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Grundlagen, Normen und Formen biblischer Reflexion

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Die biblische EthikEthik steht im Verruf, eine reine Gebotsethik zu sein. Imperativische Formulierungen („Du sollst/sollst nicht …!“) finden sich durchaus nicht nur in den Zehn Geboten (Ex 20Ex20) oder bei den Propheten (Mi 6,8Mi6,8), sondern auch im Neuen Testament (z.B. Röm 12,12–21Röm12,12–21), ja selbst die Liebesforderung wird als Doppelgebot der LiebeLiebe (Mk 12,28–34Mk12,28–34 mit Dtn 6,4fDtn6,4f und Lev 19,18Lev19,18) bezeichnet. Ethisch betrachtet wird hier der Wille Gottes als die oberste Norm angesehen, aus der heraus das menschliche Handeln begründet und damit auch geboten wird. Nicht selten wird dabei das Verhalten Gottes als Grund und Voraussetzung für das Verhalten des Menschen angegeben: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36Lk6,36). Entsprechend können nach dem Vorbild Gottes oder Christi Liebe, Vergebung, Langmut und Sanftmut etc. unter Menschen ermöglicht und auch gefordert werden. Man kann dann genauer von einer Nachahmungsethik oder einer mimetischen Ethik sprechen.

Ohne die fundamentale Bedeutung dieser im engeren Sinn theologisch begründeten EthikEthik bestreiten zu müssen, zeigt doch ein genauerer Blick, dass ethische Formulierungen keineswegs immer direkt auf Gott verweisen, sondern auch durch spezifische Normen (z.B. Mitleid, Einmütigkeit 1 Petr 3,81Petr3,8) oder ein konkretes Handlungsziel (z.B. damit die Gemeinde aufgebaut wird, 1 Kor 14,51Kor14,5) begründet werden. Ebenso wenig erfolgt der Begründungsweg nur als Ableitung oder Nachahmung. Stattdessen zeichnet sich die biblische Ethik sowohl in formaler als auch materialer Hinsicht durch eine VielfaltVielfalt und Fülle von Normen und Reflexionsweisen aus: In der so genannten „Goldenen Regel“ (Mt 7,12Mt7,12: „Alles nun, was immer ihr wollt, dass euch die Menschen tun, tut so auch ihnen“) wird ein formales Prinzip gegeben, das zwar inhaltlich erst gefüllt werden muss, aber gerade so und in seiner positiven und allgemeingültigen Formulierung je und je neu handlungsleitend sein kann.

Ein biblischer Leittext der DiakonieDiakonie, das Gleichnis vom barmherzigen SamariterSamaritaner, Samariter (Lk 10,30–37Lk10,30–37), ist eine erfundene Miniaturerzählung, mit der Jesus inmitten eines Dialogs über Gebote bewusst ins Medium des Narrativen wechselt. Durch die handelnden Figuren einer Geschichte wird ein dichte Lebenssituation vor Augen geführt, in der die Zuhörenden bzw. Lesenden die Chancen, aber auch Ambivalenzen des Handelns nicht nur kognitiv, sondern auch emotional wahrnehmen, und sogar durch das, was nicht erzählt wird (warum hilft der Priester eigentlich nicht?), in einen Prozess der eigenen ethischen Urteilsbildung hineingezogen werden. Man spricht hier von einer „narrativen EthikEthik“, die für biblische Texte charakteristisch ist. Ebenso wird die Kraft der Sprache durch starke Bilder (1 Kor 121Kor12 Gemeinde als Körper, d.h. metaphorischeMetapher, metaphorisch Ethik ↗︎ MetapherMetapher, metaphorisch) oder durch Psalmen und Hymnen (z.B. Psalm 139Ps139 oder das sog. Magnifikat in Lk 1,46–55Lk1,46–55, d.h. eine „doxologische Ethik“) für das ethische Nachdenken nutzbar gemacht.

Einige Normen können bereits in den biblischen Sprachen als in Begriffen verdichtete Knotenpunkte in Erscheinung treten, wie z.B. Gemeinschaftstreue, GerechtigkeitGerechtigkeit, Barmherzigkeit oder LiebeLiebe. Andere wie die Solidarität mit den Armen und Leidenden oder der Verzicht auf Status und Privilegien (z.B. Verzicht auf Freiheit oder Fleischgenuss nach 1 Kor 8–101Kor8–10) können wir eher aus dem größeren Zusammenhang herausarbeiten und sie mit heutigen Begriffen beschreiben.

Auch wenn die Wahrnehmung und FürsorgeFürsorge jedes einzelnen Menschen in seiner individuellen Not (Jes 43,1Jes43,1; Mt 10,30Mt10,30) betont werden, bleibt die biblische EthikEthik doch grundsätzlich eine Sozialethik. Im Alten Testament steht die GemeinschaftGemeinschaft des Volkes Israel im Vordergrund. Im Neuen Testament sind Jüngerschaft und Gemeinde z.B. als teilende, helfende und achtsame Gemeinschaft (Apg 4,32–35Apg4,32–35; 6,1–7Apg6,1–7; Mt 18,10–20Mt18,10–20) die primäre Bezugsgröße, so dass sogar die Bedürfnisse und Überzeugungen des Einzelnen der Gemeinschaft untergeordnet werden können (z.B. 1 Kor 8,11Kor8,1; 14,51Kor14,5).

Die Unverfügbarkeit und der Schutz des Lebens, auch in seiner körperlichen Dimension, sind durchgehend erkennbare Normen (Dtn 6,24Dtn6,24; Joh 10,10Joh10,10). Allerdings ist sich die biblische EthikEthik auch der Endlichkeit und Verletzlichkeit dieses Lebens bewusst. Indem das Leben an Gott und die GemeinschaftGemeinschaft zurückgebunden und in seiner Begrenzung und Sterblichkeit bejaht wird (Ps 103,14–16Ps103,14–16), kann es bei einer biblisch begründeten Ethik nie nur um die Verlängerung der physischen Existenz eines einzelnen Menschenlebens gehen. Vielmehr können Menschen in LiebeLiebe ihr Leben für andere geben (Joh 15,13Joh15,13), können es paradoxerweise in der Hingabe für andere gewinnen (Mk 8,35Mk8,35; Joh 12,25Joh12,25), so dass ein Leben „mit Ewigkeitswert“ erkennbar wird, das über das Individuum und sogar über den TodTod hinaus reicht (Joh 11,25Joh11,25; Röm 14,8Röm14,8; Phil 1,21Phil1,21).

Die EthikEthik der Bibel beschreibt nicht nur, was ist, sondern auch, was sein könnte und sollte. Prophetische Verheißungen, Gleichnisse oder Visionen (z.B. Mt 25Mt25; Apk 21Apk21) entwerfen Bilder einer kontrafaktischen anderen Welt, die aber gerade so auch zur Inspiration und Stimulation des Handelns in der Gegenwart werden können.

Biblisches Arbeitsbuch für Soziale Arbeit und Diakonie

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