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1.2. Diskurse der Mehrkulturalität

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Analog zu mehrsprachig benutzt dieses Handbuch mehrkulturellmehrkulturell – obwohl der Begriff im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs deutlich weniger gängig ist als interkulturell oder selbst transkulturell. Mehrkulturell ist auf Individuen, ihre konkret nennbaren Kulturen und deren Manifestationen bezogen, mit denen sie mehr oder weniger vertraut sind (↗ Art. 17). Zugleich betont die konkrete Perspektivierung die Wichtigkeit des exemplarischen Lernens. Denn es existieren unzählige, zu viele kulturelle Fremdheiten, als dass wir uns mit ihnen allen vertraut machen könnten. Eine Auswahl, die uns tiefere Einblicke in die eine oder andere Kultur und die Wirkung ihrer Andersheiten auf uns selbst erlaubt, ist daher unumgänglich.

ExemplaritätExemplarität bildet die Verbindung zwischen mehrkulturellen und interkulturellen Modellen. Hierneben steht wie im Deutschen auch im Englischen, Französischen und in weiteren Sprachen der Begriff vielkulturellmultikulturell (multicultural/multiculturel) in Opposition zu mehrkulturell (pluricultural/pluriculturel). Mehr als die anderen Eckbegriffe dieses Handbuchs zeigt gerade multikulturell die Spuren der politischen Praxis (multikulturelle Gesellschaft, „multikultimulti-kulti). Als tagespolitisches Programmwort unterschiedlicher Parteien ist es auch in der Bevölkerung in hohem Maße umstritten (↗ Art. 15). Dies erklärt nicht nur seine eigene starke emotive Aufladung, sondern auch die seines Begriffsfeldes bzw. seiner semantischen Nachbarn: Integration, Flüchtlinge/Geflüchtete, Identität, Herkunftssprachen, Leitkultur und Herkunftskulturen, deutsch und ausländisch, deutsch und Islam usw. sind immer auch Wörter einer ebenfalls hochgradig umstrittenen „WillkommenskulturWillkommenskultur“. Entsprechende Artikel des Handbuchs werden zu diesen gesellschaftlich durchaus breiten Entwicklungen zwangsläufig in eine Beziehung gesetzt, denn sie antworten ja auf aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Die politische Auseinandersetzung ist immer auch eine um Wörter und deren Sinnfüllung. Zustimmung erheischende Formeln (in der Sprache der politischen Semantik: Miranda) werden kreiert und in bestimmter Weise benutzt und verbogen: Der Begriff lebensweltliche Mehrsprachigkeitlebensweltliche Mehrsprachigkeit (↗ Art. 100) bezieht sich auf den sprachlichen Erfahrungsbereich konkreter Menschen – vorzugsweise Kinder mit Migrationshintergrund – nicht aber auf die Gesellschaft (↗ Art. 2), denn diese ist vielsprachig (Fereidooni 2012).

Ähnliches lässt sich zu Herkunftssprache (↗ Art. 106) sagen: Der alltagssprachliche Begriff zur Bezeichnung bestimmter Sprachen der Migration versteckt, dass alle Menschen eine sprachliche Herkunft haben, die spätestens dann ins Bewusstsein rückt, wenn sie eine zweite Sprache oder die sog. ‚Hochsprache‘ ihrer heimischen Varietät bzw. des eigenen Dialekts erwerbenInterlanguage. Wer immer eine zweite Sprache lernt, hat bereits eine erste, in der die Welt auf Begriffe gebracht wurde. Es erscheint daher linguistisch zutreffender wie im Englischen und Französischen (languages of immigration, langues de l’immigration) von Sprachen der Immigration zu sprechen. Gleichwohl wird der Begriff Herkunftssprache in den Artikeln dieses Handbuches verwandt, weil der Begriff im Deutschen konventionalisiert ist. Er sollte daher entsprechend modifiziert verstanden werden.

Sprache ist Wort gewordene Kultur (K. Schröder in diesem Band, ↗ Art. 10), Kulturen sind ohne Sprachen nicht denkbar. Sprache und Kultur sind Merkmale von Staaten. Kulturen sind auch von Gegensätzen geprägt. So ist die EU-Sprachenpolitik vielfach an ihre europäischen Kulturen und Mitgliedstaaten gebunden, und schon die Bildung der öffentlichen Meinungen geschieht auf nationaler wie EU-Ebene mithilfe von Sprachen. Dies hat insbesondere innerhalb demokratischer (und rechtsstaatlicher) Kulturen Gewicht (↗ Art. 9). So fällt im Vorfeld von Wahlen der öffentlichen Sprache die Aufgabe zu, die politischen Angebote der um die legitime Macht kämpfenden Parteien zu kommunizieren. Ohne Sprache wäre demokratisches Prozedere bzw. demokratische Kultur unmöglich. European citizenshipEuropean citizenship ist ein Begriff des interkulturellen und politischen Lernfeldes. Die Problematik der Vielsprachigkeit für die Bildung einer Öffentlichen Meinung und das politische Prozedere der EU ist bis heute nicht gelöst.

Dem Handbuch liegt ein weiter und pluraler Kulturbegriff (↗ Art. 1) zugrunde. In diesem Zusammenhang ist die gemeinsame Geistesgeschichte Europas, einschließlich der Alltagskulturen, relevant. Referenzbereiche sind Staatswesen und Kulturen bzw. Religionen, Wissenschaften, Künste, Sitten und Gebräuche und menschliche Praxen.

Spätestens seit den 1990er Jahren wird kulturellen Prägungen auch für das Sprachenlernen Bedeutung zugeschrieben. Insbesondere spielen die Sozialisierung und Enkulturation der Lerner (↗ Art. 4), die Zusammenhänge von Sprache und Identitätskonstruktion oder kulturspezifische Einstellungen eine Rolle, und zwar seitens der Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Multikulturalität, Globalisierung, Migration sowie den Umgang mit ethnischer und kultureller Vielfalt, seitens der Migranten und Sprachenlerner der Integrationswunsch in die Zielgesellschaft X oder Sprachgemeinschaft und der Wunsch, sich Vorteile durch Kenntnis der Zielsprache und Zielkultur zu verschaffen (bei Dörnyei 2003 begegnet der Terminus Instrumentalität). Bzgl. der Erfahrung von ethnischer und/oder kultureller Diversität Diversitätethnische und kulturellelassen sich – grob – folgende Unterscheidungen treffen:

1 Fokussiert die Argumentation auf das Verhältnis zwischen ethnisch und kulturell deutlich voneinander abgegrenzten Personen (Gruppen, Gesellschaften, Nationen und Staatsvölker), so stehen i.d.R. angemessene (konventionalisierte) Umgangsweisen im Vordergrund. Für diesen Fall werden meist Kompositionen mit dem Präfix inter- verwendet: interkulturelle Kompetenz, interkulturelles Lernen oder interkulturelle Kommunikation zwischen dem Eigenen und dem Fremden (↗ Art. 32, 36). Solche Bildungen beziehen sich nicht auf Kontraste konkreter Kulturen, sondern fassen generell. Natürlich können Ergänzungen diese Polarität durch Konkretisierung (Typ: der interkulturelle deutsch-britische Dialog) aufheben.

2 Liegt der Fokus indes auf dem Bestreben nach Aufhebung dieser Oppositionen, dann folgt hieraus die Absage an ein Verständnis von in sich homogenen und geschlossenen Kulturen (die sich von anderen Kulturen unterscheiden und sich nach außen abgrenzen). In diesem Fall wird oft das Präfix trans- genannt. Man spricht z.B. von einer (postmodernen) Transkulturalität (↗ Art. 41)Transkulturalitätሴiሴ.

Wie die Komplementarität von Vielsprachigkeit und Mehrsprachigkeit wird auch die von Interkulturalität und Transkulturalität nicht immer trennscharf benutzt.

Der GeRGeR und vor allem der CEFR Companion Volume transportieren, wie angeklungen, die Unterscheidung zwischen multicultural/multiculturel/multikulturellmultikulturell einerseits und pluricultural/pluriculturel/mehrkulturellmehrkulturell andererseits (↗ Art. 18, 19). In einer vielkulturellen Umgebung und einem vielkulturellen Europa (multicultural Europe und multicultural environment) sollen pluricultural competences und ein pluricultural repertoire entwickelt werden. Das Präfix multi- dient, wie gesagt, zur Hervorhebung gesellschaftlicher Dimensionen, während das Präfix pluri- individuelle Dimensionen meint.

Generell deuten die pluri-Begriffe auf konkrete Planbar- und Organisierbarkeit von gezieltem Unterricht. Hingegen sind die multi-Bildungen semantisch offener.

Eine Politik zugunsten von mehr Mehrsprachigkeit und mehr Mehrkulturalität fällt auf unterschiedliche nationale Substrate (und deren eigenständige Interessen). Die Geschichte der europäischen Nationalstaaten ist eng mit ihren jeweiligen NationalsprachenNationalsprachen und einer sie begünstigenden SprachpolitikSprachpolitik verbunden. Während die Nationalsprachen längst hinlänglich normiert waren, beherrschten die jeweiligen nationalen Bevölkerungen diese bis weit ins 19. Jh. hinein nur unzureichend: Die meisten Menschen sprachen Dialekte und in den Vielvölkerstaaten zumeist auch unterschiedliche Sprachen. Vorrangige Aufgabe war im Zuge von Industrialisierung, Urbanisierung, der Entstehung gänzlich neuer Berufsgruppen wie der Angestellten, der Industriearbeiterschaft und weiterer die Herstellung eines einheitlichen nationalen Kommunikationsraums, an dem die Gesamtbevölkerung im Rahmen einer vor allem national miteinander kommunizierenden Wirtschaft teilhaben konnte. Träger dieser Entwicklung waren das allgemeine Schulwesen, die allgemeine Wehrpflicht, die Verbreitung von Presse und Radio zu Beginn des 20. Jhs. Die Lage erklärt, weshalb das jeweilige nationale ErziehungswesenErziehungswesennationales des 19. und überwiegend des 20. Jhs. der Zwei- und Mehrsprachigkeit nicht förderlich gegenüberstand. Eine Politik zugunsten der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität gab es in nur wenigen Fällen – kaum jedoch in nennenswertem Umfang in großen Nationalstaaten wie Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Russland. Eine gewichtige Ausnahme stellte der ehemalige Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn dar (Fäcke 2015). Die Verbreitung der Amtssprachen fand ihre Erweiterung in den Kolonien.

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