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b) Historische Semantiken sprachlicher und kultureller Identität

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Der Geschichte des Kulturbegriffs ist von Beginn an eine Semantik der Gruppenidentität eingeschrieben. Die Wirkmächtigkeit von Unterscheidungen wie Hellenen/Barbaren, Christen/Heiden und Menschen/Unmenschen legt davon Zeugnis ab. Von Beginn an dienen dabei auch sprachliche Merkmale zur Identifikation von Gruppenzugehörigkeit. So besagt eine in der Antike und nachmals populäre Semantik des Begriffs ›Solözismus‹, er beziehe sich ursprünglich auf das durch Sprachmischung unsauber gewordene Griechisch der Anhänger des Solon im kilikischen Soloi (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 960) – so dass der Solözismus als Fehler gilt, an dem man zumindest die Abschwächung der kulturellen Zugehörigkeit ablesen kann. Eine prominentere Parallelgeschichte hierzu findet sich im Buch der Richter (12, 5f.), das von der Ermordung der Ephraimiter erzählt, die man daran erkannte, dass sie das Wort ›Schibboleth‹ nur als ›Sibboleth‹ aussprechen konnten – wobei beide Varianten eigentlich als phonematisch identisch gelten (siehe DerridaDerrida, Jacques, Schibboleth, 59). Als ›Schibboleth‹ gilt noch heute jede lautliche Markierung kultureller Differenz.

Historisch betrachtet sind sehr unterschiedliche Kopplungen sprachlicher und kultu­reller Identitätsbildung zu beobachten. So ist es keineswegs zwingend, bereits dem antiken Griechenland die Konzeption von Sprache als Idiom, also als abgrenzbarer Einheit, zu unterstellen, so dass ein ›Solözismus‹ durchaus nicht notwendig kulturelle Fremdheit signa­lisiert, sondern eher eine territoriale Zugehörigkeit markiert. Dementsprechend offen zeigt sich AristotelesAristoteles für Abweichungen vom herrschenden Sprachgebrauch. ›Fremde‹, d.h., aus anderen dialektalen Zusammenhängen stammende Wörter, γλῶττα, werden analog zu Metaphern als Ergebnisse eines Übertragungsvorgangs angesehen (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 303–308).

Demgegenüber verleiht die Zweisprachigkeit des antiken Rom, die lange vor der Zeitenwende u.a. das Bedürfnis erzeugt, das Lateinische als Kultursprache aufzuwerten, der Kategorie der Sprachrichtigkeit eine neue Dimension (KrausKraus, Manfred, »Sprachrichtigkeit«, 1121). Anders als in der griechischen Antike kommt es daher spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus zu einer Kodifizierung und Fixierung der Sprache (LeonhardtLeonhardt, Jürgen, Latein, 61–74) – und zugleich zu einem genaueren Bewusstsein für die Fremdheit anderer Idiome. Vergleicht bereits AristotelesAristoteles den Umgang mit Wörtern aus der Fremde mit Prozessen der Einbürgerung, so wird diese Metaphorik von Marcus Fabius QuintilianQuintilian, Marcus Fabius ausgebaut, der wörtlich von migrierenden Wörtern, verba peregrina, spricht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 307f., 317–322). Im Detail wird nun diskutiert, wie fremde Wörter zu flektieren seien und inwiefern beispielsweise im Interesse der metrischen Form Verstöße gegen die Sprachrichtigkeit, die latinitas, gerechtfertigt sein können. QuintilianQuintilian, Marcus Fabius, dessen Institutio Oratoria wirkmächtig die Vergleichbarkeit von (immer ›verfremdenden‹) rhetorischen Figuren und grammatischen Fehlern herausstellt (und im selben Atemzug durch die strikte Trennung von Rhetorik und Grammatik wieder zu kassieren sucht), bemüht sich ausführlich um eine Klassifizierung der Barbarismen, die sich im Übrigen als identisch erweist mit derjenigen, die er für Figuren der Rede vorsieht (StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 313–316). Die Problematik der Unterscheidung von Figur und Fehler lässt so den Status des sprachlich Fremden selbst unsicher werden: die gute Rede ist auf fremde Strukturen angewiesen, obwohl diese zugleich die Einheit des Idioms gefährden.

Die christliche Aneignung des Lateinischen (und seiner Schrifttradition) in der Spätantike und im Mittelalter schreibt zwar einerseits die Semantik der latinitas und der Barbarismen fort, zeigt aber andererseits eine gewisse Toleranz gegenüber abweichenden Sprachformen im Lateinischen. Dies hängt u.a. damit zusammen, dass schon AugustinusAugustinus von Hippo die perspicuitas, also die Transparenz des sprachlichen Ausdrucks, vor allem auf die sprachunabhängige Botschaft des Glaubens hin, höher wertet als seine puritas, also die Reinheit (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 970). In der hierin zum Ausdruck kommenden Sprachtheorie mag der Grund dafür liegen, dass im Mittelalter das Interesse an einer Systematisierung sprachlicher Fehler und Abweichungen gegenüber der römischen Antike stark abnimmt – eine Tendenz, die sich in der Neuzeit weiter fortsetzt (ReisiglReisigl, Martin, »Solözismus«, 974). Gleichwohl ist das Lateinische als Sprache des Glaubens entscheidender Identifikationsfaktor des mittelalterlichen Abendlandes, und der Erhalt der Sprache in ihrer standardisierten Form (etwa durch die karolingischeKarl der Große Bildungsreform) oder ihre Weiterentwicklung im Sinne der christlichen Theologie (etwa durch die Scholastik) hat auch die Funktion, kulturelle Einheitlichkeit zu gewährleisten.

Ein neuer Impetus zur Befestigung sprachlich-kultureller Grenzziehungen ist ab dem Spätmittelalter festzustellen, und zwar sowohl mit Blick auf das Lateinische als auch mit Blick auf die Volkssprachen, deren Emanzipation ja – schon nach dem Programm ihres Vordenkers Dante AlighieriDante Alighieri – in erster Linie Standardisierung zum Ziel hat. Die durch den Humanismus, etwa durch Lorenzo VallaValla, Lorenzo und Erasmus von RotterdamErasmus von Rotterdam, propagierte Rückbindung des Lateinischen an die antiken Vorbilder ist dabei nicht nur als sprachliche, sondern auch als kulturelle Reinigung aufzufassen. Sie umfasst weniger die im engeren Sinne grammatische, als vielmehr die idiomatische Seite der Sprache und steht letztlich im Zeichen einer abendländischen Identitätspolitik, die sich aus dem fremd gewordenen Ursprung in der Antike speist.

Im Zuge der Standardisierung der Volkssprachen kommt es insbesondere zu einer Systematisierung der Begrifflichkeit, mit der unterschiedliche Idiome kategorisiert werden können. Genauer verfestigt sich die Differenz zwischen Sprachen und Dialekten, wobei den Dialekten all jene Eigenschaften der Volkssprachen zugerechnet werden, die die Heiligen Sprachen überwunden hatten: Dialekte gelten als tendenziell regellos, schwer fixierbar, kontinuierlich ineinander übergehend. Zunehmend national definierte (Standard-)Sprachen hingegen können eine Grenze für sich beanspruchen, die sie von anderen nationalen Sprachen unterscheidet. Sprachen gelten als zählbar, Dialekte als zahllos, aber immerhin einer (und zwar genau einer) Sprache zugehörig, in der sie aufgehoben sind (vgl. BonfiglioBonfiglio, Thomas Paul, Mother Tongues and Nations, 63–121). Die klare Differenzierung zwischen Sprache und Dialekt ist klar kulturpolitisch motiviert: Spracheinheit ist nur denkbar, wenn die dialektale Entgrenzung eingehegt wird.

Als Folge der Kolonialisierungspolitik vieler europäischer Staaten steigt im 18. und 19. Jahrhundert die Zahl der in Europa bekannten Sprachen und es ergeben sich identitätspolitisch folgenreiche weitere Differenzierungen: zum einen zwischen den europäischen Kultursprachen und den angeblich ›ursprünglicheren‹ Sprachen vieler kolonisierter Völker; zum anderen zwischen unterschiedlichen Formen des Standardisierungsdrucks. Ist es für die europäischen Volkssprachen entscheidend, die interne dialektale Zerstreuung zu überwinden, so müssen die Sprachen beispielsweise der neuen Welt erst passfertig gemacht werden, um mit den Mitteln der europäischen, grundsätzlich an das Lateinische angelehnten Grammatik kontrolliert werden zu können. Die Erforschung der indoeuropäischen Sprachverwandtschaft im 19. Jahrhundert gibt der europäischen Kulturpolitik nicht nur Gelegenheit, sich als ganze gegen die Sprachen der Welt zu profilieren, sondern stimuliert auch einen internen Wettbewerb mit Blick auf die Nähe der jeweiligen Nationalsprachen zu den hypothetischen Ursprüngen des Indoeuropäischen. In diesem Sinne ist beispielsweise Jacob GrimmGrimm, Jacobs Deutsche Grammatik (1819–1840) geschrieben. Insgesamt herrscht im 19. und 20. Jahrhundert in Europa klar die Tendenz vor, die Einheit der Standardsprachen an die Einheit von Nation und Kultur zu binden und zugleich (siehe I.1) als Natur auszugeben.

Die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts findet mit der de SaussureSaussure, Ferdinand de’schen Differenzierung zwischen langue und parole die Möglichkeit, Spracheinheiten systematisch zu isolieren und als voneinander zu unterscheidende, in sich geschlossene Regelsysteme zu denken, die es jeweils ermöglichen, potentiell unendlich viele unterschiedliche grammatisch korrekte Sätze zu generieren. Zahllose Arbeiten der synchronen Sprachwissenschaft haben sich der Beschreibung der so greifbar gemachten langues der Welt gewidmet und damit indirekt auch sprachliche Identitätspolitik betrieben. Auch hier spielen Zusammenhänge mit den Prozessen der Kolonialisierung und der Dekolonialisierung eine gewichtige Rolle. Die nicht zuletzt linguistisch begründete Macht über Sprache(n) ist Werkzeug sowohl kolonialer Herrschaft als auch der Befreiung und der Re-Etablierung neuer Herrschaftsformen (vgl. MakoniMakoni, Sinfree/PennycookPennycook, Alastair, »Disinventing and (Re)Constituting Languages«).

Die Engführung sprachlicher, kultureller und nationaler Identität entfaltet in der Neuzeit eine so große Wirkmächtigkeit, dass sie in der Forschung nicht ganz zu Unrecht als »monolingual paradigm« (YildizYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue, 2) bezeichnet worden ist. Dennoch stellt sie nicht die einzige Form der sprachlichen und kulturellen Identitätspolitik in Europa dar. In der Sprachursprungstheorie HerderHerder, Johann Gottfrieds, die mit der Beschreibung eines sprachlich-kulturellen Identifikationsmechanismus’ einsetzt, werden Argumente artikuliert, die Zweifel an der Zählbarkeit, also an der Identifizierbarkeit aller Arten von Idiomen ins Spiel bringen. Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm vons sprachhistorisches Werk verweigert sich ebenfalls weitgehend der vorherrschenden Tendenz, aus Beschreibungen des Baus unterschiedlicher Sprachen weiter reichende kulturpolitische Wertungen abzuleiten, ähnlich später die Arbeiten Hugo SchuchardtSchuchardt, Hugos (vgl. TrabantTrabant, Jürgen, Europäisches Sprachdenken, 260–269; StockhammerStockhammer, Robert, Grammatik, 344–348). Die durch Graziadio I. AscoliAscoli, Graziadio I. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begründete Substratlinguistik erklärt die Differenz zwischen den unterschiedlichen Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie durch Migration und die darauf folgende Verschmelzung indoeuropäischer mit anderen, heute nicht mehr existierenden Sprachen. Gegen die Vorstellung der zeitgenössischen indoeuropäischen Sprachforschung, welche die unterschiedliche Entwicklung der einzelnen Sprachen als organische Fortentwicklung versteht, behauptet AscoliAscoli, Graziadio I. so die grundlegende Hybridität dieser Sprachen (ArensArens, Hans, Sprachwissenschaft, 369f., 473f.). Ähnliche Argumente lassen sich aus den Ergebnissen der späteren linguistischen Kreolforschung ableiten.

In der spätestens um 1900 sich etablierenden Disziplin der Ethnologie artikulieren sich Zweifel an den Voraussetzungen des Einsprachigkeitsparadigmas in erster Linie als Beobachtungsprobleme. Die Annahme, dass kulturelle und sprachliche Prägungen determinieren, was wir als bedeutsam wahrnehmen, führt in Verbindung mit der Vorstellung, es gebe sprachliche und kulturelle Grenzen, zu der generelleren Frage, wie sich andere Kulturen überhaupt beschreiben lassen. Bronislaw MalinowskiMalinowski, Bronislaws Forderung nach ›teilneh­mender Beobachtung‹ hat dieses Problem, das sich ohnedies für jeden hermeneutischen Prozess stellt, allenfalls verschoben. Diese hermeneutische Dimension der ethnologischen Diskussion ist schließlich zum Anlass geworden, das ethnologische Beschreibungsinteresse selbst zu dekonstruieren. Dies geschieht beispielsweise in Edward SaidSaid, Edwards Analysen des Phänomens ›Orientalismus‹ (Said, Orientalism). Die sich damit andeutende ›Identitätsfalle‹, dass es kein Entkommen aus der Eingrenzung in das ›Eigene‹ gibt, man ihm aber entkommen muss, um dem ›Anderen‹ gerecht zu werden, prägt bis heute viele Debatten um kulturelle Identität.

Literatur und Mehrsprachigkeit

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