Читать книгу Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik - Группа авторов - Страница 20
2. Staatliche (kollektive) und individuelle Mehrsprachigkeit
ОглавлениеNach Gardou (2013: 31) ist nichts stärker durch die Gemeinschaft geprägt als die Herausbildung der persönlichen Identität (↗ Art. 1)Identität. Aufs engste mit der Sozialisation verbunden sind Sprach- und erst recht Mehrsprachenerwerb (↗ Art. 51)Mehrsprachenerwerb, SprachenpflegeSprachenpflege und SprachenwachstumSprachenwachstum. Spracherwerb ist immer individuell, idiosynkratisch, dynamisch und sozial geprägt. Er setzt frei nach Chomsky neben einem Spracherwerbsapparat (language acquisition devicelanguage acquisition device, LAD) soziale Interaktion, ein social support systemsocial support system (LASS), zwischen einem Erwerber und weiteren beteiligten Personen voraus. Auch diese sind natürlich durch ihre jeweilige Sozialisation geprägt und Träger von Idiolekten. Die mentale Verarbeitung von Sprache ist nicht einseitig erwerbsfixiert: Sprachkompetenz kann sich auch zurückbilden (vgl. Attrition).
Wie die Lernpsychologie zwischen intentionalen und inzidentiellem Lernen trennt, so unterscheiden Erst- und Zweitsprachenerwerbsforschung unter dem Dachbegriff der Appropriation zwischen dem nicht initial intentionierten Erwerb (acquisition) und dem stärker institutionell unterstützten und/oder individuell intentionierten LernenLernen (apprentissage). Natürlich verfügen beide Akquisitionswege über gemeinsame Schnittmengen. Erwerben durch SprachkontaktSprachkontakt bzw. interkulturelle Kommunikationinterkulturelle Kommunikation ist prinzipiell in jedem Alter möglich, ob durch eine konkrete Erwerbsabsicht unterstützt oder nicht (Busch 2016).
In spracherwerbstheoretischer Sicht erscheint es sinnvoll, SprachkontaktsituationenSprachkontaktsituation danach zu taxieren, inwieweit sie ungesteuert oder unfokussiert, implizit und unbewusst ablaufen. Ein weiterer wichtiger Parameter ist der Grad an Freiwilligkeit bzw. Gezwungenheit, welcher als Ausgangspunkt für die Sprachkontaktsituation dient. Auch hier gibt es fließende Übergänge und die Möglichkeit des Gleitens von einem Modus in den anderen im Verlauf der Beschäftigung (Sprachnutzung, SprachenbewusstheitSprachenbewusstheit) mit Sprachen; und zwar in bivalenten Richtungen, etwa hin zu einer stärkeren Motiviertheit zugunsten des Erwerbs einer Sprache oder aber zu einer Ausbildung einer wachsenden Aversion. Die Kreolistik zeigt uns, dass gerade auch ‚verbotene Sprachen‘ oft recht leicht gelernt werden, weil die Existenz von Hürden und Hindernissen die MotivationMotivation zum Lernen anregen kann (Ehrhart 2012).
Insbesondere das oft versteckte sprachliche Potential der ArbeitsweltArbeitswelt (mit Machtstrukturen für die multinationalen Betriebe, welche denen von Staaten durchaus ähneln können) ist in letzter Zeit in den Fokus des Interesses gerückt (↗ Art. 24); nicht nur in den Sprach-, sondern auch den Wirtschaftswissenschaften (Barner-Rasmussen et al. 2014). Über eine sinnvolle Verwendung der Mehrsprachigkeit im Bereich der internationalen Forschung (Steyaert & Janssens 2012) sowie im Rahmen von europäischen oder internationalen Institutionen (Gazzola & Grin 2013) und in der Weltpolitik (Ricento 2015) wird ebenfalls diskutiert (↗ Art. 9).
Seit einigen Jahren wird auch immer mehr die Verbindung zwischen Migration bzw. Mobilität einerseits (Pellerin 2011) und dem Sprachwandel durch zunehmenden SprachkontaktSprachkontakt andererseits herausgestellt (Krefeld 2004; Stehl 2005; Garcίa 2009). Rezente Forschungen zum PostkolonialismusPostkolonialismus und den jüngsten Migrationsbewegungen zwischen dem Nahen Osten und Mittel- bzw. Westeuropa und deren Bezug zum sprachlichen Handeln führen diese Gedanken weiter (z.B. Kalocsányiová 2017). Die neuesten europäischen RichtlinienRichtlinien mit einer Erweiterung des weithin bekannten Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GeRGeR) des Europarats von 2001 unterstreichen die Notwendigkeit einer plurilingualen und plurikulturellen Kompetenz für die Bürger der Europäischen Union und darüber hinaus (Council of Europe 2018) (↗ Art. 18). Dieses neue und in seiner allgemeinen Ausrichtung nicht unumstrittene Dokument ersetzt die Zielvorstellung des native speakersnative speaker durch die mehrsprachige Person, welche mit den sprachlichen und kulturellen Verhaltensweisen eines Landes vertraut ist (North & Piccardo 2016: 47). All diese Entwicklungen in Richtung einer immer stärkeren Fluidität des Raumes und einer wachsenden Mobilität der Sprechergruppen müssen in aktuellen Studien berücksichtigt werden, sodass eine klare Unterscheidung zwischen territorialer (im Raum verankerter) und gesellschaftlicher (in den Sprechergemeinschaften verankerter) Mehrsprachigkeit immer weniger möglich sein wird. Die aktuelle Grenzraumdidaktik beschäftigt sich mit derlei Fragen. Dabei sollten die vielfältigen Gegenreaktionen mit einbezogen werden – so die erneute Verstärkung von nationalen Grenzen, welche in der jüngsten Vergangenheit zu beobachten ist.
Spolsky 2009 nennt die Bereiche, in welchen sich Sprachkontaktphänomene finden lassen, das sind die Familie im weiteren Sinn (family language policyfamily language policy), religiöse und kulturelle Vereinigungen, Arbeitsbeziehungen und Handel, der öffentliche Raum, das Gesundheitswesen und das Militär sowie die Verwaltung, die Forschung und das ErziehungswesenErziehungswesen auf allen Stufen. Die Diglossie bezeichnet mehrsprachige Situationen mit Sprachgruppen, welche über ein unterschiedliches politisches und gesellschaftliches Gewicht verfügen, auch hier sind oft keine klaren Abgrenzungen mehr festzustellen, die Übergänge sind eher fließend und aushandelbar.
Im Sinne der SprachökologieSprachökologie (Fill & Mühlhäusler 2001; Fill & Penz 2018) ist es nicht von Bedeutung, streng zwischen der individuellen Entstehung der allgemeinen Sprachfähigkeit und der spezifischen Ausbildung von Kenntnissen in einer oder mehreren Sprachen zu trennen. Jedes Inviduum entwickelt das sprachliche Repertoire, welches an seine Umgebung angepasst und dort auch stimmig ist; sei dies aus geografischer, sozialer, kultureller oder politischer Sicht. Es gibt kein SprachenrepertoireSprachenrepertoire, welches völlig einem anderen gleicht, es ist Folge individueller Lebenswege und bleibt ein Leben lang in Bewegung und in Kontakt mit den jeweiligen wechselnden Umwelten. Kein Mensch ist völlig einsprachig, er verfügt auf jeden Fall über verschiedene Register, diatopische, diastratische und diaphasische Varianten bzw. Soziolekte; gleichzeitig kann man auch die innere Mehrsprachigkeit einer jeden Sprache beobachten, die sich jeweils aus Elementen verschiedenster Herkunft zusammensetzt.
Sprache und NationSprache u. Nation sind seit dem Beginn der Sprachwissenschaft fast immer als untrennbares Paar aufgetreten (↗ Art. 10, 11). In den letzten Jahrzehnten wurde diese Verbindung immer stärker in Frage gestellt, zunächst durch die Soziolinguisten, welche auf die Bedeutung von VarietätenVarietäten hinwiesen, die keine Armee, keine Akademie oder kein Erziehungssystem als Stütze hinter sich hatten und welche zahlenmäßig oder auch nur symbolisch schwächer waren als die groβen, mit den NationalstaatenNationalstaaten identifizierten und von diesen geschützten Sprachen.
Neue kritische Anstöße kommen nun vor allem durch Autoren, die mit anderen Kulturkreisen und nicht nur dem europäisch-nordamerikanischen Raum in Verbindung stehen wie Pennycook und Otsuji (2015) oder Makoni und Pennycook (2007): sie dekonstruieren das Konzept von Sprache allgemein und sehen eher ein Mosaik an Äuβerungen, deren Verständlichkeit durch komplexe Austarierungsprozesse oder auch AkkomodationsprozesseAkkomodationsprozesse gewährleistet wird, bei denen sich alle Partner auf die anderen einstellen, es wird nicht nur einseitig ein Integrationswille verlangt. Diese Beobachtungen in Räumen mit intensivem SprachkontaktSprachkontakt werden im Rahmen der GlobalisierungGlobalisierung immer repräsentativer für die Gesamtheit der Kommunikationssituationen auf der Welt.
Ehrhart und Mühlhäusler oder Garcίa unterstreichen die Rolle von kleineren Sprechereinheiten als der Nation, den speech communities; gerade aufgrund ihrer persönlichen Migrationserfahrung sehen sie auch die Dynamik von Sprecherbiografien, sie zeigen durch ihre Forschungen ebenfalls, dass man sich auch zu mehreren Gemeinschaften (hintereinander oder auch gleichzeitig) zugehörig fühlen kann. Der monolinguale Habitusmonolingualer Habitus der deutschen Schule (nach Gogolin 1994) ist oft nur ein Ausblenden oder sogar ein bewusstes Verdecken der tatsächlich überall auf der Welt herrschenden sprachlichen Diversität. Es wird immer klarer, dass diese Vielfalt auch in Ländern existiert, die offiziell als einsprachig ausgewiesen werden (hier werden häufig Frankreich und Spanien genannt, für beide jedoch auch schon mit sehr unterschiedlichen SprachenpolitikSprachenpolitiken), nur ist sie da verdeckter als in z.B. Luxemburg oder in Kanada, welche einige (aber nicht alle) im Land gesprochenen Sprachen auf staatlicher Ebene ausweisen. Die Gleichung „Sprache entspricht Nation“ wird somit durch die innere Vielfalt der Länder aufgebrochen, und ebenfalls durch die Existenz von Ländern, welche sich eine gemeinsame Sprache oder Varietäten davon teilen. Fragestellungen dieser Art sind Inhalt der in ihrer Bedeutung stark anwachsenden Grenz(sprachen)didaktikGrenz(sprachen)didaktikGrenz(sprachen)didaktik (↗ Art. 101).
Andererseits ist Sprache nicht der einzige verbindende Faktor für politische und soziale Einheiten: die Arbeiten von Canagarajah und Wurr (2011) eröffnen über die erziehungspolitischen Aspekte der Sprachen hinaus neue Perspektiven. So zitieren sie Kubachdanis Beschreibung des vielsprachigen Indiens, in dem ein Gemeinschaftsgefühl nicht unbedingt durch eine gemeinsame Sprache entstehen muss, es kann sich vielmehr auch allein durch das gemeinsam bewohnte und bewirtschaftete Land entwickeln. Dies erinnert an die Veröffentlichungen von Hartmut Rosa (2007), der den in letzter Zeit sehr strapazierten Begriff der Heimat wissenschaftlich neutraler als „eine Umgebung, die ich mir anvertraut habe“ definiert.
Caroline Patzelt zeichnet ein eindrucksvolles Bild von “Sprachdynamiken in modernen Migrationsgesellschaften“ anhand ihrer Beschreibung der sehr mobilen Gesellschaft von Französisch-Guayana mit einer sprachlichen Vielfalt, welche „mit traditionellen soziolinguistischen Modellen nicht erklärbar scheint und die auch verschiedene MinderheitensprachenMinderheitensprachen mit oftmals geringer Anzahl an L1-Sprechern dauerhaft erhält, wie diese Vielsprachigkeit im Alltag einer multikulturellen und -lingualen Gesellschaft konkret funktioniert und inwiefern auch solch komplexe sprachliche border-Konstellationen möglicherweise einer gewissen Regelhaftigkeit bzw. Systematik unterliegen“ (2016: 3, ohne Fuβnoten). Sie weist darauf hin, dass in diesen fluiden Gesellschaften „Stabilität durch Mobilität“ (S. 177) erreicht werden kann.
Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass die traditionelle Aufteilung in plurilinguismeplurilinguisme als Mehrsprachigkeit des Individuums und multilinguismemultilinguisme als Mehrsprachigkeit auf territorialer, gesellschaftlicher oder kollektiver Ebene nicht mehr ausreicht. Auch die Erweiterung in den Einleitungskapiteln des Referenzrahmens von 2001, welcher MultilingualismusMultilingualismus als eine getrennte Behandlung von Sprachen dem Plurilingualismus und seiner holistischen Sicht einer Sprachenlandschaft mit unter sich vernetzten Sprachen entgegensetzt (die englische Sprache unterschied lange Zeit überhaupt nicht und verwendete für alle beide multilingualism), ist nicht mehr ausreichend (↗ Art. 18). Für Situationen mit ausgeprägtem SprachkontaktSprachkontakt und einer engen Verknüpfung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Bereich schlagen wir daher den Begriff multiplurilingue vor (Bes & Ehrhart, in Vorbereitung). Diese hochgradig mehrsprachigen Kontexte werden heute noch häufig als Ausnahmesituationen betrachtet, in der Gesellschaft der Zukunft werden sie jedoch die Regel sein.