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3.2 Zurück zum Heiligen Geist in Venezuela

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Vom Himmel herab kam bekanntlich der Heilige Geist und erschien den Jüngern Jesu zu Pfingsten (spanisch Pentecostés). In der Apostelgeschichte des Lukas (2.2–4)

[…] geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie sassen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen, und sie wurden alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in andern Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.

Das lärmende, brausende, flammenumhüllte Erscheinen des Heiligen Geistes bringt eine Gabe: das Verstehen und Sprechen fremder Sprachen. Und genau diese Gabe erhielt Don Reymundo, und genau deshalb nennt man ihn auch Loquiño, den kleinen Verrückten, da er scheinbar Selbstgespräche führt, während er aber tatsächlich mit den Heiligen und Jungfrauen des Himmels spricht, seit sein individueller Heiliger Geist, sein Petacostal herabgekommen ist. Früher wusste Don Reymundo-Loquiño die Klänge des Universums nicht zu deuten. Doch eines Tages spürte er, wie ein Wassertropfen hinter sein Ohr tropfte, das war genau der Moment, als man ihm (so umschreibt er es) ein Mikrophon einpflanzte, durch das alle Bewohner des Höchsten Himmelsstockwerks Unterhaltungen mit ihm beginnen konnten. Ja, mehr noch: der Hl. Petrus, die Jungfrau María, der Hl. Joseph, sie alle sprachen zu ihm, und er konnte sie alle verstehen. Zuvor, wenn Gott zu ihm durch die Donnerschläge sprach, meinte er, das seien einfach Donnerschläge, aber seit er das Mikrophon bekam, fing er an, alles zu verstehen.

Aus den auf einem visuellen Code aufgebauten Beziehungen von Don Reymundo zu den Menschen im Wasser werden akustische Beziehungen des Kleinen Verrückten Don Reymundo-Loquiño zu den Bewohnern des Himmels. Das auf Wunsch Unseres Herrn hinter seinem Ohr eingepflanzte Mikrophon, das er auch mit dem Bild des Telefonhörers beschreibt, stellt sein neues Machtinstrument dar, mittels dessen er Zugang zu einer ganzen Reihe weiterer Gehilfen erhält – so wie ein mächtiger Chef am Telefon hängt und mit seinen Leuten spricht. Dank der Informationen, die er so erhält – wer von ihm schlecht denkt oder spricht, usw. – wächst seine Macht. Information ist Macht, und der Kleine Verrückte hat davon so viel Information wie er will. Jetzt kann niemand mehr schlecht von ihm sprechen oder denken, ohne dass er alles hört. Aber es geht nicht um einfaches Hören, Don Reymundo-Loquiños wahre Macht liegt darin, dass er die Klänge des Universums zu interpretieren weiß. Sein »Mikrophon« hat nicht nur eine einfache Wiedergabe-Funktion für ferne Klänge und Stimmen, sondern ist auch gleichsam ein Übersetzungsroboter, er kann damit auch die Worte übersetzen, die niemand sonst zu verstehen weiß. Im Angesicht von Kuwai/Yurupaí, der aus seinem durchlöcherten und lärmenden Körper alle Klänge des Universums sendet, versteht Don Reymundo alle Wörter und Klänge, er ist der Gesprächspartner des Universums.

Doch kurz bevor er seine Gabe erhielt, traf Don Reymundo auf Petacostal, der vorgab, er sei »Unser Herr«. Doch Don Reymundo durchschaute den Trug und verprügelte den Betrüger mit einem Besen, den er in seiner Hütte liegen hatte. Man sieht also, dass Don Reymundo sogar noch mächtiger ist als Venancio, der ja (wir hörten es) nicht erkannte, welches das richtige Gesicht Gottes war und beinahe die Spiegelung, das Foto, das falsche Gesicht um den Segen gebeten hätte, vor welchem Irrtum ihn nur das Eingreifen der Hl. Jungfrau gerettet hat. Don Reymundo hingegen lässt sich nicht täuschen, er ist ein mächtiger Mann.

Mehrmals war ich während der Unterhaltung von Don Reymundo mit seinen himmlischen Gesprächspartnern anwesend. Er lauschte schweigend, den Blick auf irgendeinen Punkt auf dem Boden oder an der Wand fixiert. Dann antwortete er auf Spanisch, nur mit einem »ja« oder »alles klar« und einem kurzen, freudigen Lachen. Er ist ein Mensch, der andere an seinen Erfolgen gerne teilhaben lässt, und ich glaube, meine Anwesenheit störte ihn nicht, sondern es machte ihn ein bisschen stolz, mir seine Fähigkeiten zur Kommunikation mit anderen Welten zu demonstrieren. So übersetzte er mir Auszüge aus seinen gerade laufenden Gesprächen oder fasste mir einige Absätze zusammen. Einmal informierte ihn Unsere Liebe Frau vom Berge Karmel, dass jene Alte aus Guarinuma, die mit ihm gezankt und ihn, während er seinen Rausch ausschlief, getreten hatte, woran ihn später blaue Flecken an den Rippen erinnerten, jetzt aus der Ferne ihres Dorfes schlecht von ihm sprach. Ein andermal erinnerte Unsere Liebe Frau ihn daran, dass am Abend Früchte für das Patronatsfest geholt werden sollten. Das waren ganz normale, alltägliche Unterhaltungen und Situationen, die eine typische Routine langjähriger Ehepaare zeigten: Vergiss die Zitronen nicht! Manchmal ärgerte sich die Hl. Jungfrau über ihn und schimpfte ihn aus, und ich kann mir vorstellen, dass er dann manchmal den Hörer nicht mehr abnahm. Andere Male erzählte Unser Gott ihm alle möglichen Probleme, und Don Reymundo konnte nicht schlafen, bis der Mann am anderen Ende des Gesprächskanals sich nach einer langen, durchredeten Nacht beruhigt hatte. Am häufigsten sprach er mit Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel, mit dem Hl. Petrus, dem Hl. Antonius und Petacostal.

Man glaube nicht, dass Don Reymundo den Beinamen Loquinho (der kleine Verrückte) erhalten hat, weil man ihn nicht ernst genommen hätte. Es war ein Witz seiner Freunde: Schamane, ja, aber gleichzeitig ein bisschen verrückt und ein Trinker. Obwohl er selbst betonte, im Alter schon viel von seiner Kraft verloren zu haben, bat man ihn immer noch um Hilfe: Er sollte Gebete sprechen, einfachere Heilungen durchführen, der Fußballmannschaft zum Sieg verhelfen, über das erste Essen der Babys blasen, u. ä. m.

Zu der Zeit, als er mir von seinen Gesprächen mit Himmelsbewohnern erzählte, hatte Don Reymundo schon eine neue Braut, Ninse María, die Tochter des Hl. Petrus, mit der er dank seines »Mikrophons« den ganzen Tag lang sprechen konnte, trotz der Entfernung von fünf Kilometern zwischen ihnen. Sie verbrachten den Tag angenehm plaudernd, wobei sie sich gegenseitig alles Mögliche fragten. Einmal erzählte Don Reymundo mir, dass seine Braut gerne vom Himmel herunterkäme, um mit ihm zusammenzuleben, doch dass das nicht ging, da sie die Erde nicht betreten konnte. So fragte sie ihm immer wieder, wann er denn endlich gedenke, hinauf in den Himmel zu kommen, und warum das so lange dauerte, bis er das endlich machen würde.

Die neue Braut ersetzte die verschwundene Cecilia, und wie seine neuen Gefährten und Gesprächspartner, die Heiligen, die zu ihm durchs Mikrophon sprachen, gehört auch sie zur Himmelswelt. Den Platz eines Mädchens aus dem Wasser, Tochter eines alten máwari (Wassergeist), nahm also nun ein anderes Mädchen ein, Tochter des Herrn des Himmels. Man könnte auch sagen, dass Cecilia durch diese Liebesbeziehung mit Don Reymundo selbst zu den Himmelswesen aufsteigt, da ihre Rolle als Geliebte des Schamanen jetzt von einem anderen Mädchen übernommen wurde, das, wenn wir Don Reymundo glauben können, ihr auch physisch sehr ähnelt: sie ist blond, grünäugig, mit heller Haut und lockigem Haar. Auf sehr individuelle Weise, durch Don Reymundos Lebensweg, fährt Cecilia (oder ist es nicht Ámarru?) zum Himmel empor und füllt die Rolle aus, die ihr verschiedene Mythen des Amazonasgebietes zuweisen: die Rolle eines Sterns.

Doch dieser Aufstieg des Mädchens aus den Wassern und seine Verwandlung in ein himmlisches Mädchen finden wir vielleicht noch deutlicher in der Figur der Ninse María. Sie hatte, berichtete Don Reymundo, nicht immer die Rolle der Tochter des Hl. Petrus, sondern war zunächst ein Mächen aus dem Wasser, eine máwari, geradeso wie Cecilia eine war. Sie lebte auf einem recht großen Felsen in einem Bach nicht weit von hier, und ihr Vater war eine alte Schlange, der Herr aller Fische. Diesen Vater hat Don Reymundo bei verschiedenen Gelegenheiten gesehen, er war sehr hässlich, sein ganzer Körper war wie der des Kuwai/Yuruparí, durchlöchert. Das Mädchen war eine Freundin von Don Reymundo und unterhielt sich oft mit ihm, bis es sich eines Tages in einem Fischernetz verfing und starb. Einige Zeit danach war Ninse María der Name der neuen Braut von Don Reymundo, und nun war sie Tochter des Herrn nicht mehr des Wassers, sondern des Himmels.

In Begleitung des Aufstiegs von Don Reymundos Wasserbraut zum Himmel (sei sie nun Cecilia oder Ninse María) wird seinem nun schon alten Körper ein gleichzeitig zum Wasser wie zum Himmel gehörendes Instrument eingepflanzt: Ein Wassertropfen, von Gott gesandt, von seinem individuellen Petacostal, seinem Heiligen Geist, der hernieder gefahren ist, um ihm die Gaben und das Wissen zu schenken. Don Reymundo verbindet also in sich die antithetischen Kräfte des Universums, Unten und Oben, Wasser und Feuer, und diese Vereinigung der Elemente ermöglicht ihm die Kommunikation mit den verschiedenen Stockwerken des Universums – eines Universums, das dem Körper des Teufels (oder Kuwai/Yuruparí) nachgebildet ist, der nie aufhört, durch die Löcher in seinem Körper zu tönen. Dieser tönende Körper des Universums findet im runzligen Körper von Don Reymundo einen Gesprächspartner – endlich versteht einer den Sinn der Donnerschläge und kann ihnen zuhören. Robin Wright schreibt, dass nur wenige Schamanen die Fähigkeit besitzen, in direkten Dialog mit Gott zu treten und so zwischen den Menschen und Gott zu vermitteln, und dass diese Schamanen noch mächtiger als die Jaguar-Schamanen sind.61

Andererseits ist der Donner aus dem Reich Gottes auch ein sehr biblisches Bild. »Wer will aber den Donner seiner Macht verstehen?«, fragt Hiob. Hesekiel hörte die Engel Gottes: »wenn sie gingen, hörte ich ihre Flügel rauschen, wie große Wasser, wie die Stimme des Allmächtigen, ein Getöse wie in einem Heerlager. Wenn sie aber stillstanden […], donnerte [es] im Himmel über ihnen.« Und Johannes, dem geoffenbart wurde, berichtet, wie er vor den Thron Gottes trat:

Und siehe, eine Tür war aufgetan im Himmel, und die erste Stimme, die ich gehört hatte mit mir reden wie eine Posaune, die sprach: Steig herauf […] und von dem Thron gingen aus Blitze, Stimmen und Donner.62

Don Reymundo, dieser amazonensische Hesekiel hört die donnernde Stimme, aber angepasst an die technische Entwicklung, kleidet er das in das Bild eines in seinen Kopf eingepflanzten Mikrophons. Da er nun mit der Tochter des Himmelsherrn verlobt ist, denkt er daran, zum Himmel emporzusteigen und dort mit ihr zusammenzuleben. »Ich gehe fort, dorthin, wo mein Schwiegervater der Hl. Petrus wohnt, und werde seine Tochter Ninse María heiraten«, sagte er mir mehr als einmal. Auf meine dumme Frage, wie er das bewerkstelligen wolle, antwortete er mir geduldig, dass er mithilfe seiner zwei Flügelchen nach oben gelangen würde, die Gott ihm, dem zukünftigen Schwiegersohn des Hl. Petrus, an den Schulterblättern befestigt hatte, ohne dass er etwas merkte. Im Traum hatte er schon versucht, emporzufliegen, aber er hatte nur etwa 50 Meter geschafft, und Gott war ihm im Traum erschienen und hatte zu ihm gesprochen: »Nein, du kannst hier nicht hoch kommen, du bist zu schwer, runter mit dir, du trägst noch zu viele Sünden auf dem Buckel.« Von der Erde aus bemerkte Don Reymundo die Ungeduld seiner Braut: »Ich hol dich! Ich will, dass du hier zu uns hinauf kommst. Noch bist du sehr schwer. Wenn du deine Sünde überwunden hast, kannst du hierher fliegen. Warum kommst du denn noch nicht?«, fragte die Tochter des Hl. Petrus, die auf ihn wartete, um ihm die Tür zu öffnen. Manchmal war ich zugegen, als er mit dem Mädchen sprach. Lachend erklärte er mir, dass seine Braut ihn ausschimpfte. Und während er ihre Vorwürfe anhörte, versuchte er einen anderen Traum zu entziffern, den er mir freundlicherweise erzählte: Er war wie ein Rabengeier63 weit hinauf über die Erde aufgestiegen, sodann aber wie eine Taube wieder hinabgeflogen und gelandet. »Was soll der Unsinn?« fragte er sich selbst.

Die neue Braut in dem Himmel, aus dem sie nicht herunterfliegen kann, ist das Spiegelbild ihrer Schicksalsschwester, der Tochter des Herrn der Flüsse, die sich in den Netzen im Fluss verfing und starb. Zwei Welten spiegeln sich die eine in der anderen, und zwischen ihnen kann Don Reymundo dank seiner großen Macht hin und her reisen. Um das zu können, macht er Metamorphosen und körperliche Verwandlungen durch. Und auch seine Braut verwandelt sich ja, der Flußdelphin, der im Fischernetz ertrinkt, steigt zum Himmel empor. Die ihre Gewässer nicht verlassen konnte, kann nun nicht mehr vom Himmel herabsteigen. Und Don Rey­mundo wird fliegen, um seinen Stern zu erreichen.

Wie er sich auf den Flug nach oben vorbereitet, erinnert an den Aufstieg des Propheten Venancio zum Himmel. Beide waren zunächst schwer von viel Sünde. Don Reymundo wird nicht dünner wie Venancio, doch auch sein Körper macht eine Metamorphose durch. Mit seinen neuen Flügelchen wird er wie ein Schmetterling oder eine Wespe langsam, schwerfällig fliegen und das oberste Stockwerk der Welt erreichen. Mit dem neuen Gerät, das ihm die Türen zu einer neuen Welt öffnet, träumt er initiatorische Träume, die ihn auf den Flug vorbereiten. Er landet wie eine Taube – das ist der Heilige Geist. Und das ist die wahre Niederkunft von Petacostal auf die Erde: Er löst ihn von seiner Bindung an die Wasserwelt und an Cecilia und hebt ihn in ein anderes Stockwerk, in einen anderen Himmel.

Don Reymundo, ein mächtiger Schamane, durchstreift sein ganzes Leben lang – und wird nach seinem irdischen Tod durchstreifen – die verschiedenen Stockwerke des Universums und landet schließlich im obersten Himmel, in den nur die mächtigsten Schamanen gelangen, die sich in Wespen verwandelt haben. So vollzieht er den gleichen Weg der Metamorphose wie Yuruparí/Kuwai selbst. Von den Kurripako (Maipure-Arawak wie meine Gastgeber) berichtet Rojas (Ms.) den Fall eines siebzig Jahre zuvor verschwundenen Schamanen, der »so weit kam, dass er sich auf der Erde in Fisch, Jaguar und Blitz verwandelte. Er kam bis in den dritten Himmel und wurde ein Insekt«. So ist also der Tod auch unter den Kurripako eine Transmutation, zuerst des Körpers, dann des Lebens, eine Reise in ein anderes Stockwerk, aus dem die Schamanen zurückkehren können. Was Filintro Rojas von Schamanen der Kurripako berichtet, denen es gelang, sich in andere Wesen zu verwandeln, ist ein typisches Beispiel für etwas, woran in einem Großteil der amazonensischen Gesellschaften geglaubt wird: Die Fähigkeit, ein anderer zu werden.

Halten wir einen Augenblick inne inmitten all dieser Veränderungen, Bewegungen und Verwandlungen. Ein Leitmotiv, auf das wir immer wieder in den mythischen und individuell heutigen Erzählungen getroffen sind, war die Gefahr des Betrugs, der Täuschung, des Tricks, der Täuschung. Fast niemand und nichts ist, wie es scheint, fast alle möchten für etwas anderes gehalten werden und das wahre Gesicht verbergen. Das Universum der Arawak leidet unter der Plage der Betrügereien und optischen Illusionen. Puppen ersetzen Personen, eine Plazenta soll der echte Yuruparí/Kuwai sein, Spiegel und Spiegelungen dienen der Verwirrung. Der größte aller Spiegel ist die Wasseroberfläche, und darunter, wie ein Widerschein der Welt hier oben, liegt die Welt der máwari, der Leute ohne Nabel, von denen die Leute, bei denen ich wohnte, sagen, dass sie »Leute wie wir« sind.

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