Читать книгу Indigene Religionen Südamerikas - Группа авторов - Страница 16
2 Der Nabel der Welt
ОглавлениеSeit jenen alten Zeiten vor der Zeit finden sich um Hipana zahlreiche Felsblöcke und Krater, die auch Kochtöpfe genannt werden, aus denen der Schöpfer Napiruli (von den Kurripako Iñapirríkuli genannt) alle Menschen an den Haaren herauszog, auch die criollos (Nicht-Indigene, Weiße). Die Felsblöcke des Nabels der Welt erinnern auch an die Geschichte der Geburt von Kuwai (so sein Name bei den Arawak. In der Literatur ist er unter dem Namen Yuruparí bekannter, weshalb ich im Folgenden zur besseren Verständlichkeit diesen Namen zu dem von den Arawak verwendeten hinzufüge). Der Schöpfer Iñapirríkuli schickte sein Wissen in den »verschlossenen«, das heißt geschlechtslosen Körper von Ámarru und schwängerte sie, sodass sie Kuwai (andernorts Yuruparí genannt) gebar. Dies geschah, indem er sein »Wissen« in sie hineinsandte.8 Manche sagen auch, dass er sie durch den Mund schwängerte.
Heute noch erhebt sich in Hipana der große, runde Krater, aus dem einst, bevor es die Zeit gab, die ursprüngliche Sonne erstmals zum Himmel emporstieg. Die ursprüngliche Welt – vor der Zeit, vor dem Licht, vor der Dunkelheit, als es nur schreckliche Finsternis und Wasser gab, vor dem Wechsel von Tag und Nacht, vor der Zeit – war klein, abgeschlossen, eingekapselt. Der Schöpfer Napiruli wohnte und bewegte sich hin und her innerhalb seines Felsens im Strom in Hipana, um ihn herum nur Einsamkeit und Finsternis (berichten Baniwa).9 Mir erzählte im Jahre 2010 der Schamane Reymundo González (mit bürgerlichem Namen Reymundo González Da Silva), ein Nheengatú10-sprachiger Zuwanderer vom Rio Negro, dass es anfangs praktisch nur Wasser gab. Zwar gab es auch Erde, aber man sah sie nicht, da sie in der Tiefe unter dem Wasser lag. Dann wurde jener geboren, den er Diablo (Teufel) nennt, der es als einziger verstand, die Welt zu vergrößern.
»Teufel« ist nur einer der vielen Namen, unter denen dieses Wesen in Nordwest-Amazonien bekannt ist: Bei den Tukano der Vaupés-Region heißt es: He oder Wãx-ti; auf Nheengatú: Yuruparí; bei den Arawak (Kurripako-Wakuenai, Hohodene): Kuwai; während die Warekena es Wamudana nennen. Bei allen ist es auch unter dem Namen Diablo (»Teufel«) bekannt. So übersetzten Bewohner der Vaupés-Region den Namen, als sie die Ähnlichkeit zwischen Kuwai/Yuruparí und den ikonischen Formen des Teufels im Christentum bemerkten.11 Doch ist dies ganz und gar keine inhaltliche Aussage: Dieser »Teufel« ist den Menschen eher wohlgesonnen.
Zu Zeiten der Geburt dieses Wesens (informierte mich Don Reymundo González also) lag die Erde ganz unten, darüber gab es nur Wasser. Der »Teufel« beschloss deshalb, ins Wasser einzutauchen, damit die Menschen Licht sehen könnten. Er grub unter Wasser und holte Erde heraus, die er oben zusammenhäufte, sie zusammenklopfend und ausdehnend »wie eine kleine Röstplatte«12 (wie Don Reymundo13 formulierte). So schürfend, öffnete der Teufel sich einen Ausgang aus der anderen Welt und gelangte an den Ort, der Naciente (»Ort der Geburt«, »Osten«) heißt, auf diese unsere Welt. Um mir das besser verständlich zu machen, nannte Don Reymundo mir das Beispiel der Japaner: Sie leben in einer anderen Welt, denn wenn für uns die Dunkelheit hereinbricht, geht für sie die Sonne auf, da wir auf der anderen Seite der Erde leben.
Sonnenuntergang und Sonnenaufgang (Westen und Osten), Iñapirríkuli und sein Bruder Dzuli, die ersten Schamanen, saßen (so gibt uns Filintro Rojas die Erzählung wieder) auf dem erwähnten Felsen im Strom in Hipana und rauchten Tabak, um die ersten Menschen zu erschaffen. Sie erschufen zunächst einen Tontopf, der auf beiden Seiten je ein Loch hatte, (Sonnen-) Aufgang und Untergang [das heißt, Osten und Westen]. In diesen Topf warfen sie bestimmte Pflanzen hinein und brachten sie zum Kochen. Darin kochten sie dann die ersten Lebewesen, bis deren wahres Gesicht erscheinen sollte. Nach mehreren Versuchen gelangen ihnen schließlich nur Zwischenwesen: schlafwandlerisch, mit doppeltem Gesicht, geschwänzt, Mensch-Tier. Um das wahre Gesicht dieser Wesen zu enthüllen, warf Dzuli (Sonnenaufgang) sie vom Loch »Sonnenuntergang« in den Topf mit kochendem Wasser, während sein Bruder Iñapirríkuli (Sonnenuntergang) sie am Loch »Sonnenaufgang« erwartete, wo sie nach langer Reise durch den kochenden Topf morgens auftauchten. Dort holte er sie aus dem kochenden Wasserloch (dem Topf) mit ihrem endgültigen Gesicht.14 Iñapirríkuli wird auch »Dios« (spanisch für »Gott«) genannt, der erste Mensch im Topf »Teufel«, demnach ist der Teufel eine Schöpfung Gottes (was ja auch der christlichen Theologie nicht widerspricht, doch quält der südvenezolanische Teufel die Menschen nicht).
In einer Version, die González Ñáñez bei den Kurripako15 aufnahm, saß Iñapirríkuli auf einem Felsen im Strom in Hipana und gab den Völkern, die dort aus den Löchern im Strom geholt wurden, Namen. Die zwei Frauen, die er erschaffen und aus dem Stein von Ámarru geholt hatte, der in Hipana steht, holten die Menschen an den Haaren aus dem Strom und setzten sie auf den Felsen. Dzuli blies rituell Tabak auf die Nabel der Menschen auf dem Felsen, während Iñapirríkuli sie mit Namen belegte. Filintro Rojas liefert ein interessantes Detail: In der Kurripako-Sprache bedeutet der Name des Felsens Hipana, eje, nicht nur »Nabel«, sondern auch »Vulva«. So wird das Bild vom Nabel der Welt erweitert: Es ist auch ein Ort der Geburt.
Zwar nahmen alle Völker ihren gemeinsamen Anfang auf jenem Felsen, als man sie aus dem Nabel der Welt herausholte, doch nicht alle blieben auf der Erde wohnen. Don Reymundo erklärte mir, dass Iñapirríkuli, den er in seinen Berichten »unseren Gott« nennt, einige Menschen wieder ins Wasser warf, damit sie dort ihre Häuser bauten, und dass diese Leute zu Wasserschlangen wurden. Dieses Volk, das nun die Unterwasserwelt bewohnt, die encantos (»Verzauberungen«, Geister) oder máwari, ist dem menschlichen Volk der Maipure-Arawak durchaus gleich, bewohnt Dörfer und Städte wie die Menschen, überall, im Quellgebiet des Orinoco und in allen Flüssen. Ihre Unterwasserhauptstadt, Temendawi, wird mit der Überwasserhauptstadt Caracas vergleichen. Die Máwari sehen aus wie die Menschen im eigentlichen Sinn des Wortes, nur dass sie keinen Bauchnabel haben. Die Ähnlichkeit ist so groß, dass eine Unterscheidung beim bloßen Anblick manchmal unmöglich ist. Die Bewohner der Unterwasserwelt wohnen so etwa zwanzig Meter unter der Erde in einem Land, das meine Gastgeber häufig »andere Welt« oder sogar otro planeta (»anderen Planeten«) nennen.
Vielfältige andere Welten strukturieren das Universum der Arawak. Sie sind vertikal angeordnet wie verschiedene Stockwerke, und man kann manchmal durch Löcher hinauf- oder hinuntersteigen. Das unterste Geschoss stellt eine Spiegelung des obersten dar, denn die Sonne, die ganz oben wohnt, spiegelt sich in dem Fluss, der die unterirdische Welt durchströmt. Robin Wright berichtet, dass der Schamane Mandú für ihn eine Zeichnung des Kosmos anfertigte und am Schluss die zwei Blätter so nach oben faltete,
Abb. 1: Ausgemalte Felsritzung am Rio Atabapo (Foto Vutova)
dass sie eine konkave Form ergaben, wobei der höchste Teil des Universums, wo sich die Sonne befindet, deutlich mit dem untersten Teil verbunden gesehen werden konnte, wo sie sich spiegelt – als ob, sagte Mandu, die Sonne sich in dem Fluss spiegele, der durch die Unterwelt fließt.16
Jeder Himmel wird von je anderen Wesen bewohnt, und die Fähigkeit, sich zwischen den verschiedenen Stockwerken hin und her zu bewegen und mit ihren Bewohnern zu kommunizieren, ist den Schamanen eigen. Doch die Seelen der Menschen sind neugierig, und manche lassen sie sich von Bewohnern anderer Stockwerke verführen und einfangen, oder sie entkommen und entscheiden sich dafür, herumzuirren. Manchmal verlaufen sie sich, manchmal werden sie von den Einwohnern irgendeines anderen Himmels entführt, die dann die Zugangstüren verriegeln und verrammeln und sich weigern, die Seele wieder freizulassen. Dann hat der Schamane die Aufgabe, sich auf eine Reise durch die Stockwerke zu machen und deren Bewohner zu überzeugen, die arme Seele wieder freizulassen. Manchmal muss man die Seele auch herbeischreien, wie wenn man ein verirrtes Kind sucht. Aber es kommt auch vor, dass die Seele gar nicht zurück, sondern in ihrem neuen Stockwerk bleiben will, zumal ihre Gastgeber sie gewöhnlich gut behandeln.
So erging es dem kleinen Keivin, einem Jungen von den Kurripako, dessen Seele von den Leuten ohne Nabel in deren Welt unter den Wassern entführt wurde. Sein Körper verblieb auf der Erde bei seiner Familie, aber krank und bewusstlos. Der Schamane Don Reymundo, der mir die Geschichte erzählt hat, betete und betete in einem fort und suchte das Kind in den verschiedenen Himmeln, bis er ihn schließlich in der Unterwasser-Welt fand, wohin die Leute ohne Nabel es entführt hatten, die wegen ihrer großen Verführungskunst, die sie auf die Menschen anwenden, eben auch encantos (»Verzauberungen«) genannt werden. Don Reymundo rettete die Seele von Keivin, die wieder zur Erde emportauchte, indem sie die zwanzig Meter, die Erde und Unterwasser-Welt trennen, durchschwamm.
In Hipana beendete die schon erwähnte Geburt von Kuwai/Yuruparí, dem Sohn von Iñapirríkuli und Ámarru, die Welt von Iñapirríkuli, wie sie bis dahin gewesen war: klein in ihren Ausmaßen und chaotisch in ihrer Organisation (Wright 1998). So begann eine neue Welt, weit und organisiert, heute bewohnt von den menschlichen Wesen. Kuwai/Yuruparí ist der Herr allen Wissens, seine Stimme ist der Donner, und mit ihr dehnt er das Firmament weiter aus. Er ist auch selbst das Firmament, die Farbe des Himmels und der Gestalter der Leere (Rojas Ms.). Seine Macht erstreckt sich über alle Völker, und er ist der Herr aller Himmel. Kuwai/Yuruparí ist einer und viele, alle Lebewesen haben Teil an ihm, wie ein alter Schamane der Hohodene es (laut Wright 2015) formulierte: »Ich bin Kuwai [Yuruparí]. Du bist Kuwai. Wir alle sind Kuwai«. Durifá da Silva, ein Yeral17 vom Rio Atabapo, sagte mir: »Yuruparí ist eine Person wie wir.« Kuwai/Yuruparí lehrte die Menschen erstmals, Initiationsriten durchzuführen, gab ihnen die Kenntnisse für Bodenbau, Fischfang und Jagd. Er ist mächtig und weise, Herr aller Kräfte und aller Elemente. Zerstören konnte ihn nur das Feuer.
Er starb, als er während des ersten Initiationsrituals um einen brennenden Scheiterhaufen tanzte und sein Vater Iñapirríkuli ihn betrunken machte und in die Flammen stieß. Kuwai/Yuruparí verbrannte, und die Welt, die er mit seiner Geburt geöffnet hatte, schloss sich wieder. Aus seiner Asche entstanden alle Tiere, deren Biss Gift injiziert, und alle beim Schadenszauber verwendeten Giftpflanzen. Auch die Paxiuba-Palme (oder Stelzenpalme, Iriartea exorrhiza Mart.) entstand so. Aus deren Holz werden die heiligen Flöten gefertigt, auf denen die Männer bei den männlichen Initiationsriten spielen, und deren Anblick den Frauen strikt verboten ist. Ámarru, die Mutter von Kuwai (Yuruparí) bemächtigte sich mit ihrer Frauentruppe der Flöten, ihrer »Adoptivkinder«, die sie den Männern raubte. Die Frauen rannten durch Bäche18 und Flüsse, verfolgt von den Horden des Iñapirríkuli, die sich die heiligen Flöten zurückholen wollten. Die Petroglyphen, die sich auf Felsen in den Flussbetten finden, stellen diese Ur-Reise dar. Am Anfang der Welt, so erzählt man, waren die Steine rein weiß wie der Sand, deshalb schrieben sich die Spuren der Flucht in sie ein.19 Mir erzählte man, dass die Frauen auf der Flucht unterwegs überall »Ziehkinder«, Flöten oder Knochen von Kuwai/Yuruparí zurückließen, und dass sich jedes Mal, wenn sie ein Ziehkind verließen, Gravuren auf den Felsen bildeten, in denen man bis heute die Spuren der fliehenden Frauen erkennen kann. Schließlich konnten die Männer die »Ziehkinder« wieder einfangen, und die Welt erhielt ihr heutiges Gesicht.
Kuwai/Yuruparí wurde mit einem Körper voller dunkler überzogener Löcher geboren, die nur ein feiner Pelz bedeckte, und die gleichzeitig offen und geschlossen sein konnten. Aus ihnen erklangen melodische Klänge und die Geräusche des gesamten Universums. Sein Aussehen war so hässlich und grotesk, dass sein Vater Iñapirríkuli und er selbst sich dafür schämten.20 In einer bei den Baniwa aufgenommenen Version21 hatte das Kind keinen Mund und konnte daher weder sprechen noch essen. Ernährt wurde es mit Tabakrauch. Iñapirríkuli fragte es, ob es Kuwai (Yuruparí) sei, und als er ein bejahendes Kopfnicken zur Antwort bekam, entschloss er sich, dem Kind den Mund zu öffnen. Aus der Mundhöhle kam nunmehr ein Murmeln, das die Welt erfüllte.
Gleich nach der Geburt verhielt sich Kuwai/Yuruparí (in einer bei den Wakuenai für Jonathan Hill erzählten Version) äußerst merkwürdig und gewalttätig. Im Mund zeigte er Jaguarzähne (andere sagen, dass sein Mund von Ohr zu Ohr offen stand, andere, dass er gar keinen Mund hatte). Sein Durst nach Milch war unbeherrscht, unersättlich, und er saugte die Brust seiner Amme, des Faultiers (Folivora) völlig trocken. Iñapirríkuli beschloss, Kuwai/Yuruparí vor dessen Mutter Ámarru und vor allen Frauen zu verstecken. Er zeigte der Mutter eine Plazenta, die auf dem Felsen lag, auf dem sie geboren hatte, als wäre die Plazenta gerade erst aus ihr heraus gekommen, und sagte ihr, dass dies ihr Sohn war. So wollte er die Geburt des wahren Sohnes verheimlichen und dessen Mutter und alle Frauen mit Blindheit schlagen. Ein Kind sollte geraubt und durch einen Fake ersetzt werden. Aber die Mutter ließ sich nicht täuschen, da sie ihren Sohn schon bei der Geburt als ganzen Menschen gefühlt hatte. So warf Iñapirríkuli die Plazenta in den Fluss, wo sie sich in einen Rochen verwandelte.22 Der Körper von Kuwai/Yuruparí mit seinen vielen Löchern mochte in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Flecken auf dem Gewebe der Placenta zeigen, die sich heute, nach der Verwandlung in den Rochen, sehr deutlich auf dessen Haut zeigen.
Die täuschende, maskierende Rolle der Plazenta kommt besonders klar bei den Miraña zum Ausdruck, bei denen die Plazenta als »Maske« oder als » das wilde Gesicht« des Fötus bezeichnet wird, oder auch als »der Schatten des Kindes«. Umgekehrt werden die Tiermasken, die bei den Fruchternteritualen, zu denen die (Geister-)Tierherren eingeladen werden, ihrerseits als »Plazentas« begriffen.23 Kuwai/Yuruparí wird auf einem astronomischem Diskussionsniveau mit der Sonne assoziiert (s. Karadimas, Hugh-Jones, Orjuela), und der Mythos von KuwaiYuruparí ist letztlich ein Sonnen-Mythos; so lässt sich der Rochen als die Plazenta der Sonne verstehen, als dessen Double (Sonne ist männlich), und entspricht Orion.24 Double oder Plazenta der Sonne: erinnern wir uns an die Spiegelung der über allem stehenden Sonne, die der Schamane Mandú auf dem Grund seiner Blätter zeigte, die den Kosmos darstellten: Das untere stellte letztlich wohl die Plazenta der Sonne dar, ihr Double, mit der Sonne verbunden durch die Nabelschnur, die sich durch alle Stockwerke der Welt zieht.
Um den Sohn vor der Mutter zu verstecken, schickte Iñapirríkuli ihn ins unterste Himmelsgeschoss, wo er sich ganz fest versteckte und eine Ewigkeit ohne irgendeinen Kontakt zur Außenwelt ausharrte. Lange danach vergnügten sich vier Jungen, indem sie Bienen in ein Tongefäß sperrten, auf dass sie darin summten. So bauten sie sich Musikinstrumente und nannten sie Kuwai (=Yuruparí). In der von González Ñáñez (1968) aufgenommenen Version binden spielende Jungen eine Zikade fest, damit sie wie Kuwai/Yuruparí töne, und verstecken sie in einem Tonkrug, damit Iñapirríkuli nicht merkt, was sie spielen. Ich habe am Rio Atabapo eine ähnliche Behandlung der Zikaden beobachtet, bei denen der durchdringend, klirrende Ton auffällt, den sie tagsüber und abends hören lassen. Meine Gastgeber benutzen die Zikade dazu, das Kind früher zum Sprechen zu bringen. Es heißt, wenn ein Baby die Zikade in den Mund bekommt, fängt es zu sprechen an. Vielleicht wird so bekräftigt, dass Kuwai/Yuruparí tatsächlich in allen Wesen lebt: Einerseits in der Zikade, und wenn diese andererseits in den Mund des Babys gesteckt wird, bekommt es die Stimme des Universums eingefügt. Das menschliche Wesen wird mit der Stimme implantiert. So essen die Kinder am Amazonas das Wort ihres Gottes, nicht unähnlich dem biblischen Hesekiel.25
Es heißt auch,26 dass die Jungen die Zikade in einem kleinen Napf einschlossen, und dass das Insekt beim Hin- und Herfliegen darin ein »hee hee hee« hören ließ, worauf die Jungen sagten. das sei »unser Kuwai.« In allen Versionen der Geschichte hörte der wahre Kuwai/Yuruparí es und kam herbei, um sich zu erkennen zu geben: »Ich bin eben derjenige Kuwai, den ihr sehen wollt«. »Ich bin gefährlich, sagte er. Ihr werdet hören, wie ich mit meinem ganzen Körper spreche, sagte er«.27 Doch um seine Musik zu hören, müssen sie eingesperrt werden und fasten. Kuwai/Yuruparí sagte ihnen, sie sollten die Zikade freilassen, und ging fort, während aus seinem Körper alle Arten von Geistern herauskamen, die zu den Schatten (oder Schattenseelen) der Menschen werden sollten: Jaguar, glatter Felsen, Hokkohuhn (Crax alector), Sterne usw.28 Als Iñapirríkuli erfuhr, dass die Jungen Kuwai/Yuruparí gesehen hatten, begann er dessen Empfang vorzubereiten, sollte er doch bald vom Himmel herabkommen, und damit auch den Abschluss der Fastenperiode der Jungen und ihrer Initiation vorzubereiten. Doch die fastenden Jungen setzten sich über das Verbot hinweg, mit der Schale der Frucht des Uacú (Monopteryx uaucu Spruce) zu spielen, und bemalten sie. Da erhob sich ein Sturm mit Wolkenbruch und Donner, und Kuwai/Yuruparí riet den Jungen, sich in eine Höhle im Felsen zu retten. Das taten sie, aber diese Höhle war der Mund des Kuwai, der sich über ihnen schloss. Kuwai fraß sie auf. In einer Version der Baniwa nahm Kuwai (Yuruparí) die Jungen nach Hipana mit, um Uacú-Früchte zu pflücken. Er kletterte auf den Baum und warf ihnen von oben die Früchte zu. Die Jungen waren drauf und dran, ihr Fasten zu brechen, und rösteten die Früchte. Der Rauch des Röstfeuers ließ Kuwai/Yuruparí erblinden und brachte ihm den »Tod«,29 das meint wohl, dass der Rauch des Feuers ihn schwindlig, durcheinander und wütend werden ließ, sodass er die Jungen auffraß.
Sein ganzer Körper brüllte tosend auf, aus seinen Körperöffnungen flossen Ströme von Speichel, die sich in Schlingpflanzen verwandelten, die es bis heute gibt und die in der Jahreszeit der Plejaden blühen.30 Nachdem er einige der Jungen, die an dem Initiationsritual teilgenommen hatten, verzehrt hatte, stieg Kuwai/Yuruparí erneut in die Höhe und schloss sich wieder im letzten Himmelsstockwerk ein. Iñapirríkuli und die anderen Schamanen, die Väter der Jungen, schnitzten Figuren aus Malouetia,31 um die fehlenden Jungen zu ersetzen. Die Schnitzereien gelangen so gut, mit Mund, Nase, Ohren und allem, dass sie wie lebendig aussahen. Unterdessen begann Dzuli, Iñapirríkulis Bruder, auf eine Larve zu blasen (das heißt, Zauber auf sie auszuüben), damit sie fett werde. Sie hatten den Plan ausgeheckt, Kuwai/Yuruparí die Larve zu schicken, damit er durch ihren Verzehr verführt werde, wieder herabzusteigen und das Initiationsritual abzuschließen, damit die Jungen ihr Fasten beenden könnten. Sie schickten die Wespe, die mit der Larve im Mund nach oben flog. Je näher sie dem obersten Stockwerk kam, desto lauter wurde ein donnerndes Brüllen: Das war Kuwai/Yuruparí. Die Wespe überredete ihn, die Tür zu öffnen und reichte ihm die Larve durch den Türspalt, doch Kuwai/Yuruparí schlug die Tür heftig wieder zu, sodass die Wespe eingeklemmt wurde – daher hat sie ihre Wespentaille. Kuwai/Yuruparí versprach, am kommenden Tag herunterzukommen und erteilte Anweisungen, wie alles für die Fortführung des Rituals vorbereitet werden solle. Dzuli und Iñapirríkuli aber nahmen sich vor, ihn betrunken zu machen und zu töten, sobald er seine Kenntnisse und Ratschläge übermittelt haben würde. Zur verabredeten Mittagsstunde, kam Kuwai herab (erzählte mir Durifá da Silva), harten und starken Klangs wie ein Flugzeug. Er erbrach die Jungen wieder und blies bis zum Abend und dann die ganze Nacht auf deren Essen (das heißt, verzauberte ihr Essen). Doch während Kuwai/Yuruparí auf das Essen der Jungen blies, blies Dzuli auf seine Augen, damit sie sich mit Augenbutter füllten und er nichts mehr sehen solle.
Kuwai/Yuruparí verkündete, er werde um Mitternacht dreimal schreien, und wer als erster antworten würde, müsse nie mehr sterben und werde sich nie mehr auf der Erde verirren. Wir sind nun am Beginn der neuen Ordnung des Universums, die Kuwai festsetzte, wobei er jedem Wesen eine Rolle zuwies. Dazu gehörten die principios (Prinzipien, Gesetze), das principio der Menschen, das principio der Tiere, das principio der Steine und das principio der Pflanzen. Kuwai schärfte den anwesenden Menschen ein, ja nicht gleich einzuschlafen, damit sie die ersten wären, die auf seinen Schrei antworteten. Aber um Mitternacht, als er das erste Mal schrie, waren die Menschen schon eingeschlafen, sodass es die Steine waren, die als erste antworteten; auf den zweiten Schrei antworteten die Tiere, und erst beim dritten Schrei endlich die Menschen. Die Pflanzen, die als allerletzte antworteten, vertrocknen deshalb; die Menschen sterben und ihre Zähne faulen schon vorher; auch die Tiere sterben, behalten aber ihre Zähne länger; nur die Steine sterben nie, noch trocknen sie aus, noch verbrennen sie, noch verfaulen sie. Hätten wir auf den ersten Schrei geantwortet (fährt der Erzähler Don Durifá fort), müssten wir nicht sterben: Im Alter von achtzig oder hundert Jahren würden wir uns in einem Zimmer mit einer guten Tür und festen Wänden einschließen, um dann wieder jung, vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt, herauszukommen. Wir müssten dann nur noch unsere alte Haut abstreifen, so wie die Eidechse sich häutet, wenn ihre Haut sich abschält. Doch die Menschen schliefen und verloren ihre Unsterblichkeit.
Unterdessen blies Kuwai/Yuruparí weiter auf das Essen der Jungen und gab ihnen weitere Ratschläge fürs Leben: Sie sollten das Feld bearbeiten, alle Arbeiten lernen, Schreinerei und so weiter. Seine Augen hatten sich schon geschlossen, er sah nichts mehr. Die alten Leute häuften viel Brennholz um ihn herum zu einem Scheiterhaufen, den sie anzündeten. Um sieben Uhr früh stießen sie ihn ins Feuer und ließen ihn verbrennen. Sein Geist flog davon, so wie es auch mit Jesus Christus geschah (fügte der Erzähler an) und kehrte in den Himmel zurück, während auf der Erde nur noch seine Asche zurückblieb.
Die Welt ist instabil und unbeständig, jederzeit kann sie an ihr Ende kommen, völlig in den Fluten versinken oder in einem riesigen Flammenmeer verbrennen. Das Feuer, in dem Kuwai/Yuruparí starb, nachdem sein Vater ihn hineingestoßen hatte, kehrt in vielen Erzählungen der Maipure-Arawak wieder, bei denen ich gewohnt habe. Don Durifá da Silva erzählte mir die Geschichte, die er von seinem mittlerweile verstorbenen Großvater vom Volk der Kurripako gehört hatte, dem sie seinerseits sein Großvater erzählt hatte: Nach der Sintflut verbrannte vor vielen Jahren die Welt. Zuerst kam die Sintflut und ertränkte alles, darauf trocknete die Erde aus, und es kam das Feuer, das alles verbrannte. Nur Afrika und ein Stückchen Land von Brasilien blieben übrig, Mato Grosso, was, erklärte der Großvater, »dicker Holzstamm« bedeutet.32 Denn dort ist alles dick und riesig, der Affe hat die Größe eines Orang-Utan, die Schnecke ist so groß wie ein Wildschwein, der Tausendfüßler ist größer als die Anaconda-Schlange, und die Anaconda ist zehn Tonnen groß und schwer. Dort gibt es nichts Kleines, der Goldhase hat die Größe eines Tapirs, und der Tapir ist wie ein Elefant. Denn es war eine von riesigen Tieren bevölkerte Riesenwelt, bevor sie verbrannte. Während Don Durifá erzählte, unterbrach seine Frau, Doña María vom Volk der Kurripako immer wieder, um Kommentare einzufügen. So erfuhr ich, dass zwar die ganze Welt im großen Feuer zugrunde gegangen war, einige Menschen sich aber vor den Flammen hatten retten können, indem sie sich in die Tiefen der Erde in Löcher eingruben, in denen sie sich versteckten. Dort überlebten sie, betreut von einer alten Frau, die ihnen Wasser brachte und die Löcher zum Schutz vor den Flammen sorgfältig verschloss.
Eine ähnliche Szene bekam Ettore Biocca 1963 in Iaureté in der brasilianischen Uaupés-Region von einem sehr angesehenen Schamanen vom Volk der Tukano erzählt und von dessen Sohn, Don Grasiliano Mendes (der durch seine Mutter zum Volk der Tariana gehörte) übersetzt. Die drei Donner, welche die Herren des Hauses waren, gruben Löcher in die Erde, füllten sie mit Proviant und wiesen die Frauen an, sich dort zu verstecken, da das Ende nahe sei. Dann machten sie Yuruparí (so heißt Kuwai in dieser Version) betrunken und stießen ihn in die Flammen, das Feuer breitete sich aus, und die gesamte Erde verbrannte. Die Menschen sprangen mit all ihrer Habe in die Höhlen, aber selbst dort noch stießen sie auf viel Asche. Sie blieben eine lange Zeit unter der Erde.33
Der Bericht, den ich bei den Maipure-Arawak hörte, handelte zwar hauptsächlich vom alles vernichtenden Weltenbrand, enthielt aber auch zahlreiche Hinweise auf eine der anderen Endzeitkatastrophen, die über die Welt gekommen sind: die Sintflut. Die Erzähler verglichen die in den Löchern unter der brennenden Erde versteckten Menschen mit jenen anderen, die den Prophezeiungen des carajo de Noé (»verdammter, toller Noah«), wie sie ihn nannten, glaubten und ihm auf seine Arche folgten, um sich dort einzuschließen. Noah wusste, dass die Welt untergehen würde, weil ein Engel ihn gewarnt hatte, so erzählten sie, und fügten hinzu, dass er also durchaus Don Reymundo ähnelte (dem Schamanen der Gemeinschaft, die mich aufgenommen hatte), der bekannt dafür war, dass er sich mit den Bewohnern des Himmels unterhalten konnte, darunter einige Heilige und Heilige Jungfrauen neben Kuwai/Yuruparí und Iñapirríkuli. Die erwähnte Sintflut fand kurz vor dem großen Feuer statt. Erzählungen der Kurripako34 geben als Zeitpunkt den Moment an, bevor Iñapirrikuli die ersten Menschen erschuf. Damals wurde die Welt von großen Raubtieren und bösen Geistern beherrscht, und es gab zu viel Schadenszauber, Schaden und Gift, sodass Iñapirrikuli beschloss, das alles zu säubern: Zuerst ertränkte er die Welt in einer Überschwemmungskatastrophe, schuf die Nacht und ließ die Tiere in tiefster Dunkelheit im Fluss ertrinken, dann schickte er ein riesiges Feuer, das alles niederbrannte. Dann erst, als er das Universum von den Bedrohungen, die auf der Lauer lagen, befreit hatte, widmete sich Iñapirrikuli der Erschaffung der ersten Menschen.
Ich muss dazu sagen, dass ich dem Bericht von Don Durifá und Doña María in Gesellschaft von Don Francisco (einem Mann aus dem Volk der Baré), Don Rafael (vom Volk der Baniwa) und weiteren Anwesenden aus der örtlichen Gemeinschaft zuhörte, während wir nachts im Haus von Durifá ums Feuer saßen, Kaffee tranken und geröstete Ameisen aßen. Dabei wurde viel gelacht und gescherzt. Denn mochte es sich auch um Berichte über katastrophale Zerstörungen der früheren Welten der Maipure-Arawak handeln, so ließen meine Gastgeber doch keine Gelegenheit für einen Witz und scherzhafte Kommentare aus, die allgemeines Gelächter hervorriefen. Einer der Scherze, der alle zu spontanem Gelächter hinriss, ging so:
Durifá: »Stell’ dir vor, heutzutage gibt es Millionen und Abermillionen Menschen, genauso auch Tiere, alles gibt es … Und plötzlich wird er [der Schöpfer] böse und kommt erneut, um hier sauberzumachen [Gelächter], denn schau mal, wie heutzutage wieder alles voller Sünde ist …« Rafael Dupa: »Es ist wieder an der Zeit für ein neues Flammenmeer« [Gelächter].
Verschiedene Male hörte ich von meinen Gastgebern in ähnlicher Weise mit einer guten Dosis Gelächter gepfefferte Erzählungen von den Erlebnissen des jungen Schöpfers Iñapirríkuli, der als einziger eine andere zerstörerische Katastrophe überlebt hatte. Seine Abenteuer bilden einen Mythenzyklus, der zeitlich vor dem des Kuwai/Yuruparí kommt und die große Macht und unendliche Weisheit jenes ersten Helden zeigt. Er führt gleichzeitig vor Augen, dass die Welt der Arawak immer wieder Wandel und Verwandlungen durchmacht, äußerst instabil ist und zu den verschiedensten Gelegenheiten zerstört wird, um sich danach erneut zu verwandeln und von dem xten Kataklysmus wiederzuerstehen. Und zwar begannen meine Gastgeber jedesmal, wenn sie mir eine Geschichte von Iñapirikuli erzählten, mit einer Szene, die ich post-apokalyptisch nennen würde: Etwa ein Stück Knochen, das im Wasser schwimmt (der Name Iñapirikuli bedeutet »aus einem Knochen geboren«), einziges Überbleibsel einer vorherigen Welt, die von Raubtieren gewaltsam zerstört wurde. Eine kinderlose alte Frau barg die Knochen aus dem Fluss, nahm sie zu sich nachhause mit, bewahrte sie dort in einem Tontopf auf und fütterte regelmäßig die (aus den Knochen entstandenen) drei Grillen in dessen Bauch, die dort größer wurden. Sie zirpten, wenn sie ihre Mutter (die alte Frau) erkannten. Der Stiefvater (der Mann der alten Frau) versuchte wiederholt, die Jungen zu töten. Er zerquetschte sie auf dem Boden, aber die Frau sammelte sie wieder auf und flickte sie mit Nadel und Faden wieder zusammen. Deshalb hat die Grille Löcher im Körper, das sind die Spuren der Nadel. Unter aufmerksamer Fürsorge, Schutz und Erziehung der Alten wuchsen die drei Jungen heran, als ihre Söhne.
Der Tontopf, in den die alte Frau die (wieder zusammengeflickten) Grillen setzte, lässt an einen Uterus denken (aus Ton, wie bei einer Puppe), ein abgeschlossenes, warmes Plätzchen, an dem die Jungen gleichsam gekocht werden, wachsen und sich entwickeln. Das Bild des Kochens findet sich auch in den Initiationsriten der zu Erwachsenen heranwachsenden Jugendlichen von der Ethnie der Kurripako, die in dunklen, vom Rest der Welt sorgfältig isolierten Räumen eingeschlossen werden (Seklusion) und dort ihre Reifung durchmachen, während der sie sich von dem Zustand des Rohen allmählich entfernen, in dem sie sich während des rituellen Fastens befanden (Hill 1984: 535). Eine ähnliche Beziehung zwischen dem Augenblick, in dem die Brüder aus dem Inneren des Tonkrugs herauskommen, und dem Schritt ins Erwachsenenleben finden wir bei den Baniwa. Nach Wright (1998: 38) werden in deren spezifischer Mythensprache solche Behälter benannt, um die Idee von Verwandlung und Wachstum auszudrücken. Die Vorstellung eines irdenen Ur-Uterus findet sich auch im mythischen Denken der Miraña im kolumbianischen Amazonasgebiet, wo die ersten Menschen aus einem vom Schöpfer erdachten Regenwurm entstehen, der in der Erde in der ersten irdischen Gebärmutter heranwächst (Karadimas 2008 online: 13).
Die Menschen würden heute noch in einem Tontopf aufwachsen, hätten Adam und Eva nicht die Sünde begangen, die verbotene Frucht aus dem Wald zu essen. Don Durifá da Silva erzählte mir, dass Adam und Eva im Garten Eden nackt lebten und sich doch nicht schämten, sie lebten in Frieden und sorglos und konnten mit allen Tieren sprechen, mit denen sie sich den Garten teilten,35 wie mit dem Jaguar und dem Reh. Adam hatte keine Furcht vor ihnen, und sie achteten auf das, was er zu ihnen sagte, da er ihr Freund war. Diese Freundschaft zwischen Menschen und Tieren, die einander verstehen, da sie die gleiche Sprache sprechen, kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass sie in der Urzeit nicht wesenhaft (»ontologisch«) verschieden waren, so erwähnt Aparecida Vilaça, dass die von ihr besuchten Wari im westlichen Amazonasgebiet niemals die Sprache als Hindernis bei den Begegnungen mit vermenschlichten Tieren erwähnen.36
Doch laut Durifá da Silva führte der Teufel in Gestalt der Schlange Eva in Versuchung, sodass sie eine verbotene Frucht aß. Zur Strafe mussten die schwangeren Frauen sich nun vor der Geburt ihres Kindes an den Rand eines Grabes stellen: Beim Gebären ihres Kindes fielen sie entweder hinein oder daneben. Hätten sie nicht von dieser Frucht gegessen, wäre die Geburt leicht: Die Kinder würden in einer Fruchtschale wachsen. Die Männer würden die Kinder aus Ton erschaffen, würden sie in einen Topf legen, diesen sorgfältig verschließen und dann neun Monate warten, bis das Kind zu sprechen beginnen würde. Dann würde der Mann es aus dem Topf herausholen und es der Frau übergeben, die keine Schmerzen und nichts erleiden müsste.
In dieser Erzählung, in der sich Arawak-Mythologie und christliche Elemente verbinden, legte der Erzähler auf eines besonderen Wert: Es ist der Mann, der die Tonfiguren formt, das Kind unter die Tonschale legt und sich in den neun Monaten um es kümmert, während es sich herausbildet, entwickelt und verwandelt, bis es zu sprechen beginnt. Erst dann übergibt er es der Frau. Das erinnert an ein für bestimmte Hautflügler typisches parasitäres Fortpflanzungsverhalten, bei dem die Eier in Species-fremde Wirte gelegt werden, wo sich dann die Larven entwickeln. Ein solches Reproduktionsverhalten schreiben die Miraña einem Wesen zu, das sie »Herr der Tiere« nennen. Dimitri Karadimas sieht hier die Basis einer metamorphotischen Prädation oder prädatorischen Metamorphose. Karadimas sieht auch eine Verbindung zwischen Yuruparí (dem Kuwai der Arawak) und den Bienen und Wespen in der Ikonographie der Tukano und Arawak, bei einigen Masken, die Yuruparí darstellen und in den Initiationsriten der Jungen auftreten. Zudem gibt es eine sprachliche Verbindung von Yuruparí und den Bienen in einigen Tukano-Sprachen, und auch der Name von Kuwai ist laut Jonathan Hill in der Kurripako-Sprache mit der Biene verbunden. Yuruparí (folgert Karadimas), ist ein Wesen, das seinen Namen von einem Insekt bezieht, genauer, von einer Wespe mit parasitärem Verhalten, deren Metamorphosen-Zyklus und Reproduktionsverhalten in Yuruparí personalisiert wird.37 Der gesamte Mythos könnte also, möchte ich einmal schließen, den Metamorphose-Zyklus eines Insekts darstellen.
Aber kehren wir zu den Grillen zurück, die gerade aus ihrer tönernen Fruchtschale herausgekommen sind und sich in Jungen verwandelt haben. Der Stiefvater ist sich ihrer großen Macht und ihres unermesslichen Wissens bewusst, beneidet sie sehr und setzt seine Versuche fort, sie zu töten. Einmal nahm er sie in den Wald mit, um ein Stück für die Anlage einer Pflanzung zu roden, und zündete einen Kreis um sie herum an (das bezieht sich auf die übliche sogenannte Brandrodung vor der Anlage einer neuen Pflanzung), sodass sie in die Mitte des Feuers gerieten. Aber sie waren vorbereitet, da sie alles wussten, so auch, dass der Stiefvater sie töten wollte. Sie flogen über den Feuerkreis heraus – an dieser Stelle verglich der Erzähler sie mit Jesus Christus – hinterließen aber in der Mitte der Rodung Holzpfähle, die beim Abbrennen auseinandersprangen, sodass ihr Stiefvater zunächst meinte, die Jungen seien im Feuer geplatzt. Doch auch danach ließ er nicht von seiner Absicht ab, sie zu töten. Eines Tages zogen sie aus, ein Gürteltier (Dasipodida) zu fangen, und alle drei drangen tief in sein Erdloch ein. Der erste grub sich voran und schaufelte den anderen die Erde zu. Als der Stiefvater den Eindruck gewonnen hatte, dass sie tief genug drinnen steckten, stieß er einen Stock hinein, um sie daran aufzuspießen und zu töten. Sie aber, dank ihres Wissens, waren wohlvorbereitet, bemalten den Stab mit rotem Achiote38 und ließen den Mordlustigen glauben, das wäre ihr Blut. Und als er nachhause zurückkehrte, warteten sie schon wieder lachend und fröhlich auf ihn.
Den mythischen Erzählungen von ständigen Verwandlungen (oder Verkleidungen) liegt die implizite, manchmal auch explizite Auffassung zugrunde, dass die Welt von einem Tag auf den anderen zugrunde gehen kann, je nach der Laune ihres Schöpfers. Erinnern wir uns an den Satz von Durifá, »Und plötzlich wird er böse und kommt erneut, um hier sauberzumachen.« Im Leben ändert und verwandelt sich alles immer wieder: das Universum und alle seine Bewohner, auch die Menschen. Die Mythen der Arawak erzählen von immer erneuten apokalyptischen Weltenenden, in dem alles zerstört und ausradiert wird, nur damit danach alles wieder neu anfängt. Der neue Anfang wird in verschiedenen Bildern beschrieben: Etwa wird Leben in Kapseln eingeschlossen, aus denen es gerettet und in die neue Welt übertragen werden kann. Die Behälter, die gewöhnlich das Leben bewahren, zerbrechen aber auch, werden immer wieder zerschlagen, seien es ein Knochen, ein Tontopf oder etwa auch Höhlen. Die Mythologien des Amazonasgebietes im Allgemeinen, und eben auch die der Maipure-Arawak, berichten von Bewegungen und Metamorphosen. Das deutet einerseits auf ein Denken in permanenten Veränderungen, andererseits auf ein gleichsam apokalyptisches Bild der Zeit: Man weiß, dass früher oder später das Ende der Welt kommt. Oftmals wird damit sogar in einer Art Galgenhumor gescherzt. Das entspricht der Auffassung brasilianischer Indigener von »der Unbeständigkeit der sich immer erneut wandelnden Welt.«39
Hier liegt vermutlich einer der Gründe für den Erfolg chiliastischer Bewegungen, nicht so sehr, weil sie eine glänzende Zukunft versprechen, sondern weil sie die Logik einer Auffassung von einer Welt ausdrücken, die zu Ende geht. Damit jene glänzende Zukunft kommen kann, muss erst die Gegenwart verschwinden …
Abb. 2: Felsbild vom Rio Ayarí (Koch-Grünberg 1907: Tafel 5), vielleicht Darstellung von Yuruparí.