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c) Systematische Überlegungen

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Ist die Geschichte des Identitätsbegriffs weitgehend dadurch geprägt, dass man unterschiedliche Bezugsbereiche gleichermaßen durch ihn zu erfassen und miteinander in Verbindung zu setzen versucht, so gilt es in systematischer Hinsicht zunächst zu differenzieren. Denn Identität bedeutet mit Blick auf Bewusstsein, Sprache, Kultur, soziale Systeme und Gruppen jeweils etwas anderes.

Die wissenschaftliche Verwendung des Identitätsbegriffs leitet sich aus der Psychologie her, er bezieht sich also ursprünglich auf Prozesse der Subjektkonstitution, wurde aber dann schnell auch auf Gruppendifferenzierung übertragen. Für die Erforschung literarischer Mehrsprachigkeit können beide Aspekte fruchtbar gemacht werden, wenn sie auf die soziale Einbettung von Autoren bezogen werden. Wichtiger ist aber zunächst die Frage, wie sprachliche und kulturelle Identität überhaupt zu beschreiben sind. Mit Blick auf Kultur ist vielfach davon die Rede, Identität sei immer nur ›konstruiert‹, also keinesfalls naturgegeben. Ähnliches gilt auch für Sprache, insbesondere für Standardsprachen, die das Ergebnis hochgradiger Normierungsbemühungen sind.

Von translationswissenschaftlicher Seite ist darauf hingewiesen worden, dass die Identität von Sprachen nur konstituiert werden kann, wenn mindestens zwei einander ko-figurative, d.h., ineinander übersetzbare Sprachen angenommen werden (vgl. SakaiSakai, Naoki, »How Do We Count a Language?«). Der linguistische Begriff der langue bezeichnet gerade dieses Moment der Ko-Figuralität. Entscheidendes Instrument der systematischen Schließung von Idiomen ist dabei wiederum die Identifizierung von Sprachrichtigkeit bzw. von Fehlern, deren Unterscheidbarkeit von rhetorischen Figuren allerdings von jeher in Frage steht (siehe hierzu auch MartynMartyn, David, »› ‹«). Gegen das Konzept der langue lassen sich auch auf anderen Ebenen Einwände vorbringen. So hat die Soziolinguistik, die sich für die soziale und kulturelle Einbettung der Sprachverwendung interessiert, darauf hingewiesen, dass auch viele Formen der ›schwachen‹ Regelhaftigkeit im Bereich der nicht-funktionalen Sprachgestaltung existieren, und für ihre Beschreibung einen weicheren Normbegriff vorgeschlagen (CoșeriuCoșeriu, Eugenio, Einführung, 293–302). Die Forschung zur Mehrsprachigkeit interessiert sich nicht mehr nur für den Wechsel, den mehrsprachige Sprecher zwischen unterschiedlichen, jeweils als langue zu beschreibenden Idiomen vollziehen (das sog. Code-Switching), sondern beschreibt mit dem »translanguaging« eine Form der Sprachverwendung, die eine klare Zuordnung zu unterschiedlichen langues unterläuft (vgl. GarcíaGarcía, Ofelia, »Education, Multilingualism and Translanguaging«). Von literaturwissenschaftlicher Seite ist vorgeschlagen worden, die (immer in unterschiedlichen Graden gegebene) Zuordenbarkeit sprachlicher Elemente und Strukturen zu einer langue mit dem Begriff »Sprachigkeit« zu bezeichnen (ArndtArndt, Susan/NaguschewskiNaguschewski, Dirk/StockhammerStockhammer, Robert, »Einleitung«, 26). Für den über die langue hinausgehenden strukturellen Überschuss der Sprachverwendung, also der parole im Sinne de SaussureSaussure, Ferdinand des, ist der Begriff »remainder« ins Spiel gebracht worden (LecercleLecercle, Jean-Jacques, The Violence of Language, 103–143), der für die spezifisch literarische Sprachverwendung eine zentrale Rolle spielt. Daher sollte sich gerade die kulturpolitische Interpretation literarischer Mehrsprachigkeit stets genau Rechenschaft darüber ablegen, welche Konstitutionsebenen von sprachlicher Identität in den behandelten Texten eine Rolle spielen.

Zumindest in de SaussureSaussure, Ferdinand des ursprünglichen Entwürfen stellt die langue (ebenso wie die eng mit ihrer Konstitution verbundene Differenzierung in Synchronie und Diachronie) eine bewusste Reduktion von Komplexität dar. Auch der Beschreibung von Kulturen als Ergebnis von »Schismogenesis« oder ›Othering‹ liegt eine solche – wenn auch allzu oft unbewusste – Reduktion von Komplexität zugrunde. Das ändert zwar nichts daran, dass entsprechende Semantiken erhebliche historische und gesellschaftsstrukturelle Folgen gezeigt haben. Allerdings umfasst jede kulturelle Abgrenzung durch ›Othering‹ in Wirklichkeit nur einen sehr geringen Teil der kulturellen Kompetenz der Beteiligten: Im Extremfall des Schibboleth wird die richtige oder falsche Aussprache eines einzelnen Phonems zum Entscheidungskriterium, aus dem weitreichende Konsequenzen abgeleitet werden. Anders als solche Formationen wie die von Niklas LuhmannLuhmann, Niklas beschriebenen Funktionssysteme der Gesellschaft verfügen die sog. ›Kulturen‹ nicht über die Fähigkeit, mittels universal einsetzbarer Leitdifferenzen klare Grenzen aufrechtzuerhalten. Die kulturelle Identität Einzelner lässt sich systematisch nur als das Bündel ihrer Kompetenzen zur Identifizierung signifikanter Unterscheidungen fassen. Einzelne dieser Kompetenzen oder ganze Komplexe von Kompetenzen verbinden das einzelne Individuum mit vielen anderen Individuen. Daraus ergibt sich aber keine segmentäre Gesellschaftsdifferenzierung, wie sie das nationale Paradigma aus dem Kulturbegriff abzuleiten versucht.

Kulturelle ›Identitätspolitiken‹ sind immer mit Blick auf diejenigen kulturellen Kompetenzen zu beschreiben, die sie selektieren, und mit Blick auf die Signifikanz, die sie ihnen jeweils zumessen. Dies gilt für Individuen, deren Individualität sich nicht zuletzt durch die Selektion gesellschaftlicher Identitätsangebote konstituiert (siehe Parr, »Wie konzipiert«; LuhmannLuhmann, Niklas, »Individuum, Individualität, Individualismus«, 231–249), aber auch für Texte, die einerseits in Auseinandersetzung mit vorgängigen kulturellen Mustern Identität ausbilden, damit aber andererseits auch versuchen, selbst identitätspolitisch zu wirken. Dies muss für die kulturpolitische Analyse literarischer Mehrsprachigkeit beachtet und mit der potentiell identitätspolitischen Wertigkeit der im Text beschreibbaren Sprachdifferenzen in Verbindung gebracht werden, wenn die kulturpolitische ›Agency‹ der Werke beschrieben werden soll.

Literatur und Mehrsprachigkeit

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