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b) Historische Bestandsaufnahme

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Seit ungefähr 350 Jahren tendieren die politischen Eliten Westeuropas dazu, sich die Welt kartographisch als Ensemble aneinandergrenzender und einander nicht überlappender, je für sich einsprachiger Territorien vorzustellen. Man nimmt dann beispielsweise an, es gebe einen Teil auf der Weltkarte namens Frankreich, in welchem man als sprechendes Subjekt logischerweise und völlig selbstverständlich die französische Sprache nutzt. Diese wiederum sei eine universal einsetzbare und semantisch flächendeckende Sprache, in welcher der nüchterne und ausgereifte Sprecher alles Sag- und Denkbare erörtern könne. Natürlich gesteht dieses Modell Ausnahmen zu – ›translinguale‹ Texte und Menschen –, die je nach Bedarf berücksichtigt und flexibel kategorisiert werden können. Diese individuellen Sonderfälle – Diplomaten, Übersetzer, Exilanten, Dolmetscher, subnationale Minderheiten, Götter, Zugewanderte, Schizophrene oder Gebärdensprecher – werden aber dann immer an ihrer jeweiligen Distanz zur territorialen ›Sprachigkeit‹ gemessen und entsprechend markiert (DorostkarDorostkar, Niku, (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus). Mit dem britischen Sozialpsychologen Michael BilligBillig, Michael lässt sich also sagen, dass es erst in der Neuzeit zu einer Denknotwendigkeit geworden ist, davon auszugehen, man spreche etwas (BilligBillig, Michael, Banal Nationalism, 31). Im Rahmen der mehr oder weniger ›offiziellen‹ Ordnung von Sprachigkeit in der Gegenwart gilt daher, aller Rede vom »postmonolingualen Zustand« und von der Obsoletheit der Einsprachigkeitsideologie zum Trotz, weiterhin, dass die moderne Welt (Globalisierung, Interkulturalität, Kulturtransfer und Weltliteratur einbegriffen) zunächst aus parallelen, gleichwertigen und panfunktionalen Einsprachigkeiten besteht, die kollektiv, ordentlich und übersichtlich das globale Sprachsystem ausmachen. Mehrsprachigkeit gilt in diesem märchenhaften Denkmodell als absichtliche, strategische oder auch zufällige Erweiterung des natürlichen Zustands der Einsprachigkeit. Und literarische Mehrsprachigkeit sticht dann gleichsam aus ›unseren‹ einsprachigen Alltagsroutinen hervor als das edle Vermögen eines Joseph ConradConrad, Joseph, einer Christine Brooke-RoseBrooke-Rose, Christine oder einer Yoko TawadaTawada, Yoko, die allen Widrigkeiten zum Trotz die kreativen Ressourcen mehrerer Einzelsprachen ästhetisch auszuschöpfen verstehen. In beiden Fällen – im sozialen wie im literarischen – gilt die Mehrsprachigkeit letzten Endes als Sonderzustand, der aus der Vervielfachung der normativen Einsprachigkeit resultiert (PennycookPennycook, Alastair, Language as a Local Practice, 132).

Diese Beständigkeit der parallel territorialisierten und zählbaren Spracheinheiten – insofern sie denn existiert – musste allerdings in der westeuropäischen Frühmoderne erst mühsam, teilweise gewalttätig und unermüdlich vor- und dann vor allem hergestellt werden (vgl. MakoniMakoni, Sinfree/PennycookPennycook, Alastair, »Disinventing and Reconstituting Languages«). Trotz des enormen politischen Aufwands, der hierzu seit dem 17. Jahrhundert betrieben wurde, ist das erhabene kartographische Narrativ über ›die Weltsprachen‹ faktisch aber noch das Minderheitsparadigma auf einem Planeten, der nach wie vor eher durch komplexe ›mehr‹- und ›minder-‹sprachige Ökologien charakterisiert ist, die jedwede Herleitung aus der einen oder anderen Einsprachigkeit bockig zurückweisen – auf dem europäischen genauso wie dem afrikanischen Kontinent. Gerade den Mediävisten ist beispielsweise der für Literaturhistoriker der Moderne eher lästige Tatbestand schon lange bewusst, dass die disziplinär gepflegten europäischen ›Nationalliteraturen‹ einem mehrsprachigen und national indifferenten Zusammenhang entstammen. Im 13. Jahrhundert wurde eines der wichtigsten Werke der mittelalterlichen ›deutschen‹ Literatur, Der Wälsche Gast des Thomasîn von ZerclaereThomasîn von Zerclaere, von einem friaulischsprachigen Kleriker niedergeschrieben, der sich zu Beginn seines Textes für die Unzulänglichkeit seiner bairisch gefärbten mittelhochdeutschen Sprachkompetenz entschuldigt. Bis tief in die europäische Moderne haben (männliche) Wissenschaftler fast aller Disziplinen nicht in der sog. Nationalsprache, sondern auf Latein korrespondiert, und die frühmodernen Versuche eines Martin OpitzOpitz, Martin, die deutsche Sprache zu fördern, strebte eigentlich keine nationale Einsprachigkeit unter den Deutschen im spätmodernen Sinne an, sondern eine umfassendere Mehrsprachigkeit unter polyglotten Dichtern und Denkern (siehe z.B. KilchmannKilchmann, Esther, »Monolingualism, Heterolingualism, and Poetic Innovation«).

Eine solche ›unordentliche‹ Mehrsprachigkeit, die das hegemoniale Territorialprinzip der Spätmoderne unterminiert, war aber keinesfalls nur das luxuriöse Privileg europäischer Eliten. In den böhmischen Kronländern des 19. Jahrhunderts sahen sich viele mehrsprachige Dörfer dazu gezwungen, die Annährungsversuche urbaner Partisanen abzuwehren, die ihre Einwohner zur nationalistischen Einsprachigkeit der einen oder anderen politischen Partei bekehren wollten (JudsonJudson, Pieter, Guardians of the Nation). Im osmanischen Reich konnten die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung mit der Hofsprache und den Gesetztexten ›ihres‹ Staates gar nichts anfangen; und umgekehrt verfügten die osmanischsprachigen Repräsentanten des Hofs in den anatolischen Provinzen über eine stark eingeschränkte Sprachkompetenz auf Türkisch. Diese endemisch hierarchisierte Mehrsprachigkeit führte schon im 16. Jahrhundert zu der regimekritischen Schattentheatertradition ›Karagöz und Hacivat‹, die dann wiederum im ›postmonolingualen Zustand‹ des späten zwanzigsten Jahrhunderts zum sozialkritischen Zitatenschatz mehrsprachiger türkisch- und kurdischstämmiger Literaten in Deutschland werden konnte (YildizYildiz, Yasemin, Beyond the Mother Tongue). Jeweils auf unterschiedliche Weise verweisen solche Phänomene auf die transhistorische Normalität menschlicher Mehrsprachigkeit und auch darauf, dass die Durchsetzung staatsbürgerlicher Einsprachigkeit, wie sie sich besonders in hochzentralisierten Ländern wie den Staaten Westeuropas und den Vereinigten Staaten etabliert hat, eigentlich ein technisches Wunderwerk darstellt (SollorsSollors, Werner, Multilingual America; MillerMiller, Joshua L., Accented America).

Allerdings würde auch die Behauptung, die Einsprachigkeit sei ein modernes globales Ordnungsraster ohne historische Vorläufer, in die falsche Vorstellung münden, das mittelalterliche Europa habe eine translinguale Utopie verwirklicht, welche die unversöhnlichen und gewalttätigen politischen Sprachhierarchien der kolonialen und nationalstaatlichen Ordnung ab dem 18. Jahrhundert ganz und gar nicht gekannt habe. Gewiss haben Sprachdifferenzen auf Gruppenebene schon immer Gewalt erzeugt, spätestens seitdem die Ephraimiten 1200 v. Chr. den Jordan überkreuzen wollten (Richter 12: 5–6). Dass man sich an der Sprechpraxis anderer stört und sich das Missfallen an abweichenden Sprachpraxen zunutze macht, ist kein neuartiges Phänomen. Es ist daher gar nicht so einfach, die spezifisch modernen Mechanismen der Einsprachigkeit zu begreifen und von vormodernen Mechanismen abzugrenzen. Man muss sich dazu die Lebensgrundlage eines vormodernen Sprechers vor Augen führen, dem das Abstraktum ›Sprachigkeit‹ nicht zur Verfügung steht und der dementsprechend (a) sich in seinem Alltag nicht persönlich einer bestimmten Spracheinheit zugehörig fühlt, (b) nicht die Fähigkeit besitzt verschiedene ›Sprachen‹ zu unterscheiden, dessen Sprachpraxis (c) grammatischen oder orthographischen Schwankungen unterworfen ist und dem (d) das abstrakte, rational wohl entworfene Raster von Äußerungspotentialen einer systematischen Spracheinheit fehlt. Gerade die Herstellung eines persönlichen Bedürfnisses nach solchen Kompetenzen wurde aber zur tragenden Säule des Idioms der Kolonisierung im späten 16. Jahrhundert, als man damit begann, einheimische Sprecher in der neuen wie der alten Welt systematisch um ihre herkömmlichen sprachlichen Kompetenzen zu bringen und zu einsprachigen Sprechern zu erziehen (HankHanks, Williams, Converting Words; PrattPratt, Mary Louise, »›If English was Good Enough for JesusJesus…‹«).

Die Gegenwart mit ihren Literaturen und Literaturwissenschaften, ihren Sprachigkeiten und Sprachpolitiken hat also gewissermaßen einen gespenstischen Begleiter, ein einsprachiges Über-Ich, das den alltäglichen Erfahrungen, Repertoires, Referenzen und Praxen der mehrsprachigen Welt kaum Rechnung trägt, dessen Sprachethik aber gleichwohl auf Konzepte wie ›Zugänglichkeit‹, ›interkulturelle Verständigung‹, ›Übersetzbarkeit‹ und ›Gemeinsamkeit‹ abzielt. Es handelt sich dabei allerdings um die Tugenden einer utopischen Einsprachigkeit, die eigentlich einen Ausnahmefall der menschlichen Sprachgeschichte darstellt. In manchen politischen Zusammenhängen gelten diese Tugenden als schwer erkämpfter Fortschritt entwickelter Länder, die gegen Ungleichheit, Intoleranz und Unmündigkeit Posten stehen: Die Einsprachigkeit, so das entsprechende Argument, biete prophylaktische Transparenz besonders in Zuwanderungsgesellschaften, die es mit multikulturellen und ›superdiversen‹ Phänomenen zu tun haben (VertovecVertovec, Steven, »Superdiversity and its Implications«). Innerhalb dieses Paradigmas gelten (Welt-)Literatur und (Welt-)Literarizität dann als Garanten eines Ethos der gegenseitigen Verständigung, die der Versöhnungsbund der internationalen Übersetzer tagtäglich herzustellen bemüht ist.

Literatur ist seit SchillerSchiller, Friedrich und GoetheGoethe, Johann Wolfgang von – oder gar seit SophoklesSophokles – unter anderem ein Verfahren, die Bedeutungsentschlüsselung zu verlangsamen und von politischen Zwecken zu entbinden. Seit GilgameschGilgamesch und HomerHomer ist sie auch eine fremdsprachliche Gedächtnisstütze, die es uns erlaubt, Unerlebtes, Ungesehenes und linguistisch ohne die Hilfe des (mündlichen) Textes nicht Nachvollziehbares vor Augen zu halten. Fremdsprachlich bedeutet in diesem eher vormodernen, vornationalen Sinne dann die affektive oder phänomenale Evokation eines Bedeutungsschaffens, das nicht ›von hier‹ ist – ob dieses ›hier‹ nun ›unser Dorf‹, ›diesseits des Walds‹, im ›Hörbereich der Burg‹ oder noch etwas anderes meint. Ein fremdsprachlicher Text bringt insofern ein Sprechen mit sich, das einem Ort zugehört, zu dem man höchstwahrscheinlich nie körperlich Zugang haben wird. Dahingegen ist ein fremdsprachiger Text einer, der nachweisbar in einer fremden Sprache verfasst wurde, einer Sprache, die nicht die hiesige oder die unsrige ist. Wollte man diese Unterscheidung mit derjenigen zwischen Mehr-/Einsprachigkeit verbinden, so würde man dazu tendieren zu sagen, das Lesen eines fremdsprachlichen Textes wäre womöglich eine ›einsprachige‹ Situation, wohingegen das Lesen eines fremdsprachigen Textes eher eine ›mehrsprachige‹ Situation wäre.

Diese glückliche Unterscheidung bezieht aber moderne Begriffe auf eine Situation, in der das Wort ›Sprache‹ selbst in einem für uns im 21. Jahrhundert fremdsprachlichen Sinne verwendet wird. Eine vormoderne Sprachpraxis hat nicht ›eine Sprache‹ als ihr Sprechobjekt. Wenn ich in der Schweiz des 15. Jahrhunderts Wortgruppen und Satzfragmente äußerte, so ließe sich nicht induktiv sagen, dass ich ›Deutsch‹ oder ›Schwyzerdütsch‹ spräche. Ich würde ohne weiteres erwarten, von meinen Nachbarn verstanden zu werden, ohne dass ich die logische Voraussetzung machte, dass das auch im nächsten oder übernächsten Dorf gelingen wird. Würde ich gefragt, würde ich auf keinen Fall erwidern, dass ich – oder meine Freunde, meine Mutter oder mein Gott – ein linguistisches ›Etwas‹ spräche. Wenn Besuch vom übernächsten Dorf oder gar aus der Stadt käme, würde ich naturgemäß erwarten, sehr wenig von dem Gesagten zu verstehen. Weder würde ich das bereuen, noch auf meine mangelhafte Sprachkompetenz zurückführen, noch analytisch syntaktische oder semantische Schwierigkeiten diagnostizieren, denn ich nähme weder Wortklassenunterschiede noch Satzbau wahr. Wenn der Besucher einen ganzen oder mehrere Sätze ausspräche, die vollständig aus mir unbekannten Worten bestehen, würde ich seine ›Sprache‹ bzw. ›was er da sagt‹ nicht unmittelbar als ›fremdsprachig‹ einordnen. Fremdsprachlich wäre es mir schon, sobald es eine Bedeutung ausspräche, die es ›hier‹ nicht gibt oder geben kann. So sind die Grenzen zwischen Anders- und Einsprachigkeit, oder vielmehr zwischen Fort- und Hiersprachigkeit, kaum zu ziehen. In diesem vernakulären Zusammenhang wurden die Literatur, die Liturgie, die Literarizität und die Literalität – also alles, was Martianus CapellaCapella, Martianus ›litteratura‹ nannte – das Fremdsprachliche schlechthin. Erst mit dem Fall der Burgmauern und der langsamen Etablierung eines sich einer Nation zugehörig und zusammengehörig fühlenden Lesepublikums zwischen 1640 und 1780 wurde allmählich Sprachigkeit – und daher auch Fremdsprachigkeit – wahrnehmbar. Erst durch die allgemeine Konstitution der Sprachigkeit des deutschsprachigen Raums im Laufe des 17. Jahrhunderts war die einsprachige Literatur dazu in der Lage, sich gegenüber anderen erlebten Nationalsprachigkeiten zusammenzuschließen.

Literatur und Mehrsprachigkeit

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