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8.2 Die sozialen Bedingungen des Philosophierens
ОглавлениеDie Unterscheidung zwischen dem Islam als Zivilisation und dem Islam als Religion nahm konkrete Aspekte für das philosophische Leben an. Zwischen der Zivilisation, die ihr Dasein ermöglicht hatte, und der Religion, so wie sie diejenigen Rechtsgelehrten verstanden, die sie mit großem Misstrauen beargwöhnten, mussten die Philosophen lavieren. Das Hauptproblem war die Funktion und der Platz des Wissens in der Gesellschaft. Selbstverständlich ist in ihr ein Wissen (ʿilm), das ihr reibungsloses Funktionieren ermöglicht, wie auch das Recht, institutionalisiert. Dagegen blieb das interesselose oder schroffer gesagt „nutzlose“ Wissen bis zur Neuzeit am Rande des gesellschaftlichen Lebens, bis die Wissenschaft sich durch ihre technischen Anwendungen rechtfertigen ließ. In Europa zum Beispiel erfreuten sich die Naturwissenschaften erst ab dem 17. Jahrhundert dank der Akademien einer zuerst noch schüchternen Institutionalisierung.
Das Hauptphänomen im christlichen Europa war die Tatsache, dass es der Philosophie gelang, sich seit dem Mittelalter einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, indem sie zum Programm einer Institution wurde, der Universität. Diese ist eine Zunft, in der die Studenten wie Lehrlinge leben, wobei das Dozieren einen sozial anerkannten Beruf darstellt. In den islamischen Ländern blieb die Philosophie eine private Tätigkeit. Diejenigen, die sie trieben, waren der Begabung nach Genies, gesellschaftlich dagegen Amateure, die ihr Leben verdienten, indem sie andere Berufe ausübten. Al-Kindī war ein reicher Grundbesitzer (wie vor ihm Platon). Al-Fārābī war Musiker und fristete ein kümmerliches, fast asketisches Leben, Avicenna war Arzt und Wesir. In Andalusien waren Ibn Bāǧǧa und Ibn Ṭufayl ebenfalls Ärzte und Wesire. Averroes stellt eine echte Ausnahme dar: Als Jurist und hoher Beamter war er „organischer Intellektueller“ des almohadischen Regimes. Für dieses Regime verfasste er die Werke, die die Regierenden bestellt hatten. Trotzdem blieb er unter der Aufsicht der offiziellen Ideologen.
Der Islam, vor allem im sunnitischen Verständnis, kennt keine definierte, geschweige denn in einem Lehramt geronnene Orthodoxie, wie das im Christentum der Fall ist. Sehr gerne hätten die Kalifen diese Rolle an sich gerissen, was sie aus Anlass dermuʿtazilitischen Krise zu tun versuchten. Seit ihrem Scheitern bürgte für Orthodoxie nur ein diffuser sozialer Druck, den ab und zu politische, militärische oder religiöse Anführer zu kanalisieren versuchen. Als Folge davon kannte der Islam wenige förmliche Anklagen und ausdrückliche Verurteilungen. Die große Ausnahme bildet der berühmte gegen al-Ḥallāǧ (gestorben 922) angestrengte Prozess, der kein Philosoph, sondern ein Mystiker war.
Im mittelalterlichen Europa behielt sich die Kirche ein Aufsichtsrecht über die Philosophie vor, verlieh ihr aber Legitimität. Im Islam gab es keine organisierte Inquisition wie seit 1231 in der Christenheit. Es gab aber auch keine Institution, die die Philosophen gegen die Feindschaft des gemeinen Volkes schützen konnte, das die Männer der Religion, die auch Rechtsgelehrte waren, gegen sie aufhetzen konnten. Der Philosoph konnte sich nur auf die Gunst des jeweiligen Mäzens verlassen, dem er diente, eine Gunst, die prekär blieb und auf jeden Fall den Herrschenden nicht überlebte. Diese Lage zeitigte sowohl Nachteile als auch Vorteile:
“The Status of philosophy was […] much more precarious in Judaism and in Islam than in Christianity: in Christianity philosophy became an integral part of the officially recognized and even required training of the student of the sacred doctrine. This difference explains partly the eventual collapse of philosophic inquiry in the Islamic and in the Jewish world, a collapse which has no parallel in the Western Christian world […] The official recognition of philosophy in the Christian world made philosophy subject to ecclesiastical supervision. The precarious position of philosophy in the Islamic-Jewish world guaranteed its private character and therewith its inner freedom from supervision.“115
Wie dem auch sei, der Mangel einer tragenden Institution hat die Tatsache mit sich gebracht, dass die Philosophie nur einen geringen Einfluss auf die sozialen Verhältnisse hat ausüben können. Selbstverständlich konnten sich die Eliten der islamischen Gesellschaft für Philosophie interessieren. Davon zeugt das Vorhandensein von Handschriften philosophischen Inhalts in den öffentlichen beziehungsweise privaten Bibliotheken der islamischen Welt. Philosophische Lehren konnten überliefert werden, wenn der Student einen Meister fand. Nie wurde jedoch die Philosophie zu einer gesellschaftsbildenden Macht.