Читать книгу Enzyklopädie des Mittelalters - Группа авторов - Страница 15

Universalmächte

Оглавление

Die ersten Jahrhunderte des Mittelalters waren ein Zeitalter des Partikularismus. Nach der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers (476) kam es zur Bildung von Königreichen mit germanischer Führungsschicht. Die Struktur dieser Reiche war zunächst nicht gefestigt. Erst zu Ende des 6. Jahrhunderts stabilisierte sich die politische Ordnung auf dem Kontinent durch die drei Reiche der Langobarden, Franken und Westgoten im Westen sowie das byzantinische und das awarische Reich im Osten. Kommunikation und Handel zwischen diesen Reichen kamen zwar nie vollkommen zum Erliegen, erreichten aber im 7. Jahrhundert einen Tiefpunkt. Auch innerhalb der Kirche nahm der Austausch zwischen den Bischöfen ab. Synoden wurden nur auf der Ebene der einzelnen Königreiche einberufen [↗ Konzilien und Synoden], während das Papsttum politisch dem byzantinischen Reich zugeordnet war und eine Verminderung seiner Bedeutung im Westen hinnehmen mußte. Die Folge davon war, daß auch die Rechtsordnung der Kirche zu einer partikularen Verselbständigung tendierte. Die gallische und die spanische Kirche schufen auf Konzilien ein von der römischen und spätantiken Kirche unabhängiges Rechtskorpus. Dieser Partikularismus des Rechts hatte sein Gegenstück in der weltlichen Herrschaft. Die germanischen Könige erließen eigene Rechtsbücher [↗ Germanisches Recht], die zwar alle dem Vorbild des römischen Rechts verpflichtet waren, aber in unterschiedlichem Ausmaß Bestandteile der archaisch-germanischen Tradition aufnahmen. Partikularismus beherrschte schließlich auch die Schriftentwicklung im 7. Jahrhundert. Aus den römischen Vorbildern entwickelten sich in Italien, Spanien, im Frankenreich und auf den britischen Inseln unterschiedliche Schriftarten, die die Kommunikation in Europa erschwerten [↗ Schrift].

Seit dem 8. Jahrhundert wurde dieser Tendenz zum Partikularismus das Streben nach universaler Ordnung entgegengesetzt. Den entscheidenden Umschwung bewirkten die angelsächsischen Missionare zu Anfang des 8. Jahrhunderts. Sie brachten das universalistische Erbe des Christentums (Kol 3,11; Gal 3,28) wieder zur Geltung, sie erneuerten das gesamtkirchliche Bewußtsein und strebten nach einer Vereinheitlichung von Liturgie und Recht. Vorbild sollte die auf Petrus beruhende Tradition der Kirche in Rom sein. Im Kirchenrecht wurde die altkirchliche Tradition wiederbelebt; für das weltliche Recht forderte der Erzbischof Agobard von Lyon († 840) die Abschaffung der partikularen Volksrechte zugunsten der Geltung des universalen römischen Rechts. Politisch schlug sich dieses Streben nach Universalismus in der Wiederbegründung des Kaisertums durch Karl den Großen nieder [↗ Kaisertum]. Sein Sohn Ludwig der Fromme († 840) nahm einen universalen Titel ohne gentile Zuordnung an (imperator augustus). In der Schrift förderte Karl der Große die Verbreitung der karolingischen Minuskel, die im Verlauf der nächsten Jahrhunderte in ganz Europa Verbreitung finden sollte. Dieser erste Schub des Universalismus vollzog sich im Rahmen der wirtschaftlichen Neuordnung Europas (M. McCormick). Sie führte zu neuen Kommunikations- und Handelswegen und erleichterte die Verbreitung der karolingischen Neuerungen (wie den Silberdenar). Im Hochmittelalter wurde der Universalismus zwar auch durch das Kaisertum und das vom Kaiser fortgeführte römische Recht getragen; doch die wichtigsten Impulse gingen in dieser Zeit vom Papsttum aus. Während der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts strebte das Papsttum nach Realisierung des seit der Spätantike formulierten Programms des universalen Kirchenregiments. Erst durch die Etablierung des römischen Primats in der Kirche wurde die effektive Vereinheitlichung des Kirchenrechts möglich. Im 13. Jahrhundert kam dieser Prozeß zum Abschluß. Die Vermittlung dieses universalen Rechts übernahmen die Universitäten, die vom Papst die neuen Rechtsbücher der Kirche in Empfang nahmen und zur Grundlage der Vorlesungen machten. Als Institutionen, an denen die licentia ubique docendi („die überall gültige Lehrbefugnis“) erworben werden konnte, waren sie ein weiterer wichtiger Faktor des Universalismus. Die an den Universitäten gelehrte scholastische Methode war das universale Rüstzeug der mittelalterlichen Gelehrten. Erst der Humanismus machte dieser einheitlichen Methode Konkurrenz und führte zum neuzeitlichen Methodenpluralismus [↗ Denkformen und Methoden].

Das gesamte Mittelalter wurde also durch diese Konkurrenz von Partikularismus und Universalismus geprägt. Der Universalismus diente oft partikularen Interessen und blieb öfter Anspruch als Wirklichkeit; doch förderte er durch den von ihm herausgeforderten Prozeß der Abgrenzung die Ausdifferenzierung der Gesellschaftsbereiche und trug erheblich zur sozialen und ideengeschichtlichen Dynamik des Mittelalters bei.

KARL UBL

Enzyklopädie des Mittelalters

Подняться наверх