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3 Der Prophet
ОглавлениеDas gesamte Amazonasgebiet wird abbrennen. So lauteten die Worte des Propheten Venancio vielleicht nicht wörtlich, aber das war in großen Zügen der Sinn seiner Prophezeiungen: Die ganze Welt wird in einem ungeheuren Feuer zugrunde gehen, und Gott wird auf die Erde herabsteigen für das Jüngste Gericht. Nur wer seinem Rat folgt, wird sich retten können. Venancio, Prophet und Messias, nannte sich schließlich Christus, und mehrere Autoren vergleichen ihn mit Iñapirríkuli (Wright/Hill 1986). Seine Geschichte erinnert an so viele Geschichten von chiliastischen Religionen rund um die Welt, so etwa an die Cargo-Kulte in Melanesien (s. z. B. Jebens 2004).
Venancio Aniseto Kamiko40 kam aus dem Volk der Baniwa. Er wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Tsipinapi geboren, einem kleinen Dorf am unteren Guainía zwischen Maroa und San Carlos del Río Negro. Don Armao, ein alter Herr teils indianischer, teils afrikanischer Herkunft, der als Prediger in San Carlos einigen Ruhm genoss und deshalb Pater Arnaoud genannt wurde, zog ihn auf (Wright/Hill 1986: 35). Wie so viele andere damals, arbeitete Venancio als Holzfäller. Es war die Zeit des Systems der permanenten Verschuldung: die Beschäftigten bezahlte man in Sachwerten im Voraus, daraus erwuchsen ihnen Schulden, und die Patrone achteten darauf, dass diese immer hoch blieben oder noch höher wurden. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis weit ins zwanzigste ist daraus in weiten Teilen der Region praktisch eine Schuldknechtschaft der indigenen und mestizischen Arbeiter geworden, die völlig von ihren Patronen abhängig waren (Wright/Hill 1986; Meira 1996). Es war in der Zeit der Schuldknechtschaft, dass Venancio ein Kruzifix in die Hand nahm und in Predigten die christlichen Lehren des Pater Arnao zu verbreiten begann (Uruburu Gilède 1996/97).
Eine schwere Krankheit, die ihn fast sein Leben gekostet hätte, überlebte Venancio wie durch ein Wunder, das er göttliche Berufung nannte: Tod und Wiedergeburt, ein Initiationserlebnis, das ihm übernatürliche Kräfte verlieh. Die Wiederauferstehung bestätigte, dass er ein mächtiger Mensch war. Wie er berichtete, war er in den Himmel gereist und hatte mit Gott gesprochen. Dieser trug ihm auf, zu verkünden, niemand mehr solle als Holzfäller arbeiten. Außerdem, fügte Gott hinzu, sollten die Halter von Hühnern und Schweinen diese Venancio übergeben. Auch war Letzterer von Gott beauftragt, all denen, die ihm überließen, was er von ihnen verlangte, ihre Schulden bei den Patronen zu erlassen. So zu Gottes Beauftragtem für die Vergebung der Sünden und für den Schutz der Armen geworden, nannte Venancio sich bald Santo (Heiliger) und schließlich Christu (Christus). Auch schrieb man ihm ebenso viel Macht zu wie den Jaguar-Schamanen (Wright/Hill 1986: 36): das sind Schamanen, die sich in Jaguare verwandeln können und die Macht besitzen, wie Jesus Christus oder Venancio die Welt vor den überall lauernden Gefahren durch Macht und Weisheit zu retten und Schmerz und Übel zu beseitigen.
Folgendes berichtet Tavera Acosta (1927: 146): Venancio kannte die Heilkräfte vieler Pflanzen und heilte Indigene wie Nicht-Indigene der amazonensischen Landbevölkerung. In den 1850er Jahren predigte er vor allem in den Dörfern am Rio Içana, aber der Ruf seiner wundersamen Kräfte verbreitete sich rasch über die Flüsse Rio Negro, Guainía und Vaupés. Allmählich bekamen seine treuesten Jünger ihre eigenen Titel, so hieß seine Predigerin Nazaria Josefa nun Santa María, sein Prediger Narciso José wurde San Lorenzo, sein Prediger Venancio José Futardo wurde Padre Santo (Heiliger Vater). Diese drei waren schon ältere Herrschaften.
Sie riefen zu Versammlungen, auf denen sie verschiedene Zeremonien wie Hochzeiten und Scheidungen durchführten. Die Zusammenkünfte endeten festlich mit Tänzen, Gesängen, Speise und Trank. Um diese Zeit aber begann Venancio auch das baldige Ende der Welt zu prophezeien. Er sagte voraus, dass am Johannistag (nah an der Sommersonnenwende), am 24. Juni 1858 die Welt in einem gewaltigen Feuer zugrunde gehen werde. Gott werde auf die Erde herabsteigen und das Jüngste Gericht abhalten. Der Rio Içana aber werde vom Feuer verschont bleiben, und alle, die Venancio folgen und mit ihm im Kreis tanzen und »Reiher, Reiher!« rufen würden.
Der Silberreiher (Ardea alba Linn.) ist der Namensgeber des ersten Flötenpaares, das aus den ersten Fingern der Hand von Kuwai/Yuruparí gemacht wurde, als er im Flammenmeer verbrannt und danach die Paxiuba-Palme erschienen war. Der Knochen des Silberreihers ist ein Werkzeug des Schamanen und stellt die Wirbelsäule des Universums dar. Diese ist wichtig für eine doppelte Himmelfahrt: Einerseits steigt das »Pulver des Wissens« (Rojas Ms.), eine psychotropische Substanz durch sie zum Himmel auf, andererseits auch der Schamane, der diese Substanz einnimmt. Zu »Reiher, Reiher!«-Rufen im Kreis tanzen soll vielleicht dazu verhelfen, eine Trance oder ein Schwindelgefühl zu erreichen, das als eine Art Himmelfahrt verstanden wird und eine Flucht aus dem Weltenbrand ermöglicht. Um errettet zu werden, musste man ferner strikt fasten und gesellschaftliche und wirtschaftliche Beziehungen zum Militär vermeiden (Wright 1981, Wright/Hill 1986).
Ferner musste man bei Heiraten, Taufen und Beichten einen finanziellen Beitrag leisten, wobei die Freigebigsten am schnellsten in den Genuss von Himmelfahrt und ewiger Errettung kommen würden. Venancio schuf ein neues Vertrauen der Indianer in die eigene religiöse Autorität und Macht, waren sie doch nun fähig, ihre eigenen Taufen zu feiern und brauchten dafür nicht mehr die katholischen Missionare (ibid.). Bald jedoch reiste ein Missionar von Pfarramt von São Gabriel da Cachoeira und Marabitanas zu Venancio und forderte diesen auf, seine religiöse Lehre zu beenden und sofort nach Venezuela auszureisen, andernfalls die Polizei ihn ausweisen würde. Im Anschluss daran wurden Soldaten an den unteren Içana geschickt. Sie kamen, etwa zwanzig Bootsladungen stark, lösten ein Tanzfest gewaltsam auf, plünderten das Gemeinschaftshaus, schlachteten die Hühner und Schweine, die als Bezahlung verwendet worden waren, stahlen handgefertigte Wertsachen und verschleppten den Heiligen Vater, den Hl. Lorenzo und die Hl. Maria (die drei Anführer) als Gefangene. Daraufhin flohen etwa 400 indigene Gläubige nach Venezuela. Venancio floh nach San Carlos, wo einer seiner Gläubiger dann ihn und einige weitere Anführer ins Gefängnis von San Fernande de Atabapo gebracht zu haben scheint. Venancio entkam schließlich, aber angesichts der militärischen Repression sahen er und seine Gefolgsleute sich gezwungen, in schwer zugängliche Gebiete zu fliehen. Venancio flüchtete ins Tal des Aki (Acque), wo er begraben liegt.
Manche Leute sollen ihn gehasst und versucht haben, ihn umzubringen. Das soll beispielsweise auch Tomás Funes versucht haben. Funes (1855–1921) war ein venezolanischer Soldat, der in die Kautschukgewinnung eingestiegen war. Er war als »der Schrecken des Amazonas« bekannt. Mit einer Bande Bewaffneter ermordete er 1913 den Gouverneur des venezolanischen Territoriums Amazonas, dessen Gattin und weitere Menschen und schwang sich zum Gouverneur auf. Seine Zeit endete 1921, als eine Militärexpedition ihn aufspürte und hinrichtete. Während seines Schreckensregiments sollen er und seine Spießgesellen etwa 420 Menschen ermordet haben, doch sind in dieser Zahl »Indigene und Neger« nicht mitgezählt (Jiménez 2016), die er bei ihrem erzwungenen Kautschuksammeln ermordete. Der kolumbianische Schriftsteller José Eustasio Rivera hat ihm in seinem Roman La vorágine (»Der Strudel« Erstausgabe 1924) ein grausiges Denkmal gesetzt:
… und glaub’ doch nicht, dass ich mit »Funes« nur eine einzige Person benannt habe. Funes ist ein System, ein Seelenzustand, es ist der Durst nach Gold, es ist die schäbige Gier. Viele sind Funes, mag auch nur einer den unseligen Namen tragen. Die Gewohnheit, illusorischen Reichtümern nachzujagen, auf Kosten der Indianer und der Bäume41
Zwar wirkte Venancio Kamiko etwa 1850–1860, also lange vor Funes, aber in vielen späteren Berichten wird er als dessen Zeitgenosse erwähnt. Offenbar hat das Gedächtnis des Volkes ihn zeitlich in eine der härtesten Epochen der amazonensischen Geschichte umgesetzt. Das unterstreicht seine Bedeutung in den sozialen Auseinandersetzungen, in denen man sich seiner als Prophet und Befreier der Indianer von der Unterdrückung durch ihre Patrone erinnert.42
Man erzählt, dass jemand, der wusste, dass Venancio ein Heiliger war, Tomás Funes von ihm berichtete. Daraufhin schickte Funes Soldaten zu Venancios Haus im Tal des Aki, die ihn in San Fernando de Atabapo im Haus von Funes zum Verhör vorführten. Venancio leugnete, ein Heiliger zu sein, denn die Heiligen äßen ja weder Brot noch Fleisch. Funes fragte ihn, ob es stimme, dass er viele Gefolgsleute habe, die ihm Opfer brächten, weil er sie geheilt hätte. Auch das leugnete Venancio.
Darauf befahl Funes, ihn in einem Sarg einzunageln und Stricke darum zu schlingen, an die man einen großen Stein hängte. Den Sarg warfen sie in den Orinoco und ließen ihn dort eine Stunde lang, bis sie ihn wieder herausholten und zu Funes brachten. Als man den Sarg wieder öffnete, war er leer. Die Soldaten meinten, er sei entkommen, weil die Stricke nicht stark genug und die Nägel nicht genügend tief hineingetrieben waren. So holten sie Venancio erneut aus seinem Haus im Aki-Tal und zerrten ihn erneut nach Atabapo vor Funes. Diesmal zogen sie dickere und haltbarere Stricke um den Sarg und schlugen die Nägel so dicht ein, dass nur zwei Fingerbreit dazwischen blieben. Sie warfen den Sarg erneut in den Fluss, an eine ganz tiefe Stelle, doch Venancio entkam erneut, und die Soldaten standen vor dem leeren Sarg.
Beim dritten Mal nagelten sie die Nägel so dicht beieinander, dass nur noch ein Finger Zwischenraum blieb, und umbanden den Sarg mit einem Lederstrang. Nach einer Stunde holten sie den Sarg wieder aus dem Wasser und nahmen den Stein ab, an dem sie ihn aufgehängt hatten. Diesesmal spürten sie ein großes Gewicht und waren deshalb sicher, dass sie Venancio endlich getötet hatten. Doch als sie den Sarg öffneten, sahen sie sich in dessen Inneren einer riesen Anaconda gegenüber.
Nun endlich gab sich Funes geschlagen, sah ein, dass Venancio wirklich ein Heiliger war, den er niemals töten könnte, so sehr er das auch versuchen mochte. Einige Monate später ließ Funes ihn erneut durch Soldaten aus dem Aki-Tal holen, diesmal aber, um ihn um Entschuldigung zu bitten. Doch Venancio prophezeite ihm, dass er eines Tages bei einer Rebellion seiner eigenen Soldaten von deren Hand getötet werden würde. Von da an lebte Funes in Angst bis zum Ende seiner Tage.
Venancio ist wie Kuwai/Yuruparí so mächtig, dass keines der Elemente, mittels derer die Soldaten ihn töten wollen, ihm etwas anhaben kann. Robin Wright und Jonathan Hill sehen eine Parallele in Venancios Fähigkeit, den Kräften des Holzes (des Sarges), des Metalls (der Nägel), der Lianen (des Stricks), des Wassers (des Flusses) und des Steins zu widerstehen, so wie Yuruparí einzig durch das Feuer besiegt werden konnte. Venancio, der mittels seiner schamanischen Verwandlungskünste entkommt, ist insofern wie der Schöpfer Iñapirríkuli ist, nämlich unsterblich, aber auch wie dessen Sohn Yuruparí, der in seinem Körper alle Elemente der Welt vereint.43
Aus Legenden und realen Ereignissen gestrickt, wird hier von der chiliastischen Bewegung unter Venancios Führung erzählt, der sich tatsächlich viele Indigene des nordwestlichen Amazonasgebietes anschlossen. Auch wenn manche Elemente aus dem Christentum stammten, beruhten die Grundstrukturen des religiösen Denkens auf indigenen Mythen-Konzepten. Wir können nicht eigentlich von Synkretismus sprechen, sondern von einer Selektion christlicher Symbole und Aktivitäten, die in indigenen Augen einen Sinn in eigenen Zusammenhängen ergaben.44
Noch heute pilgert man zu Venancios Grab im Aki-Tal, um Gelübde an seinem Grab abzulegen. Im Jahre 2010 lernte ich in Maroa (Venezuela) einen Einheimischen (aber nicht Indigenen) kennen, der sagte, er könne mit den Pflanzen sprechen. Indigene aus den benachbarten Dörfern kamen oft zu seinem Haus, um Heilpflanzen und andere Heilmittel zu bekommen. Er ließ sich Portuga nennen, da er in Portugal geboren war, lebte aber schon seit über vierzig Jahren im Amazonasgebiet. Er erzählte mir im Vertrauen, dass er in einem anderen Leben Venancio gewesen war, und dass dessen Grab im Aki-Tal sein eigenes ist. Er besuchte regelmäßig dieses, sein eigenes, Grab, um es zu pflegen. Venancio sei ein mächtiger Zauberer gewesen, habe unter Wasser laufen können, habe viele Menschen geheilt und sogar Tote wiedererwecken können. Manche hassten ihn und versuchten ihn zu ertränken.
Bei der Wallfahrt zum Grab des Venancio im Tal des Aki in Kolumbien richten sich die Gelübde heute meist an seine das Tal erfüllende Seele (ánima). Die Leute, bei denen ich wohnte, erzählten mir, wie es mit dieser Seele angefangen hat.
Als sein einziger Sohn starb, versank Venancio in tiefe Trauer. Er konnte nur noch an seinen Sohn denken, er aß nicht und trank weder Wasser noch das Maniokgetränk. Das einzige, was er noch wollte, war sterben, um nicht mehr zu leiden. Eines Tages auf der Kirchweih erschien ihm eine junge Frau in einem langen, weißen Kleid. Es war die Heilige Jungfrau. Sie kam, um Venancio zu verkünden, dass sein Sohn nicht gestorben war. Tatsächlich war das Kind bei ihr und versteckte sich in ihren Rockfalten. Sie erklärte Venancio, wenn er seinen Sohn wieder in die Arme schließen wolle, müsse er drei Tage lang beten, um sich von allen Sünden zu reinigen.
Sie war zur Erde an einem Seil heruntergeklettert, und während der drei Tage, an denen Venancio fastete und immer nur betete, sollte er versuchen, an dem Seil emporzuklettern, um zu prüfen, ob es ihm gelänge, sich in die Luft zu erheben. Da seine Sünden noch auf ihm lasteten, schaffte er zunächst nicht mehr als einen Meter in die Höhe. Doch als er die Sünden abgelegt hatte, war er leicht genug, und die Jungfrau erteilte ihm die Erlaubnis, emporzuklettern.
Ein feiner Faden trug ihn an die Pforten des Himmels, wo er eine erste Prüfung bestehen musste: erraten, wo sich Jesus Christus aufhielt. Denn es gab deren zwei, von denen nur eine der wahre war, der andere hingegen seine Spiegelung.
Venancio wandte sich nach links, sah das Bild von Jesus Christus und bat ihn um seinen Segen, doch die Jungfrau sagte ihm, dass das der falsche war, nur seine Fotografie, seine Spiegelung, während der wahre Jesus Christus sich dort befand, wo die Sonne aufgeht. Der Spiegel war nur dazu da, die Menschen zu verwirren. Als Venancio sich umdrehte, sah er den wahren Jesus Christus in der Ferne, auf der höchsten Stufe einer breiten Freitreppe, deren Besteigung (wie die Jungfrau ihm erklärte) einen Monat dauern würde. Der Himmel war voller Wohlgerüche, und die Jungfrau verbot Venancio, auf den Boden zu spucken, da es heiliger Grund sei.
Nach einem Monat, in dem er mit Fasten und Beten die Stufen der Treppe eine nach der anderen hochgestiegen war, hatte er mehr Macht erlangt. Er konnte sehen, wo es Wildschweine gab, und wies seinen Leuten den Weg dort, sodass sie die Wildschweine jagen und essen konnten. Er erkannte, wenn schlechte Menschen sich näherten, und weigerte sich, mit ihnen zu sprechen. Umgekehrt sprach er mit guten Menschen, die zu ihm kamen, um seine Hilfe zu erbitten. Die Regierung erfuhr, dass er Wunder vollbrachte, und steckte ihn ins Gefängnis, an Füßen und Händen gefesselt, doch er entkam immer wieder, mochte man ihn auch mit Stricken und Handschellen noch so sehr festgebunden haben.
Eines Tages sagte er seiner Frau, dass er eine Art Engel war und sich in einen Heiligen verwandeln würde. Er würde sterben, aber sein Herz würde warm bleiben, und am dritten Tag würde er es so wie Jesus Christus machen, und sein Geist würde wiederkehren. Deshalb sollte man ausharren und ihn nicht begraben. Doch seine Frau konnte nicht ausharren und begrub ihn am zweiten Tag. So starb Venancio wirklich, doch später kehrte sein Geist in Gestalt eines Silberreihers zurück. So erschien seine Seele.
So erklärt sich Venancio also selbst zu Christus, und gleichzeitig verfügt er über die Macht und die Kenntnisse der Gestalten des Schöpfungsmythos der Maipure-Arawak, deren Abenteuer er selbst erneut durchlebt.
Venancio ist nicht der einzige Prophet in der Region gewesen. Noch während der Abgesandte des Vikariats von São Gabriel und Marabitanas auf der Reise zu Venancio war, dem er dann, wie erwähnt, mit der Polizei drohte (und aus dem Pfarramt kam dann wohl auch der Wink ans Militär), hörte der Vikar von einer weiteren Bewegung, die sich um das kleine Dorf Povoação da Guia am Flüsschen (igarapé) Piraiauara entwickelte. Diesmal war der Anführer ein Indianer aus Brasilien, ebenfalls Venancio mit Namen, der sich »Heiliger Vater, Gesandter Christi« nannte und öffentliche Beichten, Ehescheidungen und daran anknüpfende neue Eheschließungen organisierte. Auf diese Sakramente folgte weltliche Fröhlichkeit mit Tänzen, Essen und Trinken. Die religiöse Doktrin des selbsternannten Christus breitete sich bis zum Rio Cuiary aus, und auch dort schrieb man dem Abgesandten Christi Wunder zu. 1859 berichtete der Vikar von noch einer ketzerischen Erregung, diesmal in Juquira – rapecuma am Rio Vaupés. Dort hatten sich, wie er meldete, Indianer aus verschiedenen Stämmen zusammengerottet
und noch einen anderen Christus verehrt, der sich dort vorgestellt hatte und das gleiche praktizierte, was schon am Igarapé Piaraiauara geschehen war, das heißt, taufte, verheiratete usw., und dass diese Versammlung über eintausend mit Feuerwaffen und Curare-Pfeilen bewaffnete Menschen umfasste, die bereit waren, den Einsatztruppen, falls diese dorthin kämen, Widerstand zu leisten, wie es schon am Içana geschehen war, und dass sie vor Ort auf die Weißen warten wollten.
Der Emissär des Vikariats wurde feindselig empfangen und konnte nur unter Lebensgefahr entkommen. Der Bericht des Vikars fährt fort:
Es ist gesichert, dass der Christus ein gewisser Indianer ist, der vom Rio Uaupés stammt und im Bezirk von Marabitanas wohnte und dort allgemein bekannt war, und Alexandre hieß. Im Gefolge des Christus befinden sich über zehn gefangene Makú [die Makú sind eine damals oft in Abhängigkeit von anderen Gruppen lebende Völkergruppe], deren sie sich wie Sklaven bedienen, ja die sie sogar im Austausch für ein Gewehr, Macheten, Äxte und was ihnen sonst noch einfällt, verkaufen.45
Es gab eine ganze Reihe von Propheten, die sich Christus nannten. So trat auch
ein Deserteur [also ein Soldat und vermutlich kein Indigener] auf, des Namens Bazilio Melqueiro, der sich einen neuen Christus nannte und die Scenen des Venancio erneuerte. Die Indianer ließen die Arbeit liegen und ergaben sich einem zügellosen Faulenzerleben.46
Dem Abgesandten des Vikariats gelang es, sie in einem Dorf zu geregelter Arbeit zusammenzuführen, doch nur allzu bald »vereinigten sie sich auf den Igarapés [kleinen Nebenflüssen und Kanälen] und gaben sich dort verborgen dem Trunke, Ausschweifungen und wilden Tänzen hin«. Eine Militärexpedition führte sie an ihre früheren Wohnorte zurück, doch der kommandierende Hauptmann berichtete später:
[…] und sie wären auch in denselben geblieben, wenn nicht Bazilio, jener Deserteur, sie wieder nach Sta.-Anna versammelt hätte zu denselben Tänzen wie Venancio. Ich nahm ihnen die Kreuze ab und trieb sie auseinander. Einige flüchteten sich nach Venezuela, andere zum Rio Vaupez, sodaß heute wenige Einwohner daselbst existiren.47
Im Folgenden gebe ich einige Episoden aus dem Leben des angesehenen Schamanen Don Reymundo wieder, die dieser mir berichtet hat, und die ihrerseits (wie wir sehen werden) Erlebnisse von Iñapirrikuli, Kuwai (Yuruparí) und Venancio aus einer anderen Zeit und in anderen Himmeln wiederholen. Aber Don Reymundo kann obendrein die Stimmen des gesamten Universums hören (und wird deshalb auch Loquiño, »kleiner Verrückter« genannt) und verbindet die Welt der Mythen mit seiner alltäglichen Umgebung, wobei er sowohl Gesprächspartner der Himmelswelt als auch aktiver Teilnehmer der Unterwasserwelt ist, wo die Menschen ohne Nabel wohnen.
Den Mythos im eigenen Leben erneut leben … Ist das es nicht, wovon Lévi-Strauss spricht, wenn er schreibt, dass es nicht die Menschen sind, welche die Mythen erzählen, sondern dass die Mythen sich der Menschen bedienen, um sich durch diese untereinander zu erhalten? Pierre Grimal ruft Karoly Kerényis Formulierung »ein Leben in Zitaten« in Erinnerung, die dieser von Thomas Mann übernommen habe. Tatsächlich schreibt Mann:
Das zitathafte Leben, das Leben im Mythos, ist eine Art von Zelebration, indem es Vergegenwärtigung ist [...] Alexander ging in den Spuren des Miltiades, und von Cäsar waren seine antiken Bibliographen zu Recht oder zu Unrecht überzeugt, er wolle den Alexander nachahmen. Dies »Nachahmen« aber ist weit mehr, als heute in dem Worte liegt; es ist die mythische Identifikation, die der Antike besonders vertraut war, aber weit in die neue Zeit hineinspielt und seelisch jederzeit möglich bleibt. Das antike Gepräge der Gestalt Napoleons ist oft betont worden.
[… Daß] er sich, zur Zeit seines orientalischen Unternehmens, wenigstens mit Alexander mythisch verwechselt hat, braucht man nicht zu bezweifeln, und später, als er sich fürs Abendland entschieden hatte, erklärte er: »Ich bin Karl der Große.« Wohl gemerkt – nicht etwa: »Ich erinnere an ihn«; nicht: »Meine Stellung ist der seinen ähnlich«. Auch nicht: »Ich bin wie er«; sondern einfach: »Ich bin’s«. Das ist die Formel des Mythos.48
In Nordwest-Amazonien werden die Propheten Venancio und Don Reymundo-Loquiño von den Mythen eingesetzt (würde man anti-eheumeristisch sagen), damit diese weiterleben, damit ihre mythischen Figuren in heutigen Menschen wiederkehren, weiter sprechen, sich unterhalten, mit uns zusammenleben. »Anti-euhemeristisch« nenne ich hier, nach Julio Caro Baroja das Gegenteil des Euhemerismus. Während der griechische Philosoph Euhemeros in den Mythen verzerrte Wiedergaben realer Ereignisse sah, sieht Caro Baroja (1992: 238) gerade umgekehrt, dass Menschen häufig nach Mythen leben, so dass diese nicht sterben. Manchem Menschen schreibt man mythische, legendenhafte oder (bei weniger großartigen Charakteren) märchenhafte Ereignisse und Taten zu, oder er schreibt sie sich selbst zu. Ähnlich analysiert Gary Gossen Vida y muerte de Miguel Kashlán: héroe Chamula (1988, »Leben und Tod von Miguel Kashlan, Held in Chamula«) als ein Miniaturbild der Geschichte Mexikos im 20. Jahrhundert. Miguel Kashlan ist ein Außenseiter zwischen den sozialen Rängen, und gerade das lässt ihn in einem mystischen Licht erscheinen, so wie manche Götter, Ungeheuer, führende Politiker und Heilige. Etwas Ähnliches gilt für Don Reymundo-Loquiño, den »Kleinen Verrückten«. Wie wir gleich sehen werden, gehört er als Schamane ebenfalls verschiedenen Rängen an, ja, er lebt in verschiedenen Welten. Das verleiht ihm die Macht und Fähigkeit, aus jeder Welt und von deren Bewohnern Elemente und Geschichten zu übernehmen und zu seinen eigenen Geschichten in seinem eigenen Leben zu machen. Wie Miguel Kashlan erlebt Don Reymundo Mythen am eigenen Leib, und zudem lässt er die Mythen durch sich hindurch sprechen, seine Stimme ist Empfänger von Mythen und des Universums, deren Figuren zu ihm und durch ihn zur Welt sprechen.
So wiederholen Lebensläufe mythische Modelle. Die Mythen werden zur lebendigen Biographie, neue Menschen machen jene Wesen unsterblich, deren Leben sie immer wieder leben. Don Reymundo erlebt Ereignisse aus dem Leben von Venancio neu, sodass letzterer nie gestorben ist. So verlängert sich die Kette, an der übernommene Leben aufgereiht werden: Venancio glaubte das Leben Christi zu leben, Don Reymundo erlebt das Leben von Venancio, und so immer weiter. Die mythischen und heutigen Biographien haben die Erschaffung der Welt gemeinsam. Die Struktur des Mythos wird wiederholt. Die Entwicklung des Individuums ist die Entwicklung der ganzen Welt. Indem Don Reymundo mir sein Leben erzählt, erzählt er mir das Leben seines Volkes.
Dieses sich Hineinversetzen in das Leben und die Abenteuer früherer Anderer, das Erzählen in der ersten Person, folgt, so meine ich, der mythischen Logik. Nachdem ich immer wieder Geschichten aus den verschiedenen Mythenzyklen und Himmeln gehört oder gelesen habe, scheint mir jeder Zyklus einen anderen mehr oder weniger zu wiederholen, der früher (oder in der Gegenwart, aber in einem anderen Himmel) abgelaufen ist. Der Mythos wiederholt sich in unterschiedlichen Episoden und Figuren, in unterschiedlicher Sprechweise; auf den verschiedenen »Stockwerken« oder »Himmeln« geschieht immer wieder Gleiches, doch mit unterschiedlichen Figuren, die in Wahrheit die selben sind. Alle leben aller Leben als das eigene. Stephen Hugh-Jones meint, eine umfassendere Analyse der Mythen der Barasana (einer insbesondere hinsichtlich des Yuruparí-Kultes kulturell verwandten Ethnie der Tukâno-Sprachfamilie in der nahegelegenen kolumbianischen Vaupés-Region) würde zeigen,
dass die verschiedenen mythischen Zyklen Transformationen von einem zum anderen darstellen, und dass die Hauptfiguren in jedem Zyklus analytisch als zueinander »die gleiche« gezeigt werden könnte, in stärkerem oder geringerem Maße.49
Es hat den Anschein, dass der Mythos selbst seine Haut wechselt und sich selbst auf neue Form erzählt, wobei er in jedem Himmel eine andere symbolische Sprache verwendet, um eine Geschichte zu erzählen, die sich in dem Wort Metamorphose zusammenfassen lässt.
Don Reymundo wurde in der Rio Negro-Region in Brasilien geboren. Als Söhne eines Jaguar-Schamanen wurden er und sein älterer Bruder Lebrando in die Fähigkeit des Zauberns initiiert. Reymundo lernte dabei unter Einsatz der psychoaktiven Mittel Yopo (Anadenanthera peregrina) und Caapi (Banisteriopsis caapi), mit den kleinen Jaguaren leben, die aus einem Loch in seinem Kopf heraussprangen, und denen er, während sie mit ihm erzogen wurden und heranwuchsen, befahl, mit seinen Feinden zu kämpfen. Später holte sich das Wesen, das er »unseren Gott« nennt, die Jaguare mit ihren Körpern zu sich in den Himmel, weshalb sie nun, als Reymundo mir diese Geschichte erzählte, schon nicht mehr bei ihm waren. Ein andermal erzählte er mir, dass die kleinen Jaguare, als er sie anwies, seinen Kopf zu verlassen, wie Katzen spielten und auf einmal groß waren. Später wurden sie zu Menschen und verließen ihn.
Doch Don Reymundo wurde Opfer einer Verhexung und erkrankte schwer, sodass er sein Studium der Zauberei bei seinem Vater nicht abschließen konnte. Sein Vater holte aus seinem Körper das Gift heraus, das Schadenszauberer ihm hineingesandt hatten und womit sie ihn fast umgebracht hätten: Es war ein Gift namens Camajai, oft auch Pelo de mono (»Affenhaar«), Pelo de diablo (»Teufelshaar«) oder Leche de piedra (»Milch des Steins«) genannt, das ich nicht identifizieren konnte. Das ist ein mächtiges Gift, wie alle anderen Gifte aus der Asche des Feuers hervorgekommen, in dem Kuwai/Yuruparí verbrannt wurde. In praktisch allen Familien gibt es Erzählungen von Todesfällen durch dieses Gift.
Doch zurück zum Jaguar-Schamanen. Es ist dies eine besonders mächtige Klasse der Schamanen, ihr Name sagt es schon: sie können sich in Jaguare verwandeln. Diese Verwandlung wird als ein Wechsel des Umhangs formuliert. Man zieht die Weste, das Hemd oder die Haut des Jaguars über und wird zum Jaguar. Die damit verbundene körperliche Metamorphose ist das Privileg nur weniger mächtiger Männer und Frauen. Robin Wright nennt folgende Hauptkennzeichen des Jaguar-Schamanen:
• Er fühlt die Berufung nach einer schweren Krankheit oder in einem Traumerlebnis.
• Zu seiner Ausbildung gehören das Fasten, die Einnahme halluzinogener Substanzen, ein »Todes« und »Wiedergeburts«-Erlebnis, die »Heirat« mit vogelgestaltigen Hilfsgeistern.
• Er erlernt den spirituellen Flug, den direkten Kontakt mit Geistern und Gottheiten in allen Stockwerken des Universums und die Verwandlung in einen Jaguargeist (transformation into jaguar spirit), der zerstören und beschützen kann (predator and protector functions).
• Er übernimmt das Kommando über zahlreiche tiergestaltige Avatare (and numerous other animal avatars) und holt sich den »Körper« des Geistes des Jaguars (acquires »body« of jaguar spirit).
• Er kann die Naturkräfte beherrschen und somit Stürme und Gewitter bewirken.
• Er ist ein Psychopomp, geleitet die Toten in die Anderwelt.50
Laut Wright ererbt er seine Macht in genealogischer Erbfolge, die zurück bis zu den Schöpfungsmächten der Welt reicht, besonders zu Dzuliferi, dem ersten Schamanen. Der Jaguar-Schamane ist ein wahrer payé (Zauberer, Schamane), weiß alles über die Welt, kann einen Platz gerade neben dem Platz des Schöpfers Iñapirríkuli einnehmen; gilt als der einzige, der fähig ist, die Opfer eines Vergiftungszaubers zu heilen. Wie Kuwai/Yuruparí kann er seine Gestalt ändern und auf seiner Reise in die Anderwelt verschiedenste Formen und Körper annehmen. Doch gibt es noch mächtigere Schamanen als die Jaguar-Schamanen, und das sind jene, die gleichzeitig Propheten sind. Laut Wright wird ihnen deshalb größere Macht größer als den Jaguar-Schamanen zugeschrieben, weil aus ihnen die lebendige Stimme der Götter ertönt und sie einen Kommunikationskanal mit dem Schöpfer offenhalten.51
Viele dieser Merkmale finden wir bei Don Reymundo wieder, der sogar auch einen Kommunikationskanal mit dem Himmel offen hat. So hört er die Stimme dessen, den er »unseren Gott« nennt, und auch die Stimmen von dessen Begleitern, den Heiligen und heiligen Jungfrauen. Es mag uns merkwürdig anmuten, dass es gerade »Unser Gott« gewesen sein soll, der Don Reymundos Jaguare in den Himmel holte. Hier ließe sich an eine Bekehrung zum Christentum denken: Die Macht des Schamanen (seine Jaguare) wird entführt von »Unserem Gott«, in dem wir den Christengott sehen könnten. Doch diese Annahme gerät mir dadurch ins Wanken, dass die Menschen, bei denen ich wohnte, einen sehr weiten Begriff von »Unserem Gott« haben: Dazu gehören verschiedene Persönlichkeiten, neben Jesus Christus auch etwa Iñapirríkuli und Kuwai/Yuruparí. Wenn wir aber dennoch glauben möchten, dass Don Reymundo an Jesus Christus oder eine andere Person denkt, die nicht aus der Mythologie der Arawak stammt, sondern aus dem christlichen Glauben, dann bedeutet darum die Himmelsreise der zwei Jaguare des Don Reymundo noch lange nichts grundsätzlich Neues oder Anderes gegenüber den Himmelsreisen, die aus der mythischen Vorzeit und bis heute als Tatsachen bezeugt werden: Es sind nicht nur die Schamanen, die reisen, sondern auch ihre Gehilfen (und das wären in dem Fall die beiden Jaguare), die ja ohnehin aus dem Himmel stammen. Eine solche Reise, an oder in der Hand eines Gottes, der »unserer« ist, stellt eine Normalität im Leben des Schamanen dar. Zu den amazonensischen Kulturen gehört essenziell ein dichtes Netz untereinander verknüpfter Erzählungen von Metamorphosen, mit Reisen hinauf und hinab durch die verschiedenen Stockwerke oder Himmel des Universums, mit immer neuer Figuren, die in diese Erzählungen eingewoben werden. Es sind die Schamanen, die »Herren, die wissen«, die diese Erzählgewebe verfassen, verknüpfen und eine ganze Kohorte von Schamenengehilfen einbeziehen. Dabei kommen sie selten ohne Werkzeuge ihrer Macht aus. Zu den Werkzeugen früherer Zauberer kommen heutzutage kleine Jesusfigürchen, ein Kruzifix oder das Bild der Jungfrau. So umschloss die Faust des Bruders von Don Reymundo, des Schamanen Lebrando bei therapeutischen Sitzungen stets fest ein kleines Kruzifix.
Dass Schamanen sich in Jaguare verwandeln, ist kein großes Wunder. Die Menschen, bei denen ich wohnte, kennen lustige Geschichten wie diese, die Don Durifá da Silva lachend seinem Freund Rafael Dupa erzählte, als ich das Glück hatte, zuhören zu dürfen: Sein verstorbener Onkel, Schamane und Scherzbold, hatte die Angewohnheit, sich in einen Jaguar zu verwandeln. Dafür musste er eine bestimmte Pflanze kleinreiben und trinken, dann kletterte er einen Baum hoch und sprang wieder herab, nun schon als Jaguar. Ein weiteres Zaubermittel verhalf ihm wieder zu seiner menschlichen Gestalt. Einmal verwandelte er sich in einen Jaguar und folgte heimlich sechs Frauen aus seiner Gemeinschaft, unter ihnen seine eigene Schwester, die aufs Feld gingen, um Abiu-Früchte (Pouteria caimito) zu holen. Er wartete in einem Versteck, bis sie nicht nur alle Pflanzen und Früchte, derentwegen sie gekommen waren, geerntet, sondern auch noch fast alles in ihre Körbe geladen hatten. Da hörten sie ihn vom Feldrand her brüllen. »Aaaaaayyyy, der Jaguar! Uns wird der Jaguar auffressen!«, schrien die Frauen voller Angst, und stoben auseinander, ohne ihre Ernte mitzunehmen. Als sie fort waren, setzte der Jaguar sich ruhig mitten ins Feld, füllte die noch nicht vom Boden aufgesammelten Früchte in die Körbe und schleppte diese ins Haus seiner Mutter im Dorf. Bald darauf zogen die Frauen, nun in Begleitung ihrer Männer, wieder aufs Feld, um den Jaguar zu erlegen. Aber sie fanden ihn nicht, und die Ernte war auch weg.
Freilich sind nicht alle Verwandlungen des Jaguars in einen Schamanen zum Lachen. Gewöhnlich dienen sie den Schamanen für Heilzwecke oder um sich über Anderweltliches zu informieren. Man erzählte mir aber auch den Fall zweier junger Leute, die Kautschuk sammeln gegangen waren. Ein Jaguar kam und tötete den jungen Mann, während die junge Frau sich versteckte. Sie sah, wie der Jaguar ein Zaubermittel hervorholte und sich damit über den Bauch strich, als wenn er ein Hemd öffnen würde, so sein Jaguarjackett mitsamt Kopf, Reißzähnen und allem auszog, es an einen Baum hing und in menschlicher Gestalt in den Fluss zum Schwimmen sprang, weil er schwitzte. Die junge Frau nutzte die Gelegenheit und zog sich das Jaguarfell über, um sich zu rächen. Das Fell knurrte, aber sie sagte zu ihm: »Ich bin deine Herrin«. Es gelang ihr schließlich, das Fell anzulegen, und sie verwandelte sich in einen Jaguar und tötete den Jaguarmenschen, der im Fluss badete. Wie aber nun das Jackett wieder ablegen? Sie hatte gesehen, dass man ein Zaubermittel hervorziehen muss, aber: Wie? Woher? Um das herauszufinden, schloss sie sich der Jaguarhorde an, verbrachte die Nacht mit ihr, sah, wie die Jaguare ihr Jackett ablegen, und rannte noch in der gleichen Nacht nachhause zurück. Die Jaguar-Verwandlung wird immer als das Anlegen oder Ablegen eines Jacketts oder Hemdes beschrieben, das an einem Baum hängt, so lange es nicht gebraucht wird (wie mir unter anderen Don Rafael Dupa versicherte). Wright52 weist darauf hin, dass diese Praxis der Verwandlung in verschiedenste mächtige Tiere (vor allem in den Jaguar) als »sich das Jackett anziehen«, dzaui maka bezeichnet wird – das Jackett des Jaguars. Die für die Verwandlungen in Jaguargestalt und zurück zur menschlichen Gestalt benötigten Zaubermittel sind nur wenigen bekannt.
Don Reymundo hat nicht nur eine Zeitlang seine zwei Jaguare in seiner Macht gehabt, sondern er verfügt auch über weitere Macht, kann sich etwa vor Kugeln schützen. Er kennt ein »Gebet gegen das Gewehr«, das ihm einmal das Leben gerettet hat. Auf der Kirchweih begegnete er zwei Polizisten, die ihn um seine Macht beneideten und deshalb mit ihren Gewehren auf ihn schießen wollten. Don Reymundo forderte sie heraus, und während sie schon ihre Gewehre luden, bekreuzigte er sich und begann zu beten. Er hatte sechs Wörter gebetet, als der eine Polizist den Hahn des Gewehrs zog, doch der Schuss ging nicht los, das Gewehr blieb stumm. Der Polizist versuchte es noch einmal, wieder das gleiche Ergebnis. Da sagten die Polizisten zueinander: »Das ist ein mächtiger Mann.« Ein andermal sperrten die Polizisten ihn in die Arrestzelle von San Fernando de Atabaco und verrammelten die Tür ganz fest. Doch Don Reymundo kannte auch ein Gebet, um aus der Zelle freizukommen. Er betete und griff gleichzeitig fest auf die Tür zu, stieß sie auf, tat einen Sprung, und draußen war er. Deshalb, berichtet er, nennen die Polizisten ihn den Mächtigen.
Dreimal in der Zeit von März bis April 2010 berichtete mir Don Reymundo die Geschichte seiner Liebe zu Cecilia. Da dies praktisch die einzige Episode aus seinem Leben ist, die er mir mehr als einmal erzählt hat, meine ich, dass sie ihm besonders wichtig war. Cecilia war eine máwari, ein Mädchen ohne Nabel, das unter dem Wasser lebte, ein Delphin. Der Süßwasserdelphin (Inia geoffrensis humboldtiana) wird auch delfín rosado (rosa Delphin) genannt. Bei der Geburt ist er zwar dunkelgrau gefärbt, aber mit fortschreitendem Alter wird seine Haut so dünn, dass das darunter fließende Blut durchschimmert, und er rosafarbirg erscheint. Cecilia lebte mit Vater und zwei Geschwistern, Urbino und Marlene in Conubo, einem Verwaltungsbezirk der Unterwasserwelt, der an der Fluss-Oberfläche als spitz zulaufender Felsen zu sehen ist. In Menschengestalt erschien sie als ein Mädchen mit weißer Haut und gelocktem Haar, das Gegenteil eines indianischen Mädchens, und Don Reymundo erzählte, dass er völlig verliebt in sie war. Sie lernten sich kennen, als er in der Mündung des Flusstals in der Gegend des Felsens Conuba in seinem Kanu saß und fischte. Er war allein, während Cecilia von zwei anderen Mädchen begleitet wurde. Alle drei Mädchen zeigten menschliche Gestalt. Von nun an besuchte sie ihn Nacht für Nacht in seinen Träumen. Eines Tages saß sie auf seinem Boot, während er fischte, und zeigte auf ihren Vater in der Ferne, aber Reymundo konnte ihn nicht sehen. Doch eines Nachts kam es zum ersten Körperkontakt zwischen Cecila und Reymundo. Er wachte auf und fühlte ihre Wärme neben sich, wie sie ihn in seiner Hängematte umarmte. Sie verbrachten die Nacht zusammen, bis sie aufstand und ihm sagte, dass sie nachhause zurück müsse, da ihre Mama auf sie warte, und verschwand. Er blieb in der Hängematte liegen und spürte noch die Wärme des Körpers seiner Geliebten. Mehrere Nächte lang teilten sie sich die gleiche Hängematte, bis Cecilia plötzlich verschwand. Eines Tages, als Reymundo nahe bei dem Conuba-Felsen fischte. sah er einen Delphin, der auf den Wellen des Flusses herumsprang: Das war Urbino, Cecilias Bruder, der eben erst aus Temendawí zurückgekehrt war, der in Brasilien gelegenen Hauptstadt der máwari. Er erzählte Reymundo, dass es dort unten viele Mädchen gab, doch Reymundo fragte nur nach Cecilia. Da erzählte Urbano ihm, dass Petacostal (von dem ich gleich noch berichten werde), der Sohn des Teufels, sie in das oberste Himmelsgeschoss entführt hatte, in die Hölle, und sie dort geschwängert habe, und sie sei mit einem runden Bauch aus der Hölle zurückgekehrt, um ihr Kind zu gebären. Aber das kleine Söhnlein kam völlig behaart auf die Welt, wie ein Affe, es sah nicht wie ein Junge aus, sondern wie eine Beutelratte. Raymundo hat Cecilia nie mehr wiedergesehen. Wäre der Teufel nicht gewesen, so klagte er mir sein Leid, wäre Cecilia heute seine Ehegattin.
Dass der sogenannte Sohn des Teufels aus dem Himmel herunterkam, der am weitesten oben liegt, könnte uns an Kuwai/Yuruparí denken lassen, der auch oft »Teufel« genannt wird. Er zog sich aus unserer Welt zurück, um im obersten Himmelsstockwerk, seiner speziellen Hölle, zu leben, von wo er wieder herabzukommen gezwungen wurde, als er gleichsam schwanger mit den Jungen ging, die er aufgefressen hatte und dann erbrach. Cecilia reiste ebenfalls auf der vertikalen Achse des Universums: Zuerst nach oben, um später mit rundem Bauch wieder herunterzukommen. In Cecilias Gestalt werden die verschiedenen Himmelsgeschosse verbunden: Als Mädchen von ganz unten, aus dem Wasser gelangt sie nach ganz oben, in die Hölle und kehrt wieder zurück nach unten, wo sie einen Sohn gebärt, ein behaartes Tier, das Reymundo mit einem Affen vergleicht – und der Affe ist einer der tierischen Gehilfen des Kuwai/Yuruparí. Ich stelle hier einen Zusammenhang her, der zwar spekulativ, aber nicht weit hergeholt ist. Der Sohn der Cecilia und Kuwai/Yuruparí, der Sohn der Ámarru, werden beide behaart und hässlich geboren und wie Affen angesehen. Die Körper der beiden Mütter hässlicher, behaarter Söhne sind verschlossen: Ámarru hat keine Vagina, Cecilia hat keinen Nabel, was nach Filintro Rojas in der Symbolik der Kurripako (einer der Maipure-Gruppen) gleichbedeutend damit ist, keine Vagina zu haben.