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1.2 Die Kategorie ‚Text‘

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Was ist eigentlich ein Text? Kann man sich auf die alltagssprachlichen Vorstellungen verlassen, die man als Antwort bekommt, wenn man nichtlinguistisch gebildete „Durchschnittssprachteilnehmer“ nach ihrer Vorstellung von Text fragt? Wissen wir also alle, was ein Text ist? Daraufhin befragte Sprachteilnehmer bestimmen das Phänomen Text ziemlich übereinstimmend, wenn auch nicht in denselben Formulierungen, als eine über den Satz hinausgehende, abgeschlossene, thematisch gebundene, sinnvolle sprachliche Einheit, wobei zumeist schriftliche Äußerungen im Blick sind. Zum AlltagswissenAlltagswissenWissenAlltagswissen über Text gehört auch das Wissen über Funktionen und Muster gebräuchlicher Textsorten. Textexemplare häufig gebrauchter Textsorten (z.B. Bewerbungsschreiben, Einladungen, institutionelle Briefe verschiedener Art) können sowohl (mehr oder weniger) angemessen hergestellt als auch als Texte dieser Textsorten erkannt und rezipiert werden.

Mit diesem alltagssprachlichen Befund hat man nun zwar das einschlägige Wissen der „Durchschnittssprachteilnehmer“ erkundet und damit den Wissensfundus, der gebraucht wird, um TextverstehenTextverstehen zu sichern, das uns ja in der Mehrzahl der Fälle erstaunlicherweise auch gelingt. Was wir damit aber noch nicht erreicht haben, ist die für die wissenschaftliche Betrachtung, d.h. das tiefere Eindringen in das Problem nötige Systematik, Verallgemeinerbarkeit, Vergleichbarkeit und Widersprüche ausschließende Objektivierung, kurz ein Erkenntnisgewinn durch Theoretisierung. Die Bemühungen in diese Richtung, von denen es im Zusammenhang mit der Textbestimmung und der Textklassifizierung vielfältige gibt, haben unser Wissen über den Text in vieler Hinsicht erweitert, differenziert und vertieft. Einen/den einheitlichen Textbegriff haben diese Arbeiten aber nicht gebracht. Zum Glück, möchte man sagen; denn der eine – notwendigerweise selektive und reduzierende – Textbegriff, auf den man dann festgelegt wäre, würde – ebenfalls wichtige – Aspekte ausschließen und damit mögliche Zugänge zum Phänomen ‚Text‘ verbauen. Die Gefahr einer solchen Festlegung besteht, wie die Erfahrung zeigt, aber deshalb gar nicht, weil die Ausgangsfragen und Erkenntnisinteressen, mit denen man an das Phänomen Text herangeht, zu verschieden sind und in jeweils andere, immer aufschlussreiche Richtungen führen. So wird, vereinfacht gesagt, Text u.a. verstanden als Verkettung von Sätzen, als Zeichenfolge mit einer Funktion, als thematische Einheit, als Mittel sprachlichen Handelns, als auf Wissensvoraussetzungen angewiesenes Konstrukt (ausführlicher dazu Adamzik 2004: 38ff.). Es leuchtet ein, dass von den sehr verschiedenen – morphologisch-syntaktischen, lexikologisch-semantischen, kognitiven, pragmatischen, semiotischen – Gesichtspunkten immer nur bestimmte in spezifischer Kombination eine Rolle spielen, jeweils nur in der für die jeweilige Textauffassung geeigneten Auswahl. Wenn man sich jedoch zunächst eine allgemeine Vorstellung verschaffen will, wie es die LeserInnen eines Einführungsbandes ja sicher anstreben, ist ein spezieller Einstieg noch nicht angeraten, sondern es scheint sinnvoll, zunächst einmal auf diese verschiedenen Aspekte einzugehen, ehe man dann, in einem zweiten Schritt, der z.B. die eigene vertiefte Beschäftigung mit einem der Aspekte in einer wissenschaftlichen Haus- oder Abschlussarbeit sein könnte, sich einem Problemkreis genauer zuwenden kann. Daher soll in diesem Beitrag ein solch offener Ansatz gewählt werden, der verschiedene in der Literatur diskutierte Zugänge zum Text zeigt und der es darüber hinaus auch erlaubt, Ergänzungen vorzunehmen und neue Aspekte einzuführen.

Bevor wir uns diesem Ansatz zuwenden, treffe ich noch folgende Festlegungen:

1 Es werden nur schriftliche Texte betrachtet. Die Beschäftigung mit gesprochenen Texten einschließlich der Klärung der Frage, ob GesprächeGespräch überhaupt als Texte zu betrachten sind, würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen (siehe hierzu auch die Einleitung).

2 Ich gehe davon aus, dass sich eine „textliche Einheit“, das also, was als ein vollständiger Text zu betrachten ist, zum einen aus unserem TextsortenwissenTextsortenwissen ergibt. Wir wissen aus Erfahrung, wie Texte bestimmter Textsorten eröffnet und abgeschlossen werden. Wir kennen also Anfangs- und Endsignale. Eine Texteinheit kann außerdem aus ihrem Handlungszusammenhang deutlich werden und auch daran, dass sie eine spezifische TextfunktionTextfunktion verfolgt.

3 Man muss aber auch damit rechnen, dass Textgrenzen nicht immer scharf gezogen sind. Unschärfe ist ein Phänomen, das bei der Betrachtung von Sprache nicht unsicher machen darf. In einem sozial bestimmten und sich natürlich entwickelnden Bereich, wie es der Gebrauch einer Sprache ist, kann man absolute Trennschärfe zwischen den Phänomenen nicht erwarten.

Für einen offenen Zugriff auf das Textphänomen bietet es sich an, zunächst einmal auf die fast „klassisch“ gewordenen (wenn auch zugleich in die Kritik geratenen) KRITERIEN DER TEXTUALITÄTTextualität zurückzukommen, wie sie Beaugrande/Dressler (1981) in ihrem Buch „Einführung in die Textlinguistik“ vorgestellt und expliziert haben: Es sind die folgenden: KOHÄSIONKohäsion, KOHÄRENZKohärenz, INTENTIONALITÄTIntentionalität, AKZEPTABILITÄTAkzeptabilität, INFORMATIVITÄTInformativität, SITUATIONALITÄTSituationalität, INTERTEXTUALITÄTIntertextualität (genauer unter 1.3).

Dass man dabei nicht stehen bleiben darf, ja dass diese Kriterien auch kritisch zu betrachten sind, ist gegenwärtig ebenso Konsens wie die Praxis, dass sich nahezu jede Auseinandersetzung mit dem Textbegriff an der Arbeit der beiden Autoren – zustimmend und/oder kritisch, das Gesagte einfach wiedergebend oder es fortführend – orientiert. Feilke (2000: 76) z.B. spricht von „völlig heterogenen Theorietraditionen“ der Kriterien. Anders dagegen äußern sich Adamzik (2004) und Warnke (2002), die den Kriterien durchaus einen erkenntnisfördernden Wert zusprechen. Es lohnt sich, die Argumentationen der drei Autoren durch die Lektüre der genannten Arbeiten nachzuvollziehen. Warnke meint sogar, dass die Kriterien der Textualität nach Beaugrande/Dressler nicht nur „noch immer einschlägig“ seien, sondern dass sie sogar „gleichsam die Matrixkarte der Textlinguistik“ bildeten (Warnke 2002: 127). In einem zusammen mit Gerhard verfassten Aufsatz wird gezeigt, wie man die Kriterien erfolgreich als eine Richtschnur für Untersuchungen einsetzen kann, und dies sogar auch in der Analyse von über den sprachlichen Text hinausgehenden nicht-sprachlichen zeichenhaften Artefakten (Stadt als Text, Warnke/Gerhard 2006, siehe 1.6).

Im vorliegenden Beitrag sollen die TEXTUALITÄTSKRITERIENTextualitätskriterium/-kriterien gleichsam als ein Rahmen dienen, in dem man sich über Textualitätseigenschaften Gedanken macht. Genauer gesagt: Die von Beaugrande/Dressler so genannten „Kriterien“ werden nicht als ausschließliche Kriterien gebraucht, sondern als „Beschreibungsdimensionen für wesentliche Eigenschaften von (prototypischen) Texten“ (Adamzik 2004: 53), die auch ergänzt werden können. Man kann sie sich – in einem gedanklichen Bild – als um einen Kern herum geordnet vorstellen, vom engeren transphrastischentransphrastisch hin zu weiteren Kriterien. Die Ausführungen von Adamzik (2004) und Sandig (2006: 309ff.) stellen diesen Kriterien jeweils eine Auffassung von Texteigenschaften als Elemente eines prototypischen Textverständnisses gegenüber. Hier steht das Prototypische eines Textes, das, was ihn zu einem guten, d.h. typischen Vertreter seiner Kategorie macht, im Mittelpunkt, weniger entscheidende Merkmale rücken an den Rand (so auch in Kap. 14). Der Hinweis auf das Prototypische ist eine wichtige Bereicherung, die nicht notwendig die Kriterien von Beaugrande/Dressler „aushebeln“ muss, sondern zu einem differenzierteren Gebrauch dieser Beschreibungsdimensionen anregt.

Die sieben „Beschreibungsdimensionen“ erlauben es in ihrer Offenheit, das Interesse über die geläufigen Perspektiven hinaus auf andere Gesichtspunkte und neue Fragestellungen zu richten, so dass ein weiterer Blick auf den Gegenstand Text möglich wird und bisher wenig oder gar nicht im Blick befindliche Perspektiven eröffnet werden können. Zu diesen bisher weniger beachteten Blickrichtungen gehört die auf den StilStil. Grundsätzlich – daran kommt man nicht mehr vorbei – wird man die Beziehung vonText und Stil, die für Beaugrande/Dressler von geringer Bedeutung waren, berücksichtigen müssen. Das hat in jüngster Zeit Sandig mit ihrer umfangreichen „Textstilistik“ (22006) besonders deutlich gemacht.1 Zieht man in Betracht, dass es handlungsorientierte, funktional bestimmte und semiotische Stilauffassungen gibt, die alle ohne einen Textbezug nicht denkbar wären und die (direkt oder indirekt) StilStil sogar als eine Voraussetzung für Texthaftigkeit ansehen, kann man nicht umhin, im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Textbegriff dem Thema Stil besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und zwar, indem man Stil ausdrücklich als Teil des Textes betrachtet. Stil ist demnach konstitutiv für Texthaftigkeit. Die Frage wird zu beantworten sein, ob die stilistische Einheit eines Textes auch eine Beschreibungsdimension für Texte sein sollte (siehe auch 1.5).

Was ist nun aus der Sicht von Beaugrande/Dressler als ein Text aufzufassen? In ihrer „Einführung in die Textlinguistik“ stellen die Autoren zu Beginn erwartungsgemäß die Frage, was ein Text sei, d.h., „welche Kriterien Texte erfüllen müssen“ (Beaugrande/Dressler 1981: 3), um als Texte gelten zu können, und beantworten ihre Frage mit der folgenden teilweise einleuchtenden, teilweise nicht unproblematischen Definition:

Wir definieren einen TEXT als eine KOMMUNIKATIVE OKKURENZ […], die sieben Kriterien der TEXTUALITÄT erfüllt. Wenn irgendeines dieser Kriterien als nicht erfüllt betrachtet wird, so gilt der Text nicht als kommunikativ. Daher werden nicht-kommunikative Texte als Nicht-Texte behandelt. (Beaugrande/Dressler 1981: 3)

Dass die Autoren Texte als eine „kommunikative Okkurenz“ betrachten, d.h. als eine kommunikations- und damit handlungsbestimmte Größe, ist ein wichtiger Schritt. Wie oben schon beschrieben, rücken damit Texte als Größen der Sprachverwendung in den Blick, womit die rein transphrastischetransphrastisch Betrachtung, also die Untersuchung der Satzverknüpfungen als alleiniger Beschreibungsansatz, überwunden ist (siehe ausführlicher Kap. 5). Ein weites und erweiterbares Untersuchungsfeld tut sich auf. Das wird deutlich werden, wenn in 1.3 die sieben Kriterien genauer beschrieben werden.

Problematisch ist an der oben zitierten Äußerung zu Text als kommunikativer Okkurenz die Feststellung, dass die Nichterfüllung eines der Kriterien den Textcharakter überhaupt in Frage stelle. Das hat in vielen Auseinandersetzungen mit den Textualitätskriterien eine Rolle gespielt (vgl. z.B. Adamzik 2004). Dass die Äußerung problematisch ist, wird unter 1.3.1 genauer dargestellt werden. Nur so viel an dieser Stelle: Man muss diese strikte Forderung kritisch betrachten, weil die Erfahrung zeigt, dass Rezipienten durchaus auch Textangebote, die im Sinne der Kriterien defizitär sind, als Texte anzuerkennen bereit sind. Aus den Ausführungen der Autoren kann man ableiten, dass sie diese positive Rezeption mit der Existenz von „Ersatzfunktionen“ erklären. So kann für mangelnde KohäsionKohäsion (Verbindungen auf der Oberfläche des Textes) KohärenzKohärenz (WeltwissenWeltwissenWissenWeltwissen) „einspringen“, so kann der Rezipient SituationalitätSituationalität (Kenntnis der Umstände eines kommunikativen Ereignisses) und IntentionalitätIntentionalität (z.B. Kenntnis der Funktionen von Textsorten) für mangelnde Kohäsion „einsetzen“, um die Satzfolge als Text verstehen zu können. Die Feststellung, dass der Textcharakter bereits beim Fehlen eines der Merkmale (Kriterien) beschädigt wäre, wird also von den Autoren selbst relativiert. Nachdem nun deutlich geworden ist, dass Beaugrande/Dressler mit ihren Kriterienvorschlägen ein offenes System vorgestellt haben, sehen wir uns diese Vorschläge im Zusammenhang mit der Vorstellung verschiedener Textbegriffe zunächst genauer an (1.3–1.5), um sie dann zu ergänzen (1.6).

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