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Anders, Günther
ОглавлениеGeboren als Günther Siegmund Stern 1902 in Breslau als Sohn des bekannten Psychologenehepaars Clara und William Stern, gestorben 1992 in Wien. 1919–24 Studium der Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte, u.a. bei Cassirer, Husserl und Heidegger. 1929–37 Ehe mit Hannah Arendt. 1933 Flucht zuerst nach Paris, dann 1936 in die USA. 1949/50 Ästhetik-Vorlesungen an der New School for Social Research. 1950 Rückkehr nach Europa. Freier Schriftsteller in Wien.
Anders’ Philosophie kann in Summe eine negative Anthropologie genannt werden. Die Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt steht dabei im Mittelpunkt. In jungen Jahren sieht Anders den Menschen durch seine „Unspezifität“ und „Nichtfestgelegtheit“ definiert – er sei ein „Mensch ohne Welt“ (Anders 1984, XIVf.). Der Mensch muss sich immer erst eine eigene Welt schaffen, seine Natur liegt in seiner Künstlichkeit, sein Wesen in seiner Unbeständigkeit. Er ist in einem radikalen, nahezu pathologischen Sinn zur Freiheit gezwungen (Anders 1936, 22). Zweifellos antizipierte Anders in diesen Reflexionen viel vom späteren Freiheitsbegriff Sartres und von der Konzeption des Menschen als Mängelwesen, wie sie dann Arnold Gehlen vorgelegt hat.
Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges dreht Anders diese These in bestimmter Weise um: Die rasante Entwicklung der Technik und die Destruktionspotentiale der modernen Massenvernichtungswaffen führen zu einer „Antiquiertheit des Menschen“ – so auch der Titel seines zweibändigen Hauptwerkes (Anders 1956, 1980). Der Terminus „Antiquiertheit“ bedeutet bei Anders, dass die bislang entworfenen Konzepte von Humanität angesichts der Möglichkeiten der technischen Zivilisation obsolet werden, am Ende droht nun eine „Welt ohne Mensch“ (Anders 1984, XI).
Das Verhältnis von Mensch und Technik sieht Anders prinzipiell durch ein „prometheisches Gefälle“ bestimmt (Anders 1956, 16). Die leistungsfähigen Apparate und Maschinen übersteigen den physischen, psychischen und moralischen Horizont des Menschen, sein Vorstellungs- und sein Wahrnehmungsvermögen. Der Mensch ist seinen Geräten unterlegen und wird von deren Logik bestimmt. Die Technik wird deshalb für Anders zum neuen „Subjekt der Geschichte“ (Anders 1980, 279). Die Subjekte von Freiheit und Unfreiheit scheinen ausgetauscht, frei sind nun die Dinge, unfrei ist der Mensch (Anders 1956, 33).
Was Günther Anders deshalb allgemein gefordert hatte, nämlich eine Soziologie und Psychologie der Dinge, hat er selbst exemplarisch an einer paradigmatischen Maschine des technischen Zeitalters durchgeführt: am TV-Apparat. Unter dem Schopenhauer paraphrasierenden Titel Die Welt als Phantom und Matrize hat Anders schon früh versucht, das Phänomen der Television philosophisch zu begreifen. Das Neue am Fernsehen sah Anders in der Live-Sendung, also in der Möglichkeit, Ereignisse, die an einem Ort stattfinden, nahezu ohne Zeitverzögerung an beliebig viele andere Orte zu übertragen. Diese Übertragung kennzeichnet die durch das Fernsehen geschaffene neue mediale „Situation“, die das Verhältnis des Menschen zur Wirklichkeit grundsätzlich neu definiert. Das Eigentümliche der durch die Übertragung geschaffenen Situation besteht in deren „ontologischer Zweideutigkeit“ (Anders 1956, 131). Das Fernsehbild ist weder Schein noch Wirklichkeit, weder Abbild noch Realität. Die gesendeten Ereignisse sind zugleich gegenwärtig und abwesend, zugleich wirklich und scheinbar, zugleich da und nicht da – sie sind, so der Begriff, mit dem Anders das Essentielle des Fernsehens umreißen will, „Phantome“ (Anders 1956, 170).
Diese Phantome stellen allerdings eine „Verbiederung der Welt“ dar (Anders 1956, 117). Alles ist gleich nah oder gleich fern, mit allem, das ins Wohnzimmer flimmert, steht man in einer eigenartigen „Du-auf-Du-Beziehung“. Wir werden in „Kumpane des Globus und des Universums“ verwandelt, eine Kumpanei, die von echter Verbrüderung oder Einfühlung in andere Lebenszusammenhänge weit entfernt ist (Anders 1956, 118f.). Gleichzeitig aber wird der Mensch durch diese Phantome geprägt, richtet sein Denken und Verhalten danach aus. Die Zweideutigkeit geht wieder verloren, indem der Mensch in seiner gelebten Realität das Fernsehbild reproduziert, so, als wäre dieses eine Matrize, die den Seher und seine Bedürfnisse prägt (Anders 1956, 171).
Die Ereignisse, um die das Denken des Günther Anders seit 1945 unablässig kreist, sind aber Auschwitz und Hiroshima. Diese Namen sind für ihn zu Chiffren für den realen Nihilismus des 20. Jahrhunderts geworden. An beiden Orten geschah das Ungeheuerliche, das Anders mit dem für ihn zentralen Begriff des „Monströsen“ (Anders 1964, 19) bezeichnet und das für ihn ein konsequentes Resultat von Rationalisierung, Industrialisierung und Technisierung ist. Das Monströse ist das, was zwar technisch hergestellt, aber in seinen furchtbaren Konsequenzen nicht mehr begriffen werden kann. Die Vernichtungslager der Nazis zählt Anders ebenso dazu wie den Abwurf der Atombombe. Das Monströse besteht für Anders darin, dass es „institutionelle und fabrikmäßige Vertilgung von Millionen von Menschen“ gegeben hat, die nur durchgeführt hatte werden können, weil der Prozess der massenhaften Vernichtung von Menschen organisiert worden ist, „die diese Arbeiten annahmen wie jede andere“ (Anders 1964, 19). Das unterscheidet die Barbarei der Moderne von den Gräueln und Untaten der Vormoderne und das führt zu jener Unschuldshaltung, die Anders den „Legitimationseffekt“ nennt: Weil keiner etwas Böses, sondern jeder nur seine Arbeit macht, kann auch niemand schuld sein an dem letztlich produzierten Effekt (Anders 1979, 193). Damit ist für Anders aber auch die traditionelle Individualmoral zu einer antiquierten Kategorie geworden. Dies gilt auch für die Piloten von Hiroshima und Nagasaki, die mit dem buchstäblich emotionslosen Knopfdruck das Leben von Hunderttausenden, zu denen sie überhaupt keine Beziehung hatten, in einer Sekunde vernichteten (Anders 1979, 206).
Damit ist aber auch die geschichtsphilosophische Dimension berührt, die nach Anders Hiroshima kennzeichnet. Die Atombombe ist keine Waffe mehr, um irgendwelche Ziele durchzusetzen, sondern in letzter Konsequenz die Vernichtung aller denkbaren Zwecke. Damit hat nach Anders überhaupt eine neue, die unwiderruflich letzte Epoche in der Geschichte der Menschheit begonnen: das Zeitalter, in dem die Menschheit technisch in der Lage ist, sich selbst auszulöschen (Anders 1972, 93). Was den Menschen bleibt, ist nur noch eine „Frist“ – wie lange diese auch immer dauern möge (Anders 1972, 203).
Anders hat sich selbst durch zahlreiche politische Aktivitäten für die Erhaltung der Spezies Mensch engagiert. Er wusste aber auch, dass es auf die Frage, warum es denn überhaupt Menschen geben soll, keine befriedigende Antwort gibt: „Die moralische Erforderlichkeit von Mensch und Welt ist selbst moralisch nicht mehr begründbar.“ (Anders 1956, 323)
Günther Anders hat zweifellos grundlegende Einsichten zu Fragen der philosophischen Anthropologie, der Philosophie der Technik und der Geschichtsphilosophie vorgelegt. Seine Rezeption hing aber auch von politischen Konjunkturen ab, die es nicht immer erlaubten, seine Ansätze angemessen zu rezipieren und zu diskutieren. Die unterschwelligen Einflüsse auf unterschiedliche Technik- und Gesellschaftstheorien sind dennoch unübersehbar, harren aber noch einer genauen Erforschung (Dries 2009, 21).
Literatur: Anders 1956, Anders 1979, Anders 1980, Dries 2009, Liessmann 2002, Lütkehaus 1992
Konrad Paul Liessmann