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Kritisch

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Der interessierten Leserschaft wird nicht entgehen, daß jegliche Themenauswahl beliebig ist. Die in der ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS getroffene Auswahl gehorcht einer forschungsund darstellungspragmatischen Logik, die im Folgenden dargelegt wird.

Enzyklopädien – ob thematisch oder alphabetisch – bestehen aus einer Hierarchie von Artikeln, die einen mit mehrfachen, die anderen mit weniger Bezügen zu anderen Artikeln. Die ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS macht, anders als alphabetische, aber auch anders als manche thematisch angelegten Werke, diese Bezüge explizit, indem sie ihre Hauptthemen untergliedert. Einzelartikel beziehen sich daher auf verschiedene Ebenen eines Themas, je nach Allgemeinheit bzw. Singularität ihres Gegenstandes. Diese Ebenen werden freilich nicht streng voneinander getrennt, sondern sie bilden vielmehr einen Rahmen, zu dem die Einzelartikel Stellung beziehen. In den seltensten Fällen sind „übergeordnete Artikel“ daher Resümees der in einem Abschnitt bzw. Unterabschnitt behandelten Themen. Die Autoren der Enzyklopädie haben vielmehr Gebrauch von der Möglichkeit gemacht, die ihnen die relative Ordnung der Themen innerhalb der verschiedenen Abschnitte bot, um ihre eigene Perspektive auf das Thema und verwandte Themen deutlich zu machen. Daß die Perspektiven der Autoren dabei alles andere als einheitlich sind, drückt die reiche Vielfalt aus, die die moderne Mediävistik kennzeichnet. Dementsprechend nimmt auch die Bibliographie, die die Einzelartikel versieht, nicht für sich in Anspruch, vollständig oder endgültig zu sein, sondern sie bietet dem interessierten Leser vielmehr Einblick in den gegenwärtigen Diskussionsstand sowie Orientierung für weiterführende Recherchen.

Nicht nur die Vielfalt der Forschungsperspektiven wird durch die Untergliederung der Hauptthemen sichtbar, sondern auch die Art und Weise, wie diese miteinander verbunden werden. Denn die moderne Mediävistik ist nicht nur durch ihre Vielfalt, sondern auch durch ihre Interdisziplinarität gekennzeichnet. Damit sind wir bei den Themen, die die ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS in ihren Abschnitten behandelt.

Auch wenn einige Themen mit Teildisziplinen der Geschichte, wie z.B. der Literatur-, Wirtschafts- oder Technikgeschichte übereinzustimmen scheinen, muß zunächst festgestellt werden, daß alle Abschnitte den interdisziplinären Anspruch der ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS einlösen. Die erwähnten Gebiete haben sich genauso wie andere Teildisziplinen der Mediävistik dem allgemeinen Trend zur Interdisziplinarität geöffnet, wenn sie nicht sogar als Experimentierfelder für eine interdisziplinäre Mediävistik eine Vorreiterrolle in diesem Zusammenhang gespielt haben. Zu den letztgenannten gehören mit Sicherheit die Kunst- und die Musikgeschichte, die die Enzyklopädie genauso wie die räumlich arbeitenden Disziplinen miteinander kombiniert, wodurch sie eigene Akzente auf dem Weg zu einer interdisziplinären Forschung setzt.

Am deutlichsten tritt die Interdisziplinarität der ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS indes in den beiden ersten Abschnitten hervor, die sich den Themen „Gesellschaft“ und „Glaube und Wissen“ widmen. Voraussetzung für jegliche Form der Interdisziplinarität ist einerseits die Annahme, wonach ein Gegenstand aus vielen Perspektiven heraus entstehen kann. Damit ist die Interdisziplinarität erst möglich. Daß sie wissenschaftlich sinnvoll, ja wünschenswert ist, folgt andererseits aus der Einsicht, daß kausale Zusammenhänge eine potentiell unendliche „Kette“ bilden. Der Begrenztheit und Relativität jeder Perspektive trägt der Begriff der „Gesellschaft“ Rechnung, der im 18. Jahrhundert aus der Absage an jeglichen Versuch heraus entstanden ist, einen Letztgrund aller Entwicklungen zu identifizieren.

Dem Gegenstandsbereich des ersten Abschnittes wird keine Priorität gegenüber anderen Gebieten eingeräumt, da der „gesellschaftliche“ Ansatz in letzter Instanz darauf hinausläuft, die Bedeutung eines Gebietes von der Fragestellung des Historikers abhängig zu machen. Die ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS wagt durchaus Blicke in bislang wenig erforschte Landschaften. Diese wiederum stehen nie für sich allein, sondern werden im Zusammenhang mit anderen Fragen gesehen – ganz im Sinne von Marc Blochs „histoire totale“, zu der die ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS einen Beitrag leistet. Daß sie mit dem Abschnitt über die „Gesellschaft“ eröffnet wird, widerspricht dieser Perspektive nicht. Denn Voranstellung und größerer Umfang des ersten Abschnitts sind dem Umstand geschuldet, daß sich die epistemologische Prämisse, die dem Gesellschaftsbegriff zugrunde liegt, besonders deutlich festmachen läßt am Beispiel des Bereiches, der historisch den Ausgang des „sozialen“ Standpunkts ausgemacht hat und immer noch dessen Mitte darstellt: nämlich die generellen „Gesetze“ der Entwicklung von kleineren und größeren Menschengruppen, denen schon Montesquieus besonderes Interesse galt. Hierbei werden Herrschaft und Normen neben sozialen Formationen einerseits und Medien und Formen der Interaktion und Kommunikation andererseits zur Beschreibung des Ist-Zustands und seiner Dynamik herangezogen – und nicht zum Maßstab menschlichen Handelns verklärt. Dadurch rücken die Mittel, dank derer Herrschaftsträger und Normenproduzenten ihren Anspruch zu legitimieren und umzusetzen versuchten, in den Blickpunkt. Ihr Erfolg wird nicht mehr einfach vorausgesetzt, sondern sehr genau meßbar.

Durch die Unterscheidung zwischen „Gesellschaft“ einerseits und „Glaube und Wissen“ andererseits wird – als eine weitere Konsequenz des „sozialen“ Ansatzes – der Begriff der „Christenheit“, wie er in der Romantik etwa von Novalis, Chateaubriand und Walter Scott ausgeformt wurde, dekonstruiert. Die ENZYKLOPÄDIE DES MITTELALTERS nimmt den Glauben in seiner gesellschaftlichen Dimension wahr. Der Glaube wird nicht als unverrückbares Fundament, sondern als historischer Faktor der mittelalterlichen Kultur verstanden. Damit wird sowohl anerkannt, daß die Auswirkungen des Glaubens die gesellschaftliche Dynamik des Mittelalters wesentlich prägten, als auch der Tatsache Rechnung getragen, daß der Glaube wiederum durch soziale Prozesse und Formationen entscheidend bestimmt wurde. Eine solche Positionierung des Glaubens wirkt sich auf die geschichtliche Darstellung des Wissens aus, erlaubt sie doch, dieses auch in gesonderter Fokussierung zu behandeln. Es sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß gerade die Wechselwirkung von Offenbarungswissen und Weltwissen und die nicht weniger komplexe Geschichte des Verhältnisses zwischen den Antworten christlicher, jüdischer und islamischer Gelehrter auf diese Herausforderung zu den sichtbarsten Ausdrücken der außergewöhnlichen Dynamik mittelalterlicher Gesellschaften gehören. Nicht zufällig haben sie eine kaum zu unterschätzende Rolle in der Geschichte Europas gespielt.

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