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Habitus I: Theoretische Grundlagen

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Ein Beispiel für eine solche Sozialtheorie ist die Soziologie Bourdieus, die den Anspruch hat, alle Spielarten menschlichen Handelns und unterschiedlichste Strukturen erklären zu können und sich deshalb nicht nur in der Mediennutzungsforschung anwenden lässt, sondern in nahezu allen Feldern der Kommunikationswissenschaft (vgl. Wiedemann/Meyen 2013; Park 2014). Bei Bourdieu werden wir von dem Wunsch angetrieben, uns von anderen Menschen abzuheben. »Ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein« und damit »etwas bedeuten«, heiße nichts anderes als »sich unterscheiden« (Bourdieu 1998, S. 22). Real ist für Bourdieu die Beziehung zu den anderen, der Abstand zum Gegenüber. Dieser Abstand wird immer wieder aufs Neue markiert, meist ohne die entsprechenden strategischen Absichten und ohne dass uns dieses Ziel überhaupt klar sein muss. Arenen für solche Kämpfe zwischen Menschen sind soziale Felder, die bei Bourdieu aus Akteuren bestehen (und zwar aus allen, die z. B. Politik betreiben oder Kunst und Literatur erzeugen und verbreiten) sowie aus »den objektiven Beziehungen« zwischen diesen Akteuren (ebd., S. 20). Um das Gewicht des einzelnen Akteurs und damit seinen Handlungsspielraum messen zu können, arbeitet Bourdieu mit dem Kapital-Konzept und unterscheidet vier Kapitalformen (ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital, vgl. Wiedemann 2014, S. 89). Die Begriffe »Feld« und »Kapital« gehören zusammen, weil in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und weil in den einzelnen Feldern jeweils spezifische Formen von Kapital entstehen.

Die beiden anderen zentralen Denkwerkzeuge Bourdieus werden hier erwähnt, weil der Habitus untrennbar mit der Kapitalausstattung verbunden ist sowie mit den sozialen Feldern, in denen sich Menschen bewegen. Unsere Erfahrungen, die sich in den Habitus einschreiben, hängen von der Position ab (in sozialen Feldern, im sozialen Raum) sowie von den verfügbaren Kapitalien. Bei Bourdieu (1987a, S. 277) ist der Habitus der Rahmen für Handlungen, Einstellungen zu Handlungen und Ursachen von Handlungen – das »Erklärungsprinzip«, auf dem alles basiert und von dem alles abhängt. Das Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen (etwa in der Kindheit) spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Obwohl der Habitus durch die Gesellschaft und durch die Stellung im sozialen Raum geprägt ist und obwohl die jeweils verfügbaren Ressourcen Handlungsgrenzen markieren, gesteht Bourdieu dem Menschen innerhalb dieser Grenzen sehr wohl Freiheit, Individualität und die Chance auf Innovationen zu. Der Habitus legt noch nicht »die Praktiken an sich« fest, sondern lediglich den »Spielraum«, in dem sich ein Akteur bewegt (Schwingel 2005, S. 69): Was ist möglich und was nicht? Welche Dinge schockieren uns, was ist undenkbar und was würden wir garantiert nie tun? Dieser Spielraum ist allerdings deutlich kleiner als in den extremen Varianten des Lebensstil-Konzepts.

Um konkrete Praxisformen (wie etwa die Nutzung einer Onlinezeitung, die Arbeit eines Nachrichtenredakteurs oder die Verwendung bestimmter Methoden in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung) beschreiben und untersuchen zu können, hat Bourdieu vorgeschlagen, den Habitus analytisch zu teilen – in ein Opus operatum und einen Modus Operandi. Der Modus Operandi (wie und warum handelt man?) wird dabei durch das Opus operatum definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an äußerlichen Merkmalen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen, Körpergröße), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie, Kinder, Kapitalausstattung, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Anders ausgedrückt: Im Opus operatum (im »Ursprung« des Habitus) wird die soziale Position sichtbar. Der Kapitalbesitz einer Person wird inkorporiert und so in dauerhaften Dispositionen Teil des Habitus – Bildung beispielsweise als kulturelles Kapital. Das System dieser Dispositionen ist nicht starr, sondern wird immer wieder modifiziert (vgl. Bourdieu 1987b, S. 105–107).

Im Modus Operandi wird der Habitus zum »Erzeugungsprinzip von Praxisformen« (Bourdieu 1976, S. 165). Wie Spieler, die Spielregeln verinnerlicht haben, handeln Menschen entsprechend ihres Habitus, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen (Bourdieu 1998, S. 24). So ist auch »rational« vorherbestimmt (ebd., S. 17), ob jemand regelmäßig online Nachrichten liest oder mit Freunden chattet. Dass wir über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, erfasst Bourdieu mit dem Konzept des »praktischen Sinns«, der wie ein Instinkt funktioniert und Akteuren erlaubt, »auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren« (Bourdieu 1987a, S. 190 f.). Die Habitus-Kapital-Feld-Theorie ist deshalb auch als »goldener Mittelweg« zwischen den »beiden Extremen« beschrieben worden, die soziale Praxis entweder »in einer Mechanik struktureller Zwänge« sehen oder als Ergebnis »freier Entscheidungen« (wie etwa im Lebensstil-Konzept). Habitus (»Leib gewordene Geschichte«) und Feld (»Dingcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse«) gehören bei Bourdieu zusammen, weil »die objektiven sozialen Strukturen den Habitus ebenso strukturieren« wie dieser die Praxis (Schwingel 2005, S. 73 f.).

Folgt man Bourdieu, dann ist menschliches Handeln nicht ohne den Habitus und ohne die soziale Position zu erklären. Das hat Folgen für das Untersuchungsdesign – vor allem für die Kategorien, die meine Untersuchung leiten, und damit dann z. B. auch für den Leitfaden, mit dem ich in Interviews gehe, und für die Ergebnisse, die ich aus entsprechenden Gesprächsprotokollen ableite (vgl. Löblich 2016). Um den praktischen Sinn zu verstehen, den ein Mensch etwa mit der Nutzung von Medienangeboten verbindet (Habitus als Modus Operandi), muss ich wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als Opus operatum), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Außerdem dürften Medienangebote auch genutzt werden, um Kapital zu akkumulieren (Kapitalmanagement), um die eigene Position zu erkennen und um diese Position zu markieren. Diese Form des Identitätsmanagements kann über soziale Netzwerke erfolgen, über Fernsehsendungen oder über Internetseiten für Spezialinteressen – Angebote, die sowohl dazu dienen, Signale in den sozialen Raum zu senden (das ist mein Kapital, diesen Normen und Werten fühle ich mich verpflichtet), als auch diesen Raum zu beobachten und so die eigene Position zu bestimmen. Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sendungen oder Internetangebote versprechen kulturelles und symbolisches Kapital und können darüber hinaus zum sozialen und zum ökonomischen Kapital beitragen (vgl. Meyen u.a. 2009). Bei Bourdieu streben letztlich alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen abzuheben und ihre Position zu verbessern. Da allerdings erstens in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und da die Investition in bestimmte Kapitalarten zweitens auch von der Einschätzung der eigenen Position und damit der Erfolgsaussichten abhängt, unterscheiden sich die Mediennutzer sowohl bei der konkreten Kapitalakkumulation als auch in der Bedeutung, die sie Medien insgesamt oder einzelnen Anwendungen zuschreiben (vgl. Jandura/Meyen 2010).

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