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6. Wie ist die Prägekraft des Medialen erklärbar,
wenn Medialität durch Heteronomie bestimmt ist?

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Werden Medien funktionell als Mittler, Vermittlung und Überträger bestimmt, drängt sich die Frage auf, wie die kulturelle und kognitive Prägekraft von Medien, ihre kreative Dimension, im Horizont eines solchen Ansatzes gesichert und analysiert werden kann. Die Antwort lässt sich beispielhaft anhand eines Medienphänomens, der ‚artifiziellen Flächigkeit‘, geben (Krämer 2016: 11–25).

In der dreidimensionalen Welt umgeben uns inskribierte und illustrierte Flächen. Empirisch gesehen gibt es keine Flächen, doch wir behandeln die Oberflächen von Körpern dadurch, dass wir diesen etwas einzeichnen oder aufzeichnen so, als ob sie ohne Tiefe, also flach seien. Die Kulturtechnik der Verflachung ist eine anthropologische Entwicklungstendenz, die von den Höhlenmalereien über Hauttätowierungen und Bilder bis zur Erfindung von Schriften, Diagrammen und Karten reicht und weiter zum Computerbildschirm und touchscreen führt. Ein artifizieller Sonderraum wird entworfen, in dem alles, was aufgezeichnet ist, auch synoptisch überblickt, teilweise manipuliert und kontrolliert werden kann. So werden neue Potenziale für Kommunikation und Kognition, Komputation und Komposition geschaffen. Worin gründet dieser Siegeszug der artifiziellen Flächigkeit für die Entfaltung kognitiver und ästhetischer Potenziale?

Wir charakterisierten Medien durch die Position der Drittheit, durch ihr verbindendes ‚inbetween‘. In dieser Perspektive bildet die Zweidimensionalität der Fläche ein Drittes und Mittleres zwischen der Eindimensionalität der Zeit und der Dreidimensionalität des Lebensraumes. Daher ist die Fläche geeignet, ein Mittler und Mittleres zwischen den differenten Erfahrungsmodalitäten von Raum und Zeit zu werden. Zeitliche Sukzessionen können in simultane Raumstrukturen und vice versa transformiert werden.

Henri Bergson (1989: 7 u. 89) beklagte, dass mit der Verräumlichung der Zeit in der Zeitlinie als Konstituens sowohl des historiographischen Selbstverständnisses wie der naturwissenschaftlichen Visualisierung, Raumkonfigurationen zur Matrix unseres Zeitkonzeptes avancieren: Die Zeit als ‚Dauer‘ komme abhanden. Bergsons Diagnose des wissenschaftlichen Umgangs mit Zeit durch ihre Verräumlichung ist scharfsichtig, doch sie übersieht und marginalisiert die kognitive und kreative Rolle der Verräumlichung von Zeit. Denken wir nur an die Rolle der Nutzung des Schattens, der Elementarform einer Transformation von Dreidimensionalität in Flächigkeit, für die Genese der Wissenschaften in Gestalt der antiken Sonnenuhren (Bogen 2005).

Wenn zeitliche Sukzession in räumliche Simultaneität verwandelt wird, ist diese Transformation kein schlichter Übertragungs- bzw. Übersetzungsvorgang. Vielmehr impliziert sie eine Metamorphose, eine Transfiguration, die neue Potenziale freizusetzen vermag. Paradigmatisch hierfür sind phonetische Schriften wie das Alphabet.5 Die Transformation des Sprechens in die Anordnung eines Textes annulliert mimische, gestische, prosodische Dimensionen. Doch die Schriftbildlichkeit eröffnet mit ihrer graphischen Textur einen Darstellungs- und Operationsraum, für den es in gesprochener Sprache kein Vorbild gibt. Denken wir an das epistemische Schreiben in Gestalt der allmählichen und immer auch korrigierbaren Verfertigung von Gedanken; an die im Schriftbild kondensierte Kartographie der Sprache in Form der visuellen Artikulation von grammatischen Unterscheidungen wie Groß- und Kleinschreibung oder Interpunktion; an die ‚Zweistimmigkeit‘ von Texten, welche durch die separaten Regionen von Fließtext und Fußnoten eröffnet wird; an die neuartigen Zugriffsmöglichkeiten, die Texte mit ihrer Gliederung, den Inhaltsverzeichnissen und Indices ermöglichen. All dies verweist darauf, wie die Verwandlung des zeitlich sequenzierten Redens in den räumlich strukturierten Text neue kognitive und ästhetische Sprachverwendungen möglich macht.

Artifizielle Flächigkeit verwandelt nicht nur temporale Sukzession in räumliche Simultaneität, sondern ebenso auch textuelle Strukturalität in zeitliche Prozessualität und Performanz. Computerprogramme können geschrieben, Musikpartituren und Choreographien notiert und Entwurfszeichnungen angefertigt werden, um in anderer Zeit, von anderen Personen oder Apparaten gelesen und realisiert zu werden. Ein zeitlicher Vollzug gerinnt zu einer übertragbaren stabilen räumlichen Konfiguration, die wiederum im Handeln verflüssigt wird und zu neuen räumlichen Strukturen gerinnen kann. Überdies profitiert auch die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft vom Einsatz artifizieller Flächigkeit: Denn die Anschaulichkeit und Operativität, welche die inskribierte Fläche eröffnet, ist stets eine Anschauung und Operativität im ‚Modus des Wir‘.

Anhand eines historischen Beispiels sei das Erkenntnispotenzial graphischer Flächigkeit erläutert.

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