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Herrschaft

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Begriff. „Herrschaft“ ist eine Schlüsselkategorie der deutschsprachigen Mediävistik. Man spricht von Königs-, Bischofs-, Kirchen-, Stadt-, Lehens-, Gerichts- und von Grundherrschaft und will damit spezifisch mittelalterliche Phänomene charakterisieren. Die Bedeutung, die man diesem Begriff unterlegt, ist schwankend und war in der Geschichtsforschung des 20. Jahrhunderts umstritten. In den letzten Jahren gewinnt die soziologische Definition M. Webers an Boden. Nach Weber ist Herrschaft „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“. Diese Definition beschränkt sich formal auf das institutionell verfestigte Verhältnis von Befehl und Gehorsam und sagt nichts über die Grundlage bzw. die Legitimität des Erwerbs von Herrschaft aus. Ihr entgegengesetzt ist die Auffassung O. Brunners, die lange Zeit die mediävistische Forschung geprägt hat. In seinem verfassungsgeschichtlichen Klassiker Land und Herrschaft (1939) lehnte Brunner die Anwendung moderner Begriffe (wie insbesondere das Konzept des Staates und der Gesellschaft) ab und forderte den Rückgriff auf eine quellennahe Begrifflichkeit. Der schon im Mittelalter nachweisbare Begriff der „Herrschaft“ schien dieses Kriterium zu erfüllen. Für Brunner (und andere einflußreiche Historiker wie H. Dannenbauer und W. Schlesinger) standen die Herrschaftsrechte des Adels am Beginn der mittelalterlichen Geschichte und wurden erst langsam durch die Herausbildung einer öffentlichen Rechtsordnung in ihrer Legitimität eingeschränkt. Königsherrschaft erwies sich dann als ein Sonderfall der autogenen (das heißt ursprünglichen) aristokratischen Herrschaft. Dieses Modell wurde bis zur Ableitung aller Gewalt aus der Stellung des Hausvaters über Familie und Gesinde gesteigert. Herrschaft faßte Brunner dabei nicht wie Weber neutral auf, sondern als ein auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis. Es ist definiert durch die einander ergänzenden Normen von „Treue und Huld“, „Schutz und Schirm“ bzw. „Rat und Hilfe“: So wie der Untergebene zu Rat und Hilfe verpflichtet gewesen sei, habe der Herrschende Schutz und Schirm gewährleisten müssen. Diese Normen prägten nach Brunner die Herrschaft auf allen Ebenen: die Grund-, Stadt-, Lehens- und Landesherrschaft. An diesem Modell wurde von verschiedenen Seiten Kritik geübt. Zum einen wurde darauf hingewiesen, daß das mittelhochdeutsche herscap erst im Spätmittelalter nachweisbar ist und in seiner Begriffsentwicklung durch das Bedeutungsspektrum der lateinischen Äquivalenzbegriffe entscheidend beeinflußt wurde. Auch die Begriffe der „Treue“, der „Huld“ und des „Schirms“ löste man aus Brunners ausschließlicher Einbettung in das germanische Rechtsdenken heraus und setzte sie in Bezug zur christlichen und römischen Tradition. Zum anderen geriet Brunners Idealisierung mittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse in die Kritik. Die Umschreibung von Herrschaft als auf Gegenseitigkeit beruhendes Sozialverhältnis wurde als zeitgenössische Ideologie der Adelswelt entlarvt, die Ausübung und Androhung nackter Gewalt verdecken sollte. Als Folge dieser Kritik ist man weitgehend zu einer neutralen Verwendung des Herrschaftsbegriffs zurückgekehrt, wie er seit M. Weber in der Soziologie vorherrscht. Als solcher bewährt er sich weiterhin als Schlüsselbegriff für die Epoche vor der Herausbildung des modernen Staates: Der Begriff „Herrschaft“ betont durch den Bezug auf einen „Herrn“ das persönliche Element mittelalterlicher Politik; er macht daher auf das stets ungesicherte, labile und prekäre Verhältnis zwischen Befehlsgeber und Befehlsempfänger aufmerksam; er spiegelt zudem die fehlende bzw. nur in Ansätzen vorhandene Trennung zwischen öffentlicher und privater Gewaltausübung, zwischen öffentlichem Recht und persönlichen Rechten; und er insinuiert die Einbettung der politischen Ordnung in die parallel konstruierte gesamtgesellschaftliche Stratifikation, die auf allen Ebenen (von Gott bis zum Grundherrn) einen dominus kannte. Besonders im frühen und hohen Mittelalter hat daher der Begriff der „Königsherrschaft“ weiterhin eine hohe Konjunktur. Die Ottonenzeit bezeichnet G. Althoff als eine „Königsherrschaft ohne Staat“. Für eine qualifizierte Form der politischen Herrschaft hat sich die Prägung „konsensuale Herrschaft“ (B. Schneidmüller) als fruchtbar erwiesen. Vor dem Hintergrund der geringen Institutionalisierung von Herrschaft hat die Einforderung, Inszenierung und Vorspiegelung von Konsens die politische Entscheidungsfindung maßgeblich geprägt.

Legitimation. Im Gegensatz zur Antike stand Herrschaft im christlichen Mittelalter stets unter Legitimationszwang. Wie man sich das Leben im Paradies auch immer vorgestellt hat, unbestritten war die Tatsache, daß Königtum und Adel keinen Platz im ursprünglichen göttlichen Schöpfungsplan hatten. Der Urzustand kannte kein Eigentum, keine Herrschaft, keine Knechtschaft. Die Entstehung dieser Institutionen ist in der Bibel eindeutig negativ besetzt. Auf die Verfluchung Kanaans durch Noah (Gen 9,25) wurde im Mittelalter die Knechtschaft zurückgeführt, auf Nimrod, den „Jäger wider Gott“ (Gen 10,9), die Etablierung der Herrschaft über ein Reich. Das Ideal einer herrschaftsfreien Zeit galt allerdings dem Mittelalter als unwiederbringlich verloren. Seit Augustinus stand in der lateinischen Theologie fest, daß der Sündenfall Adams und Evas eine Kluft zwischen dem geschaffenen und dem gefallenen Menschen aufgerissen hat [↗ Christliches Menschen- und Gottesbild]. Die Erbsünde habe den menschlichen Willen grundlegend verändert und auf das Böse ausgerichtet. Herrschaft galt seither unbestritten als notwendig; selbst im Kloster, das doch vorgab, durch Askese und Frömmigkeit einen Abglanz des Paradieses zurückzugewinnen, herrschte ein Abt mit monarchischer Vollmacht. Der herrschaftsfreie Urzustand sollte nicht Herrschaft prinzipiell in Frage stellen, sondern diente dazu, alle Träger von Herrschaft an die ursprüngliche Gleichheit zu erinnern und Milde sowie Demut gegenüber den Untertanen einzufordern. Nur vereinzelte häretische Gruppen versuchten das Ideal des herrschaftsfreien Urzustands wieder zum Leben zu erwecken, wobei manchmal unklar bleibt, ob sie dieses Ideal tatsächlich angestrebt haben oder ob es ihnen nur von der Inquisition unterstellt worden ist (sogenannte „Adamiten“).

Der Legitimationszwang stellte also nicht so sehr das Faktum der Herrschaft in Frage, sondern erforderte die Rekonstruktion der rechtmäßigen Genese von Herrschaft. Da Herrschaft nicht ursprünglich war, mußte sie im Lauf der Zeit eingerichtet worden sein. Augustinus griff die negative Entwicklungsgeschichte der Bibel auf und charakterisierte Herrschaft als Ausgeburt des Hochmuts und der Herrschsucht. Gregor VII. münzte diese pessimistische Auffassung in ein Argument für die päpstliche Weltherrschaft um. Gerade die Verworfenheit menschlicher Herrschaft machte für ihn die Heiligung durch die Kirche notwendig. Dieser Schluß von der verdorbenen Natur der Herrschaft auf die Notwendigkeit kirchlicher Überordnung firmiert in der historischen Forschung unter dem Schlagwort „politischer Augustinismus“. Im Verlauf der Herausbildung der juristischen und theologischen Wissenschaft an den Universitäten wurden die Konsequenzen dieser Lehre bis in alle Verästelungen ausbuchstabiert. Für Aegidius Romanus († 1316), den extremsten Verfechter päpstlicher Weltherrschaft, benötigte jede Form von rechtmäßigem dominium (Herrschaft und Eigentum) die Heiligung durch die sakramentenspendende römische Kirche. Herrschaft durch Heiden stand für ihn außerhalb der Rechtsordnung. Verbreiteter und konsensfähiger war jedoch eine positive Wertung von Herrschaft, die sich von den Kirchenvätern Gregor dem Großen und Isidor von Sevilla herleitet. Auch für sie machte erst der Sündenfall die Etablierung einer politischen Ordnung notwendig; doch sahen sie die Triebkraft nicht in der menschlichen Bösartigkeit, sondern in der göttlichen Fürsorge für den Menschen. Die Vorsehung Gottes habe die Einsetzung von Herrschern besorgt, um die Guten zu beschützen und die Bösen zu bestrafen. Damit bewahrheitete sich für diese Autoren der Satz von Paulus: „Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1). Herrscher konnten aus dieser Perspektive als von Gott beauftragte Amtsträger gewürdigt werden [↗ Königtum]. Eine dritte Sicht auf die Genese von Herrschaft wurde maßgeblich durch die Rezeption der aristotelischen Politik hervorgerufen. Auch wenn sich Aristoteles nicht ausführlich zur Genese von Herrschaft äußerte, so veranlaßte seine These vom Menschen als ein von Natur aus politisch-soziales Wesen zum Nachdenken über die Art und Weise, wie Herrschaft aus rein menschlicher Anstrengung hervorgegangen sein könnte. Thomas von Aquin (†1274) löste diese Schwierigkeit durch seine Theorie der schrittweisen Genese von Herrschaft. Die Ungleichheit in der Ausstattung mit natürlichen Talenten sei für die Ausbildung einer Führungsschicht verantwortlich. Bereits im Urzustand habe daher eine Leitung durch die klugen Köpfe der Menschheit stattgefunden, die sich nach dem Sündenfall zu einer mit Zwangsgewalt ausgestatteten Herrschaft weiterbildete. Für Marsilius von Padua († 1342/43) waren dagegen die Zwänge der arbeitsteiligen städtischen Gesellschaft ausschlaggebend. Die Organisation der Arbeit habe dazu geführt, daß besonders weise und beredte Männer ihre Mitmenschen von der Notwendigkeit einer politischen Herrschaftsordnung überzeugen konnten. Die Aristoteles-Rezeption verfestigte daher einerseits die seit Augustinus akzeptierte Notwendigkeit von Herrschaft: Nicht allein der Sündenfall, bereits die Natur des Menschen selbst habe die Entstehung von Herrschaft bewirkt. Andererseits konzipierte Aristoteles die politische Ordnung als eine wechselseitige Beziehung zwischen Bürgern, die sich in der Herrschaft ablösen oder an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, Zwang aber nur über Nicht-Bürger (wie Sklaven, Handwerker etc.) ausüben. Dieses integrative Konzept der Politik löste seinerseits intensive Debatten über die Art der Herrschaftsausübung aus.

KARL UBL

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