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Binswanger, Ludwig

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Geboren 1881 in Kreuzlingen in der Schweiz, gestorben 1966 ebendort. Nach dem Studium der Medizin ab 1906 Ausbildung zum Psychiater bei Eugen Bleuler an der Klinik Burghölzli in Zürich. 1907 Dissertation bei C. G. Jung zum Assoziationsexperiment, gleichzeitig Bekanntschaft mit Sigmund Freud und Zuwendung zur Psychoanalyse. Von 1910–56 ärztliche Leitung des Sanatoriums Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee, einer 1857 von seinem Großvater gegründeten, international bekannten psychiatrischen Privatklinik.

Die wesentliche theoretische Leistung Binswangers besteht in einer philosophischen Fundierung der Psychiatrie und in der Methodenentwicklung zur wissenschaftlichen Erforschung von Geisteskrankheiten, die sich zunächst an Martin Heidegger und zuletzt Edmund Husserl orientierte. Sein Werk gewinnt heute angesichts des Trends, die Psychiatrie auf ein bloßes Anwendungsgebiet der Neurowissenschaften zu reduzieren, erneut Aktualität. Binswangers Denkweg lässt sich in drei Phasen unterteilen:

Erste Phase – Das Studium der Werke Franz Brentanos, Paul Natorps, Edmund Husserls, Wilhelm Diltheys und Max Schelers führt zu einer Abkehr vom naturalistischen Ansatz Sigmund Freuds. In der Einführung in die Probleme der allgemeinen Psychologie (Binswanger 1922) gründet Binswanger die Psychologie auf den Begriff der Person. Damit folgt er der phänomenologischen Maxime, die „anschauliche Wirklichkeit“ an die Stelle von Abstraktionen zu setzen.

Zweite Phase – Ab 1930 beginnt Binswanger mit der Erarbeitung einer ab Mitte der 1940er Jahre als „daseinsanalytisch“ bezeichneten psychiatrischen Denk- und Forschungsmethode, mit der erstmals die von Heidegger in Sein und Zeit (Heidegger 1927) entwickelte „Daseinsanalytik“ auf psychiatrische Fragestellungen angewendet wird. Erstes Zeugnis der Zuwendung zu Heidegger ist der Aufsatz „Traum und Existenz“ (Binswanger 1930), in welchem eine anthropologische Auffassung des Traumes vertreten und das Träumen als eine besondere „Existenzform“ bestimmt wird. Einen Traum zu deuten heißt dementsprechend, die anthropologischen Bedeutungsrichtungen der Traumwelt herauszustellen.

In den Studien Über Ideenflucht analysiert Binswanger die Welt des „ideenflüchtigen“ Menschen (Binswanger 1933). Darin steckt in nuce bereits das Programm einer daseinsanalytischen Erforschung von Geisteskrankheiten, das er zwischen 1944 und 1952 anhand fünf großer Schizophrenie-Studien ausarbeitet und realisiert. Leitkategorie dieser Forschung wird der aus Heideggers Schrift Vom Wesen des Grundes (Heidegger 1929) entliehene Begriff des „Weltentwurfs“. Damit ist jener Bedeutungshorizont bezeichnet, innerhalb dessen sich alles bewusste und unbewusste Erleben und Handeln eines Individuums bewegt. Der Gedanke, dass Individuen sich durch ihre Weltentwürfe voneinander unterscheiden, wird zum Leitfaden der Erforschung verschiedener Formen der Geisteskrankheit. Dieser Forschungsansatz bringt den Kranken als „ganzen Menschen“ in den Blick, statt nur pathologische Symptome anhand der medizinischen Leitkategorien „gesund“ und „krank“ zu beschreiben und zu beurteilen. Als problematisch muss aber Binswangers Auffassung vom Weltentwurf als einem individuellen „Apriori“ gelten, das bereits der kindlichen Entwicklung zugrunde liegt (Binswanger 1946, 246f.).

Mit seinem Hauptwerk Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins (Binswanger 1942) legt Binswanger eine philosophische Anthropologie vor, die sich als Gegenentwurf zu Heideggers Daseinsanalytik ausweist. Beeinflusst von der Dialogik Martin Bubers charakterisiert er den Menschen durch „liebendes Miteinandersein von Mir und Dir“ statt durch „Sorge“ und erweitert so Heideggers Begriff vom „In-der-Welt-sein“ um das Strukturglied des „Über-die-Welt-hinaus-seins“. Die Methode der Erforschung von Weltentwürfen basiert damit auf der Wesensbestimmung menschlichen Daseins als „In-der-Welt-über-die-Welt-hinaus-sein“. Dabei gewinnt der Ansatz unter dem Aspekt der Liebe einen methodischen Sinn, insofern diese als höchste Form des Miteinanderseins zur Norm wird, an der Art und Ausmaß der strukturellen Abwandlung individueller Weltentwürfe zu messen sind. Am ausführlichsten durchgeführt ist dieses Programm in der Schizophrenie-Studie Ellen West (Binswanger 1945, Hirschmüller 2003).

Die Beziehung zu Freud bleibt, wie der 1992 publizierte Briefwechsel bezeugt (Freud, Binswanger 1992), trotz der sachlichen Distanzierung, persönlich eng und herzlich. Die Kritik an dessen einseitigem, naturalistischem Menschenbild (der Mensch als „homo natura“) ist am prägnantesten in der erweiterten Festrede zu Freuds 80. Geburtstag in Wien (Binswanger 1936) formuliert.

Dritte Phase – Unter dem Einfluss des Freiburger Philosophen Wilhelm Szilasi entwickelt Binswanger ab 1958 schließlich eine neue phänomenologische Methode zur Erforschung von Geisteskrankheiten, die sich philosophisch fortan an Husserls Lehre von der Konstitution der Welt im Bewusstsein statt an Heideggers Daseinsanalytik anschließt. Diese Neuorientierung kündigt sich bereits in der Einleitung zum Sammelband Schizophrenie (Binswanger 1957) an, in der neue „Grundbegriffe der Forschung“ eingeführt werden. An die Stelle des bisher leitenden Begriffs der Welt tritt der Begriff der „Erfahrung“ und ihrer „natürlichen Konsequenz“ sowie pathologischen „Inkonsequenz“. Daran knüpfen die beiden letzten Werke Melancholie und Manie (Binswanger 1960) und Wahn (Binswanger 1965) an und untersuchen, welche konstitutiven Bewusstseinsleistungen versagen müssen, damit es zu den unnatürlichen Dingerfahrungen manischer, melancholischer oder wahnhafter Art kommt.

Für seine Rückwendung zu Husserl nennt Binswanger zwei Gründe. Erstens wird die Psychiatrie endlich zu einer der Körpermedizin ebenbürtigen Wissenschaft, denn „die Husserlsche Wissenschaft [leistet] für die Psychiatrie dasselbe wie die Biologie für die Körpermedizin“ (Binswanger 1960, 428). Zweitens war von Szilasi zu lernen, dass Heideggers Daseinsanalytik eine rein ontologische Lehre ist, die sich, anders als Husserls Bewusstseinstheorie, nicht unmittelbar auf die Psychiatrie anwenden lässt (Binswanger 1959, 70; 1965, 429).

Binswangers Daseinsanalyse bewirkt innerhalb der Psychiatrie bis in die 1970er Jahre eine Öffnung für philosophisch-anthropologische Fragestellungen. Bedeutende deutsche Psychiater (Wolfgang Blankenburg, Hubertus Tellenbach, Alfred Kraus, Roland Kuhn) haben seinen Ansatz aufgenommen und weiterentwickelt. Seine Daseinsanalyse wirkte ebenso in den Geisteswissenschaften weiter. Die internationale Rezeption beginnt in den 1950er Jahren: Michel Foucault widmet der französischen Publikation von Traum und Existenz ein ausführliches Vorwort (Foucault 1954); von Ulrich Sonnemann erscheint in New York Existence and Therapy. An Introduction to Phenomenological Psychology and Existential Analysis (Sonnemann 1954); wenig später wird in New York ein Sammelband mit wichtigen Schriften Binswangers unter dem Titel Existence. A New Dimension in Psychiatriy und Psychology (May u.a. 1958) publiziert. Seit 1987 widmet sich das Binswanger-Archiv an der Universität Tübingen der Aufarbeitung des wissenschaftlichen Nachlasses von Ludwig Binswanger.

Literatur: Binswanger 1930, Binswanger 1942, Binswanger 1945, Herzog 1994, Hirschmüller 2003, Holzhey-Kunz 2006

Alice Holzhey-Kunz

Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert

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