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Améry, Jean
ОглавлениеGeboren als Hans Mayer (oder Maier) 1912 in Wien, Freitod 1978 in Salzburg. Aufgewachsen zunächst in Bad Ischl, dann Studium und Lehre in Wien, Arbeit in der Erwachsenenbildung. Beteiligung am Februaraufstand von 1934. Nach dem „Anschluß“ Österreichs Flucht nach Belgien. 1941 Ausbruch aus dem Internierungslager Gurs, in Brüssel Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe. 1943 Verhaftung, Folterung in Breendonk und Verschleppung in mehrere Lager, darunter Auschwitz-Monowitz. Nach der Befreiung 1945 Rückkehr nach Brüssel, wo er bis zuletzt als deutschsprachiger Schriftsteller lebte.
Der Essayband Jenseits von Schuld und Sühne (Améry 1966), mit dem Améry noch im Erscheinungsjahr Bekanntheit erlangte, kann auch als sein erster wichtiger philosophischer Text gelten. Er erscheint zunächst wie eine einfache Rückbesinnung auf die ursprünglichen Intentionen von Sartres Denken. Tatsächlich ist Améry, der in den Jugendjahren dem Wiener Kreis nahesteht, seit 1945 durch die literarischen und philosophischen Schriften Sartres geprägt worden. Er begreift sie als die eigentliche Philosophie des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sowie als Einspruch gegen die vorherrschende Tendenz, aus den Tätern Opfer der Gesellschaft zu machen, und folgert diesbezüglich gemäß der Situation, in der sich die Überlebenden befanden: das Individuum „ist haftbar für seine Geschichte, haftbar vor der Geschichte“ (Heidelberger-Leonard 2004, 110).
Aus diesem Impuls heraus entwickelt er eine kontinuierliche Kritik am „Jargon der Dialektik“ (Améry 1967), in den er Marxismus und Kritische Theorie verstrickt sah, und eine demgegenüber deutlich verschärfte Polemik gegen Strukturalismus und Poststrukturalismus, insbesondere gegenüber Lévi-Strauss und Foucault (Améry 1966a; 1971, 322ff.). Wenn auch hier der Vernunftbegriff des logischen Positivismus durchaus eine gewisse Rolle spielt, so bleibt doch die Philosophie des französischen Existenzialismus in ihrer frühen Gestalt – auch gegen Sartres aktuelle Positionen gewandt – ausschlaggebend. Es entsteht sogar der Eindruck, dass er, der die deutsche Öffentlichkeit mit dem neuen Strukturalismus überhaupt erst bekannt machte, dessen Gegensatz zu Sartres Freiheitsbegriff deutlicher herausarbeiten konnte, als es in der französischen Öffentlichkeit zu dieser Zeit – in der Sartre als Parteigänger der Maoisten figurierte – möglich war. Dies geschieht nicht zuletzt aus der Angst, dass der selbstbewusste „Antihumanismus“ aus Frankreich in Deutschland zu einem Aufschwung irrationalistischer Tendenzen führen könnte.
Der Charakter der Intervention ist überhaupt vorherrschend, wobei die Wahl einer essayistischen Form, die der Subjektivität immer wieder großen Raum beimisst, ebenso auf die Nähe zu französischen Traditionen wie auf früheste literarische Versuche verweist. Während die Interventionen Frankreich nicht erreichen – erst in neuerer Zeit hat sich daran etwas geändert (Finkielkraut 1996, 159ff.) –, erregen sie in Deutschland vor allem in linksliberalen, aufgeklärt theologischen und ebenso konservativen Kreisen Aufsehen. Innerhalb der Neuen Linken sind sie hingegen nicht nur wegen der Anklänge an den Positivismus verpönt. Durch das Engagement für Israel nach dem Sechstagekrieg musste Améry in diesem Milieu geradezu als Gegner wahrgenommen werden, wie er selbst nur zu gut wusste. Seine immer wieder erhobene Forderung, dass sich die Linke an Antisemitismus und Antizionismus neu zu definieren habe, findet erst seit den 1990er Jahren ein Echo (Steiner 1996).
Die Eigenständigkeit Amérys als philosophischer Schriftsteller zeigt mit Aplomb der Tortur-Essay (Améry 1965): Er bringt nicht etwa die persönlichen Erfahrungen des Gefolterten und Überlebenden als Argumente ein, er bestreitet vielmehr, dass jenes Erfahrene mitteilbar wäre und gewinnt an dieser Grenze der Mitteilbarkeit Sprache und Reflexion. Dabei gelingt es ihm, an einer bestimmten Stelle auch über Sartres Das Sein und das Nichts (Sartre 1943) hinauszugehen. Denn Sartres philosophisch illustrierende Art bei der Analyse des physischen Schmerzes irritiert, weil er ihn als Beispiel für Kontingenz nimmt, und es „tausend andere ihrerseits kontingente Weisen“ gebe, „unsere Kontingenz zu existieren“ (Sartre 1943, 597). Diese Auffassung kulminiert in dem ebenso berühmten wie problematischen Satz, „daß auch die Folter uns nicht unsere Freiheit nimmt“ (ebd., 903). Dagegen besteht Améry darauf, dass dieser Schmerz nicht eine beliebige Existenzweise ist, und lässt aber – anders als Herbert Marcuse in seiner Sartre-Kritik – die Frage der Freiheit unter der Folter offen.
Genau hier musste wiederum Adorno, trotz der existenzialistischen „Armatur“ von Amérys Essay, die Nähe zu seinen eigenen Überlegungen zur „Metaphysik nach Auschwitz“ erkennen (Adorno 1998, 166; Scheit 2006). Der „vulnerable Leib“ ist kein neues Subjekt-Objekt im Sinne Merleau-Pontys, wonach der „Anteil der Situation“ und der „Anteil der Freiheit“ ineinander „übergehen“, aber die Frage, wie der Schmerz empfunden wird, kann von der gesellschaftlichen Situation, die ihn hervorbringt, nicht abgelöst werden: Die totale Ohnmacht des Gefolterten wie die totale Macht des Folterers sind selber Elemente des erfahrenen Leids. Von der Freiheit aus, die den Tätern post festum zuerkannt werden muss, lässt sich die Situation ihrer Opfer überhaupt ermessen. Sie erzwingt es damit auch, die Singularität des Nationalsozialismus festzuhalten: Für das Dritte Reich sei die Tortur kein Akzidens gewesen, vielmehr seine „Essenz“ (Améry 1966, 69), und es ist die politische Identität des Folterers, der auf Vernichtung um der Vernichtung willen aus ist, die die Tortur zur Essenz macht.
Worin das Selbst besteht, das diese Folterer realisieren, wird bei Améry wie folgt beantwortet: Sie wollten zum „vollgültigen Repräsentanten“ des Führers werden – von späteren Generationen um der Austilgung ihrer Barmherzigkeit, um „des guten Gewissens der Schlechtigkeit“ willen bewundert. Der Übergang vom einzelnen, isoliert betrachteten Folterer zur Volksgemeinschaft als kollektivem Täter, den Améry im Fortgang der Essays von Jenseits von Schuld und Sühne vollzieht, hängt mit einer veränderten Selbstwahrnehmung zusammen: Er habe, schreibt Améry im Vorwort, in den ersten Essays „noch nicht mit hinlänglicher Deutlichkeit gesehen, daß [s]eine Situation nicht voll enthalten [sei] im Begriff des ‚Naziopfers‘“, erst hiernach habe er sich als jüdisches Opfer gefunden (Améry 1966, 22). Im Sinne von Sartres Réflexions sur la question juive (Sartre 1946) sind damit die vom Antisemitismus Bedrohten und Vernichteten bezeichnet, auch wenn sie selbst „mit den Juden als Juden“ so gut wie nichts, „keine Sprache, keine kulturelle Tradition, keine Kindheitserinnerungen“, vereint.
Im zweiten Essayband Über das Altern (Améry 1968) erweist sich, was an den natürlichen leiblichen Veränderungen wahrgenommen wird, als durch den „Blick der Anderen“ konstituiert (Améry 1968, 81). Die Affinität zu Sartres früher Philosophie ist hier vielleicht sogar am ausgeprägtesten. In den Unmeisterlichen Wanderjahren (Améry 1971) schlägt Améry den entgegengesetzten Weg ein, indem er die eigene Biographie als roten Faden verwendet, an dem er die Situationen des Bewusstseins aufreiht, die er politisch und ideologiekritisch möglichst genau zu bestimmen versucht. Der Versuch, die geistige Entwicklung zu rekapitulieren, ist, wie der Titel deutlich macht, ironisch gegen den Bildungsroman gerichtet und zeigt – direkt und indirekt – auch die Enttäuschung über Sartres Entwicklung seit den fünfziger Jahren. Gerade in der offenen Hinwendung zur literarischen Form in seinem wenige Jahre später entstandenen Buch Lefeu oder Der Abbruch, das er als „Roman-Essay“ bezeichnet, verteidigt Améry besonders prägnant den Freiheitsbegriff Sartres gegen dessen spätere Philosophie: So bestreitet seine Romanfigur – auch er ein Verfolgter der Naziregimes –, dass „individuelle Motivationen“ die „natürlichen Vermittler“ „überpersönlicher, geschichtlicher Zwänge“ seien (Améry 1974, 471ff.).
Das ist auch die Voraussetzung, über den Freitod zu schreiben. Der letzte zu Lebzeiten erschienene Essayband, der davon handelt (Améry 1976), liest sich in bestimmter Hinsicht als Resümee: Er sucht zu klären, warum es die Frage aller Fragen der Freiheit ist, ob unter allen Umständen das Leben dem Tod vorzuziehen sei. Amérys Werke unterscheiden sich jeweils darin, wie sie gestellt wird.
Literatur: Améry 1966, Améry 1968, Améry 1971, Améry 1974, Finkielkraut 1996, Heidelberger-Leonard 2004, Scheit 2006, Steiner 1996
Gerhard Scheit