa: alle Vertreter einer bestimmten Professoren-Generation oder möglichst viele und theoriegeleitet ausgewählte Akteure eines nationalen journalistischen Feldes) und beschreiben eine Art Norm: Wie alt war der »durchschnittliche« Professor oder die »durchschnittliche« Journalistin, als er oder sie in das jeweilige Feld eintraten, welche Qualifikationen und welche Herkunft waren für die erste feste Stelle nötig und wann gab es eine Beförderung? Wie war die Situation 1975, wie 1990 und wie 2010? Die entsprechenden Werte helfen dann, individuelle Karrieren einzuordnen und zu bewerten. Die Beschreibung eines Kollektiv-Habitus macht auch deshalb Sinn, weil sich die Position der sozialen Felder im sozialen Raum genauso unterscheidet wie die Position von Subfeldern oder Akteuren in einem bestimmten Feld selbst. Kommunikationswissenschaft und Medienforschung z. B. sind im wissenschaftlichen Feld eher in einer untergeordneten Position zu finden (im Vergleich zu Leitdisziplinen wie Biologie, Hirnforschung oder Physik) – mit Folgen für den Habitus aller Fachvertreter. Den entsprechenden Mechanismus kann man auch in einer Kollektivbiografie von DDR-Journalisten studieren, die Michael Meyen und Anke Fiedler (2013) konstruiert haben. Quelle waren 121 Lebensläufe, die zum einen mithilfe von Memoiren und weiteren biografischen Quellen zusammengestellt wurden und zum anderen über persönliche Interviews. Vergleichbarkeit und Nachvollziehbarkeit sicherten hier ganz ähnlich wie bei Thomas Wiedemann (2012) Kategorien, die der Soziologie Bourdieus entlehnt wurden und vor allem auf den Habitus der Journalisten zielten.

Der kollektivbiografische Ansatz wird auch von Klaus Beck, Till Büser und Christiane Schubert (2016) aufgenommen, die für die Analyse von Mediengenerationen die Konzepte Feld der Medien, mediales Kapital und medialer Habitus entwickelt und genutzt haben. Während in dieser Studie alle Medienakteure zum Feld der Medien gehören (professionelle und gelegentliche Kommunikatoren genauso wie Rezipienten), beschreibt der Begriff »mediales Kapital« die Kapitalformen, die in diesem Feld symbolisch wirksam werden. Dazu gehören auf Rezipientenseite z. B. Medienkompetenzen und Geräteausstattung, aber natürlich auch das Eigentum an Medienproduktionsmitteln oder die Fähigkeit von Akteuren oder Gruppen, »mediale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Öffentlichkeit für sich und die eigenen Belange herzustellen und auf die journalistische Berichterstattung Einfluss zu nehmen« (Beck u. a. 2013, S. 245).

Der Begriff »medialer Habitus« erfasst bei Beck, Büser und Schubert (2013, S. 251) die »mediale Seite des persönlichen Habitus, also alle Dispositionen, Bewertungen, Erfahrungen und Erwartungen mit Bezug zum Medienhandeln«. Weiter im Text: Der mediale Habitus einer Person »beschreibt ein Handlungsrepertoire, einen Spielraum auf dem Handlungsfeld der Medien. Empirischer Mediennutzungsforschung zugänglich sind die Folgen des Habitus in Gestalt des konkreten Medienhandelns und die Interpretationen dieses Handelns durch die Akteure selbst. Diese können in Befragungen, Tiefeninterviews oder Tagebüchern über ihre Medienhandlungen und ihre Dispositionen (als wesentliche Komponenten des Habitus) Auskunft geben« (ebd., S. 251).

Diese Arbeiten von Beck, Büser und Schubert (2013; 2016) werden hier auch deshalb vergleichsweise ausführlich erwähnt, weil sie zeigen, wie die theoretische Perspektive den Untersuchungsgegenstand formt. Mit dem Habitus-Konzept »geraten statt der spontanen Motive, Heuristiken und Kalküle der Mediennutzungsepisode stärker auch die habitualisierten und ritualisierten Formen des Medienhandelns in den Blick« (Beck u. a. 2013, S. 253). Außerdem fragen Mediennutzungsstudien, die auf Bourdieu aufbauen, nach dem »praktischen Sinn des Mediengebrauchs, und zwar aus der Sicht der Akteure: Medienrepertoires, Medienstile und Medienbewertungen stehen dabei im Mittelpunkt« (ebd.).

Auch in den anderen Gegenstandsbereichen qualitativer Medienforschung lässt sich leicht zeigen, dass mit jeder Sozialtheorie nicht nur eine bestimmte Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte verbunden ist, sondern auch eine genuine Erkenntnisperspektive. Theoretische Ansätze sind nicht nur dazu da, falsifiziert zu werden (wie Vertreter des kritischen Rationalismus ihren Jüngern manchmal glauben machen wollen). Theorien stellen zuallererst Begriffe bereit, die einen Zugang zur Realität erlauben (vgl. Wiedemann/ Meyen 2013, S. 9). Wer mit Bourdieu arbeitet, will weder beweisen noch widerlegen, dass es so etwas wie einen Habitus oder soziale Felder gibt. Diese Denkwerkzeuge werden vielmehr genutzt, um die soziale Welt zu analysieren. Dass hier am Beispiel von Bourdieus Habitus-Konzept für die Nutzung von Sozialtheorien in der qualitativen Medienforschung plädiert wird, wurzelt in einem Wissenschaftsverständnis, das sich auf Systematik, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Reflexion stützt (vgl. Meyen u.a. 2011). Dazu gehört, die theoretische Perspektive offenzulegen, die den Zuschnitt des Gegenstandes bestimmt hat. Wie wollte man, um nur auf das Beispiel der Hagemann-Biografie von Thomas Wiedemann (2012) zurückzukommen, die unendliche Fülle eines Lebens zwischen zwei Buchdeckel pressen, wenn nicht mithilfe einer Theorie, die nicht nur die Fragestellung bestimmt, sondern auch die Lebensstationen und Facetten der Persönlichkeit, die man sich näher anschaut (hier: gesehen durch die Habitus-Brille), und damit letztlich sogar die Auswahl der Quellen?

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