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1. Geltungen oder die Physiklosigkeit des Medienobjekts
ОглавлениеWiesing macht der Medienwissenschaft grundsätzlich den Vorwurf, dass eigentlich alles unterschiedslos für sie ein Medium ist. Seiner Ansicht nach wird der Medienbegriff – wie verschieden er im Einzelnen auch sein mag – vor allem deshalb so verschwenderisch zur Anwendung gebracht, weil er niemals einer hinreichenden Klärung unterzogen wird. Unter diesen Umständen liegt, wie Wiesing (2005: 149) meint, die Herausforderung schon eher darin zu sagen, was eigentlich kein Medium ist. Der Befund, dass die Vagheit des Begriffsgehalts mit einer Überdehnung des Begriffsumfangs einhergeht, trifft demnach eigentlich für alle Hauptvertreter der Medienwissenschaften zu: So ist für Marshall McLuhan jedes Werkzeug und sogar jede Energieform ein Medium und für Niklas Luhmann jede Möglichkeit, welche zur Bildung von Formen verwendet werden kann (Wiesing 2005: 149f.). Ebenso gilt auch in der phänomenologischen Medientheorie – explizit genannt werden Maurice Merleau-Ponty, Boris Groys und Christian Bermes – einfach alles als Medium, das sich durch Transparenz auszeichnet, also in den Hintergrund tritt, um etwas anderes erfahrbar zu machen. Beliebte Beispiele der phänomenologischen Medientheorie sind vor allem die Sprache, welche als solche unthematisch bleibt, um die Aufmerksamkeit auf von ihr denotierte Sachverhalte zu lenken, sowie der menschliche Körper, der als Medium des Wahrnehmens und Handelns fungiert.
Angesichts dieser Situation zieht Wiesing (2005: 152) die Bilanz, dass die medienwissenschaftlichen Medienbegriffe erheblich umfangreicher sind als der alltagsweltliche Medienbegriff, den wir im Allgemeinen doch eher auf den Bereich der Kommunikationsmittel beschränken: „Man hat Medientheorien von Dingen, die ohne diese Theorie keine Medien wären: wie Energie, Wahrnehmung oder der Leib. In jedem der drei Fälle verliert der Medienbegriff beachtlich an Intension und seine Extension nimmt bedenklich zu“. Diese Entgrenzung beruht nach Wiesing in erster Linie auf einer Verwechslung von notwendigen mit hinreichenden Kriterien. Sicher ist jedes Medium erstens ein Werkzeug, aber McLuhan müsste die Frage beantworten, ob denn wirklich jedes Werkzeug – z.B. der Hammer – auch ein Medium ist. Und es spricht einiges dafür, dass Medien zweitens Formen bildende Möglichkeiten sind; folgt jedoch aus Luhmanns Definition, dass einfach jede Formen bildende Möglichkeit – z.B. der nasse Sand – ein Medium ist? Wenn man drittens den Phänomenologen zugesteht, dass jedes Medium sich durch Transparenz auszeichnet, ist dann umgekehrt auch jede Transparenz – z.B. die Fensterscheibe – ein Medium?
In allen drei Fällen werden notwendige, aber, wie Wiesing (2005: 154) feststellt, eben nicht hinreichende Eigenschaften von Medien angegeben. Man begnügt sich mit der Feststellung des genus proximum, also der Gattungszugehörigkeit. Aber da die Suche nach einer differentia specifica ausbleibt, mit der sich Medien von anderen Elementen derselben Gattung differenzieren lassen, kommt es zu jener monierten Entgrenzung des Medienbegriffs. Wiesing stellt sich nun genau die Aufgabe, eine solche differentia specifica anzugeben. Mit anderen Worten, er sucht jenes hinreichende Kriterium, dank dem sich Medien von Phänomenen mit denselben notwendigen Eigenschaften abgrenzen lassen.
Wiesings (2005: 154) Vorschlag für eine Definition, welche Medien von anderen Werkzeugen unterscheidet, lautet nun: „Medien sind die Werkzeuge, welche die Trennung von Genesis und Geltung ermöglichen“. Ganz allgemein wird hierbei unter der Genesis ein physikalisch beschreibbarer „Herstellungs- oder Entstehungsvorgang“ (Wiesing 2005: 155) verstanden. Mit solchen physikalischen Mitteln kann nun etwas generiert werden, das selbst wiederum überhaupt keine physikalisch beschreibbaren Eigenschaften besitzt. Nach Wiesing handelt es sich in solchen Fällen, in denen kein physikalischer Gegenstand, sondern eine Geltung hervorgebracht wird, immer um Medien.
Alles, was Geltungen von Tatsachen in Raum und Zeit unterscheidet, lässt sich mit „Physiklosigkeit“ (Wiesing 2005: 155) auf den Punkt bringen: Die Gegenstände, die auf einem Bild, in einem Roman, einem Film oder einer mathematischen Rechnung auftauchen, lassen sich weder wiegen noch messen und ebenso wenig verändern oder zerstören. Aufgrund einer solchen physiklosen Geltung können unterschiedliche Menschen an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten überhaupt erst einmal dasselbe erfahren und meinen – und darüber dann natürlich auch verschiedener Meinung sein.
Die Geltung hängt also nicht einfach in der Luft: Es bedarf einer technischen Apparatur, damit Menschen in unterschiedlichen Ländern sich auf der Leinwand denselben Film ansehen können. Aber sie sehen eben alle denselben Film, so wie in zahllosen Büchern ein und derselbe Roman gelesen, auf zahllosen Computermonitoren dieselbe Homepage angesehen und mit zahllosen CDs dieselbe Musik angehört werden kann (Wiesing 2005: 159). Das eigentliche Medienobjekt ist eine Geltung oder, wie es auch heißt, eine „artifizielle Selbigkeit“, während der Medienträger sich dementsprechend als ein „Mittel zur Herstellung von artifizieller Selbigkeit“ (Wiesing 2005: 157) charakterisieren lässt. Darum ist die Genesis zwar begrifflich von der Geltung zu unterscheiden, aber damit meint Wiesing nicht, dass beide auch real voneinander isoliert werden können. Medien bestehen prinzipiell erstens aus einer physikalischen Genesis, die vom Medienträger geleistet wird, und zweitens aus einer nicht-physikalischen Geltung, dem eigentlichen Medienobjekt.
Nur solche Werkzeuge sind nach Wiesing also Medien, die eine begriffliche Unterscheidung von Genesis und Geltung möglich und notwendig machen, und nur solche Transparenzen sind Medien, welche unthematisch bleiben, damit nichts weiter als eine artifizielle Selbigkeit wahrgenommen werden kann. Aus diesem Grund ist mein Leib kein Medium und ebenso wenig das Licht, meine Brille, das Mikroskop oder das Teleskop. Denn es handelt sich hierbei zwar um Transparenzen, aber was sie uns wahrnehmen lassen, sind eben physikalische Dinge. Medien sind hingegen ausschließlich solche Transparenzen, welche die Gesetze der Physik außer Kraft setzen. Was wir durch sie – und nur durch sie – wahrnehmen, „sind autonome Dinge, die der physikalischen Wirklichkeit perfekt entrückt sind; die nicht Teil der Welt sind“ (Wiesing 2005: 161). Das Bildobjekt „ist nichts anderes als die sichtbare Geltung eines Bildes“ (Wiesing 2005: 161), so wie die Musik, die eine CD abspielt, die hörbare Geltung dieser CD ist.
Im Anschluss an diesen Definitionsvorschlag für den Medienbegriff gibt Wiesing seinen Überlegungen eine kulturanthropologische Wendung: Ohne die Medien, so heißt es, wäre der Mensch selbst nur ein Teil der physikalischen Welt. Erst sie stellen die Bedingungen für den Bereich der Kultur bereit, indem sie Geltungen erschaffen und damit einen Sprung aus der Physik ermöglichen. So ist für Wiesing (2005: 162) etwa ein Fotoapparat eine „Sichtbarkeitsisoliermaschine“, insofern er die Sichtbarkeit einer Sache von all ihren physikalischen Eigenschaften isoliert und sie auf diesem Wege in eine artifizielle Selbigkeit – in ein Bildobjekt – verwandelt: „Genau dies, das Denken und das Wahrnehmen-Können von physikalischen Unmöglichkeiten ist nur mit Medien möglich; sie sind das einzige Physikentmachtungsmittel des Menschen“ (Wiesing 2005: 162). Während der Medienträger einerseits zwar ein Physikentmachtungsmittel ist, andererseits aber trotzdem ein physikalisch beschreibbarer Gegenstand bleibt, zeichnet sich das von ihm generierte Medienobjekt nach Wiesing ganz und gar durch Physiklosigkeit aus. Das Unterscheidungskriterium, mit dem sich das eigentliche Medienobjekt von dem Medienträger und allen anderen realen Dingen abgrenzen lässt, ist also die Physiklosigkeit.
An Präzision und Klarheit ist Wiesings Gedankengang wohl kaum zu übertreffen. Die Frage stellt sich allerdings, ob er bei aller stringenten Begriffsanalyse auch wirklich den Phänomenen gerecht wird, wie sie in der medialen Erfahrung selbst zur Gegebenheit kommen. Eine phänomenologische Untersuchung im strengen Sinn dürfte jedenfalls ausschließlich solche Qualitäten berücksichtigen, die sich auch wirklich in der medialen Erfahrung selbst aufweisen lassen. Trifft dies aber auf Qualitäten wie ‚physikalisch‘ und ‚nicht-physikalisch‘ zu?
Edmund Husserl, der Gründervater der phänomenologischen Bewegung, würde das verneinen. Denn das Kriterium physikalischer Beschreibbarkeit stammt nicht aus der natürlichen Einstellung der Lebenswelt und noch viel weniger kommt es für die phänomenologische Einstellung in Frage. Vielmehr bringt jene Differenz zwischen ‚physikalisch‘ und ‚physiklos‘, wie Husserl sagen würde, eine naturalistische Einstellung ins Spiel, welche Erfahrungen nicht phänomenologisch beschreibt, sondern wissenschaftlich erklärt (vgl. Husserl 1952: 183). Es kann also mit einigem Recht bezweifelt werden, ob die Physiklosigkeit, mit der bei Wiesing alles steht und fällt, überhaupt auf dem Wege einer phänomenologischen Analyse gewonnen und als ein hinreichendes Kriterium für den Medienbegriff in Stellung gebracht werden kann.