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Arendt, Hannah
ОглавлениеGeboren 1906 in Hannover, gestorben 1975 in New York. 1924–28 Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Klassischen Philologie in Marburg, Freiburg und Heidelberg, 1928 Promotion in Heidelberg bei Karl Jaspers. 1933 Emigration nach Frankreich, 1941 in die USA, seit 1951 US-Staatsbürgerin. 1953–58 Gastvorlesungen u.a. in Princeton und Harvard sowie Professorin am Brooklyn College in New York, 1963–67 Professuren, an der University of Chicago und ab 1967 an der New School for Social Research in New York. 1973–74 Gifford Lectures an der University of Aberdeen.
Arendt ist eine originelle Denkerin in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie selbst fühlte sich besonders dem Bereich der Politischen Theorie zugehörig. Ihre verschiedenen Untersuchungen, etwa zum Totalitarismus, zur Frage des Bösen, zum Zionismus und der jüdischen Frage, zum Leben des Geistes oder zur Krise der Kultur der Massengesellschaft und zum Niedergang des öffentlichen, politischen Raums in der Moderne öffnen einen Bereich zur gedanklichen Wiedergewinnung dessen, was mit der Krise und dem Niedergang des Politischen verloren ging: Freiheit und Denken. Freiheit – die Möglichkeit des gemeinsamen Handelns – und Denken – der innere Dialog mit der Möglichkeit der Sinnstiftung und Urteilsfindung – sind die wesentlichen Aspekte, die den öffentlichen, politischen Raum in Abgrenzung zum privaten Raum begründen. Arendts Texte sind nicht moralisierend, aber dennoch durchzogen von einem unterschwellig wiederkehrenden ethischen Motiv: amor mundi – der Sorge für die Welt, einer Welt zwischen den Menschen, die in Zeiten der Krise „zerbrechen“ und zur „Sinnlosigkeit“ verkommen konnte (Arendt 1950, 1951).
Arendts Überlegungen stehen in der Tradition der Klassiker, wie Platon, Aristoteles, Augustinus, Kant und Machiavelli, Montesquieu und Tocqueville. Sie erhält ihre philosophischen Impulse insbesondere in der Auseinandersetzung mit Martin Heidegger und Karl Jaspers. Neben philosophischen und politischen nutzt sie auch historische, literarische und biografische Dokumente als Quellen ihrer Überlegungen.
Bereits in ihrer Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustin (Arendt 1929), einem Werk aus einer Zeit, in der Arendt sich noch nicht dem Politischen zugewandt hatte, gilt ihr Interesse bereits der weltlichen Gemeinsamkeit von Menschen. Hier untersucht sie die Frage, wie der von Welthaftem isolierte Mensch in der Schau Gottes überhaupt noch ein Interesse am Nächsten haben kann.
Auf der Grundlage der antiken Philosophie und des republikanischen Denkens sowie mit Hilfe einer Zusammenführung von Existenzialismus, Phänomenologie und philosophischer Anthropologie unternimmt Arendt in ihren politisch motivierten philosophischen Hauptwerken eine Klärung des Verhältnisses des Politischen zur conditio humana, namentlich in Form von Leben, Erde, Welt, Pluralität, Gebürtlichkeit und Mortalität.
Ausgehend von ihrem persönlichen Leitmotiv Ich will verstehen (Arendt 1964a) bedeutet philosophisches Denken für Arendt kritisch-dialogische Hermeneutik, um die grundsätzliche Bedingtheit und Verfasstheit der Menschen sowohl im Bereich menschlicher Erfahrungen als auch in Bezug auf die Tätigkeiten der Menschen zu verorten. So geht Arendt in ihrem philosophischen Hauptwerk Vita activa oder Vom tätigen Leben (Arendt 1958) der grundsätzlichen Frage nach: „Was tun wir, wenn wir tätig sind?“ Diese Frage stellt sie vor dem Hintergrund ihrer Diagnose, dass die Reduktion von Denken und Handeln auf die Ebene eines utilitaristischen Pragmatismus sowie auf die Funktionalität und Prozesshaftigkeit der Arbeits- und Massengesellschaft die politische Handlungsdimension zerstört habe. Ihre modernitätskritische Beschreibung dieser Transformation zugunsten von Produktion und Konsumtion operiert mit der These der Entfremdung, jedoch im Unterschied zum marxschen Begriff: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung […] ist das Kennzeichen der Neuzeit.“ (Arendt 1958, 325)
Mit dem Ziel, das Politische und die menschliche Weltverbundenheit neu zu konstituieren, und der hiermit verbundenen Notwendigkeit, den privaten und den politischen Raum zu trennen, unterscheidet sie drei Typen menschlicher Tätigkeiten: das Arbeiten, welches sich auf die Reproduktion und den Stoffwechsel von Mensch und Natur bezieht; das Herstellen, das sich auf die Abhängigkeit einer gegenständlichen Welt konzentriert; und das Handeln, das die einzige Tätigkeit des politischen, öffentlichen Raums par excellence ist und das spezifische Menschliche des Menschen ausmacht. Handeln, das nach Arendt nur in Verbindung mit Sprechen sinnvoll ist, beinhaltet die Aspekte des Anfangens und des Weiterführens. Handeln im Sinne des Anfangens korrespondiert mit der menschlichen Kategorie der Gebürtlichkeit. Arendt knüpft hier an Augustinus’ Gedanken an, der Mensch sei ein initium, ein Anfang in der Welt und deshalb zum Anfangen begabt. Aufgrund der primären Beziehung zwischen Geburt und Existenz sind Menschen zur Initiative und somit zum politischen Handeln in der Welt befähigt. Somit ist Gebürtlichkeit als schlichte Tatsache, dass Menschen geboren werden, für Arendt die existenzielle Grundbedingung dafür, dass Handeln möglich ist und dass Handeln als die Fähigkeit zum Neuanfangen verstanden werden kann. Und nur indem Menschen miteinander kommunizieren, Beziehungen aufnehmen und an Handlungen anderer anknüpfen, werden die Bedingtheiten des politischen Raums – Pluralität und Freiheit – realisiert. In der Freiheit, der Möglichkeit mit anderen gemeinsam für eine Welt in Pluralität zu handeln, wird der Sinn des Politischen konstituiert (Arendt 1958, 1950).
In einer Umkehrung von Heideggers Weltbegriff öffnet Arendt seine Bestimmung für Begegnungen und Gespräche zwischen den Menschen, denn in ihnen kann überhaupt erst Welt – eine Zwischenwelt – entstehen. Dieser Konzeption einer politischen Welt, in der die gemeinsamen Angelegenheiten besprochen werden, liegt eine doppelte Wurzel zugrunde: eine römisch-griechische und eine augustinisch-christliche. Somit verbindet Arendt eine egalitär-revolutionäre Auffassung, die jedem Menschen aufgrund seiner Natalität die Freiheit (Arendt 1958, 1963a) zuerkennt, jedes Kontinuum eines politischen Prozesses zu unterbrechen, mit einem elitär-bürgerlichen Verständnis, das die Menschen als politische Wesen achtet und deshalb nahelegt, ihnen prinzipiell „das Recht, Rechte zu haben“ zuzugestehen (Arendt 1949, 1951, Brunkhorst 1999, 10).
Da Handeln im Beziehungsraum mit anderen Personen stattfindet, steht es im Zeichen der Prozesshaftigkeit einerseits und der Konfrontation mit besonderen Endlichkeits- und Bedingungsstrukturen andererseits. Zusammen führen beide Momente zu drei Problemen: Bezogen auf die Vergangenheit die Unwiderruflichkeit des Getanen, bezogen auf die Zukunft die Unvorhersehbarkeit des Tuns und bezogen auf die beteiligten Menschen die drohende Anonymität der Handelnden. Traditionell wurde mindestens auf die zeitlichen Probleme mit der Tätigkeit des Herstellens, also mit Berechnungen und einem Zweck-Mittel-Denken, geantwortet. Arendt findet „Heilmittel“ (Arendt 1958, 301), die in der Potenzialität des Handelns selbst liegen: Verzeihen, also die Freisetzung einer Person aus der Vergangenheit, und das Versprechen, die Eingrenzung der Willkürlichkeit für die Zukunft. Beide Fähigkeiten sind an Personen gebunden, die somit notwendig aus der Anonymität heraustreten und im öffentlichen Raum erscheinen müssen als „wer“ sie sind. Sosehr die Fähigkeiten des Verzeihens und Versprechens an bestimmte Personen gebunden sind, so bieten sie dennoch Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Institutionenlehre des Politischen; mit ihrer kritischen Haltung gegenüber der repräsentativen Demokratie favorisiert Arendt ein Rätesystem (Arendt 1963a, 327ff.).
Das Politische in Bezug auf Verhältnisse – wie z.B. die zwischen „Wahrheit und Politik“ (Arendt 1961a), „Lüge und Politik“ oder „Macht und Gewalt“ (Arendt 1970) – sowie die Tradition politischer und philosophischer Grundbegriffe – wie „Autorität“ (Arendt 1956) und „Erziehung“ (Arendt 1958c) oder „Politik“ und „Freiheit“ (Arendt 1958b, 1962) – untersucht Arendt in vielen ihrer Aufsätze und bezieht diese Reflexionen auf aktuelle strittige Themen (Arendt 1961, 1959).
Der Verlust von Sinn, von Arendt in Anlehnung an Gabriel Marcels Bild einer „zerbrochenen Welt“ (Marcel 1933), einer Welt ohne Tradition, beschrieben, kennzeichnet die Kontingenz der menschlichen Bedingungen und Verfasstheiten des 20. Jahrhunderts. Ihr Begriff der Verlassenheit übersetzt das heideggersche Gefühl der Uneigentlichkeit in ein Szenario der Atomisierung, Anonymisierung und in die Wertlosigkeit der Menschen und beschreibt die Erfahrung der Sinnlosigkeit des Daseins. „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt und sie so gut vorbereitet für die totalitäre Herrschaft, ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit.“ (Arendt 1951, 729)
Unter dem Eindruck des Holocaust vergleicht Arendt in ihrer Analyse der Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft die Entstehungsbedingungen von nationalstaatlichem Totalitarismus im 19. Jahrhundert mit der Geschichte des Antisemitismus und untersucht die strukturellen Ähnlichkeiten des Wesens und der Prinzipien von Faschismus und Stalinismus. In diesem geschichtstheoretischen und philosophischen Grundlagenwerk, das in drei Abschnitte – Antisemitismus, Imperialismus und totale Herrschaft – eingeteilt ist, bestimmt Arendt den Nationalsozialismus als Folgeerscheinung des Antisemitismus und Imperialismus und attestiert dem Wesen der totalitären Herrschaft eine neue Qualität, die sich mit den zur Verfügung stehenden moralischen Begriffen nicht fassen lässt. Denn selbst Mord wird unter totalitären Herrschaftsverhältnissen so organisiert, dass Beteiligte subjektiv unschuldig erscheinen (Arendt 1951, 704). Diese Aufsprengung des Kontinuitätszusammenhangs von Geschichte, moralischen Begriffen und politischen Kategorien ist möglich, wenn der gesunde Menschenverstand, das Gewissen und sogar die Wirklichkeit durch eine totalitäre Ideologie ersetzt werden und die Transformation der menschlichen Natur – und nicht allein eine Umformung der gesellschaftlichen Ordnung – angestrebt wird. In ihrem kritischen Blick auf Ideologien, insbesondere sozialdarwinistischer Prägung, zeigt Arendt – insbesondere in einem 1968 angefügten dritten Teil zum Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft – mit begrifflicher Stringenz, dass es diesen Weltanschauungen in erster Linie um eine zum System erhobene Doktrin geht, die nicht erklärt, was ist, sondern, was sein wird. Außerdem zielt sie auf die Liquidierung des Einzelnen und seiner Urteilkraft ab und erhebt eine anonyme Gesellschaft, eine lenkbare und berechenbare Masse, zum Ideal. Um die Emanzipation von der Wirklichkeit und die Liquidierung, also die Tötung der „juristischen“ und „moralischen Person“ (ebd., 692), sowie die Zerstörung der Individualität und Spontaneität zu erreichen, ist Terror notwendig. Der Terror ist das Wesen der totalitären Herrschaft. Er vollstreckt die ideologische Doktrin, die sich als Bewegungsgesetz der Geschichte und Natur ausgibt und die mit der „Eiskälte der menschlichen Logik“ (ebd., 720, ähnlich auch Adorno 1966, 356) abgeleitet wird. Die neue Qualität der totalitären Herrschaft besteht im Unterschied zur Tyrannis oder Diktatur darin, dass sie alle, nicht nur politische, Lebensbereiche vereinnahmt und versucht, Menschen total gleichzuschalten (Arendt 1951). Die Gleichschaltung beginnt mit Propaganda und einem zeitweiligen Bündnis zwischen „Mob und Elite“ (ebd., 528), wird dann, wie Arendt beobachtet, unterstützt durch Terror bis hin zur systematischen Reduktion von Menschen auf „Reaktionsbündel“ (ebd., 676) und mündet schließlich in der „Fabrikation von Leichen“ in Konzentrationslagern. Die „vollendete Sinnlosigkeit“ (Arendt 1950a, 77) dient der totalen Beherrschung der Menschheit, in der aber dem einzelnen Menschen oder der einzelnen Tat jeglicher Sinn oder Zweck abhanden gekommen ist.
Im Zusammenhang mit ihrem Interesse für die jüdische Identität hat Arendt die Rolle der Jüdin, am Beispiel der Lebensgeschichte Rahel Varnhagens, in der preußischen Gesellschaft des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nacherzählt. Diese Nacherzählung gibt Arendt die Gelegenheit, bereits in ihrer Habilitationsschrift das Spannungsfeld zwischen Assimilation – später auch „Gleichschaltung“ (Arendt 1951) genannt – und Fremdheit zu entfalten, das auf die Unterscheidung des französischen Journalisten Bernard Lazare zwischen dem Parvenue, dem „Schnorrer“, dem Angepassten und Aufstiegsbewussten, und dem Paria, dem „Revolutionär“, dem Verfolgten und Diskriminierten, der in seiner Rolle als Außenseiter verbleibt, zurückgeht (Arendt 1958a, 1948, 55, 62f.; 1951).
Die Frage nach Mittäterschaft und Schuld interessiert Arendt, als sie 1961 den Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann in Jerusalem beobachtet. Schockiert von der „Normalität“ des Angeklagten revidiert sie den kantischen Begriff des „radikalen Bösen“ (Arendt 1951, u.a. 701f.), den sie noch in Ursprünge und Elemente totaler Herrschaft benutzt hatte. Stattdessen verwendet sie in ihrem Bericht den Ausdruck von der „Banalität des Bösen“ (Arendt 1963, Smith 2000). Arendt zeigt nun, dass weniger das Böse im Sinne sadistischer Triebe, sondern die schlichte Gedankenlosigkeit Mittäter totalitärer Herrschaft zu bösen Taten verleiten kann. Diese Beobachtung berührt den Zusammenhang von Denken und Moral (Arendt 1971, 2003) und motiviert Arendt zu der Frage nach den elementaren Erfahrungen, die zum Denken Anlass geben, sowie zu der Frage, ob es wohl sein könnte, dass das Denken, d.h. „die Gewohnheit, alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergebnisse […], zu den Bedingungen gehör[t], die die Menschen davon abhalten […], Böses zu tun“ (Arendt 1977, 15).
In einem Analogieschluss überträgt Arendt ihre Grundfrage von Vita Activa auf den Bereich der Vita Contemplativa und analysiert auf der Basis philosophischer Klassiker von der Antike bis zur Gegenwart drei Formen geistiger Tätigkeit: Denken, Wollen und Urteilen. Von den Vorlesungen, die im Buch Vom Leben des Geistes zusammengeführt sind, konnte Arendt zu ihren Lebzeiten allerdings nur die beiden Teile zum Denken und Wollen fertig stellen. Bereits in diesen beiden jedoch fällt eine gedankliche Grundrichtung auf, die entlang der Leitlinien der abendländischen „Denker von Gewerbe“ und ihrer metaphysischen Irrtümer auf das Urteilen zustrebt. Denn das Urteilen ist „Nebenprodukt“ (Arendt 1971, 155) und Verwirklichung des Denkens in der Welt. Arendt geht es nicht nur um die Beschreibung der geistigen Tätigkeiten an sich, sondern um den Versuch eines gelingenden Heimisch-Werdens in einer „zerbrochenen Welt“. Dem Denken mutet Arendt – von den sokratischen Dialogen inspiriert – die Kraft zu, den Lauf der Welt und unsere Tätigkeiten zu unterbrechen, Vormeinungen außer Kraft zu setzen und das Sinnliche zu entsinnlichen. Somit steht das Denken außerhalb der Welt der Erscheinungen und der Ordnung, es führt zu keinem Ergebnis, aber es ist die ständige Suche nach Sinn (und nicht notwendigerweise: nach Wahrheit). Denken befreit uns von den Erfahrungen und von den Handlungen in der Welt, gleichzeitig setzt es die Urteilskraft frei. In der Befreiung und Hinterfragung von Werten, Meinungen und Begriffen verwirklicht das Denken die politischste Fähigkeit des Menschen: die Urteilskraft. Deshalb braucht Urteilen das Denken.
Arendts Begriff der Urteilskraft geht auf Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, zurück. Sie unterstellt Kants Beschäftigung mit Ästhetik und Naturphilosophie eine verborgene politische Philosophie, weshalb Arendt den kantischen Begriff des Geschmacksurteils politisch wendet und ihm die Aufgabe zumutet, über das Besondere zu urteilen, ohne es sofort unter eine allgemeine Regel zu subsumieren, und dieses Urteil mit anderen abzustimmen. Deshalb ist es für Arendt bedeutsam, dass die reflektierende Urteilskraft im Sinne eines „Gemeinsinns“ (Arendt 1977a, 221; 1953, 121) den individuellen Horizont zu überschreiten vermag. Auch hier übernimmt Arendt wesentliche Aspekte von Kants Forderungen an die Urteilskraft: Selbstdenken, an Stelle jedes anderen Denkens; jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. Kants zweite Maxime, die erweiterte Denkungsart, ist jene, die Arendt für die politische hält (Arendt 1977a, 210). Für die Sinnstiftung einer gemeinsamen Welt braucht es neben der Reflexionsfähigkeit des Denkens und der Urteilskraft auch die Freiheit des Wollens. Ausgangsthese ist, dass der Wille, wenngleich privat, notwendiges Postulat jeder Ethik oder jedes Rechtssystems und ebenso ein „unmittelbares Bewußtseinsdatum“ ist (Bergson 1889). Arendt rekonstruiert die erst im Mittelalter beginnende Geschichte des Willens, führt sie über die Neuzeit und den Deutschen Idealismus – unter gedanklicher Leitung des späten Heidegger zur Vorstellung des Willens – zum Nicht-Wollen und zeigt, dass die Freiheit des Willens von solchen Philosophen interpretiert wurde, die eher „dem bios theôrêtikos“ und daher mehr der Naturbestimmung und weniger dem Handeln in der Welt und der Idee, „sie zu verändern“, verpflichtet sind (Arendt 1977a, 185). Ziel ihrer Untersuchung ist es, Anknüpfungsmomente eines Begriffs des Wollens zu finden, der in der Verbindung von Denken und Urteilen auf die Sorge für die Welt ausgerichtet und mit Verantwortung verbunden werden kann.
Eines ihrer prägnantesten „Denkbruchstücke“ (Arendt 1968, 242) ist Augustinus’ Begriff des Willens als principium individuationis und sein Verweis auf die Gebürtlichkeit, die Arendt als die Fähigkeit, neu zu beginnen, und als Tatsache, dass immer wieder neue Generationen in der Welt neu beginnen, hervorhebt (Arendt 1951, 1958, 1963a). Der Verweis auf das Geborensein könnte bedeuten, wir seien zur Freiheit und somit zur Verantwortung verurteilt. Aber anders als Sartre benutzt sie vor dem Hintergrund ihrer Analyse der Urteilskraft den Verantwortungsbegriff sehr vorsichtig und vielschichtig: Es ist möglich, sich der „furchtbaren Verantwortung“ zu entziehen und sich einem Fatalismus zuzuwenden (Arendt 1977a, 207); wir übernehmen Verantwortung für „die nackte Tatsache des Geborenseins“ (Arendt 1958, 165), indem wir uns handelnd und sprechend in die Welt einschalten; politische Verantwortung setzt politische Macht voraus, die Frage der persönlichen Verantwortung stellt sich für jene, die wider ihre Überzeugung ein System in Betrieb halten (Arendt 1964); menschlich betrachtet müssen wir „weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben“ (Arendt 1951, 704).
Hannah Arendts Werk hat nicht nur viele Zeitgenossen fasziniert, sondern ist auch in der gegenwärtigen Philosophie aufgrund des originellen und eigenständigen Denkstils, der Kritik an totaler Herrschaft und des existenzphilosophischen Ansatzes (Arendt 1946) breit rezipiert, wenngleich kaum ein Konsens darüber besteht, was die von Arendt ausgehende Faszination ausmacht; auch führte ihre Rezeption weder zu einer Schulbildung noch zu einem deutlich auszumachenden Forschungsstand.
Das Totalitarismus-Buch machte sie berühmt, und ihre neue Form von Geschichtsschreibung sorgte für zahlreiche politische Debatten zwischen unterschiedlichen politischen Lagern. Das Buch Eichmann in Jerusalem verstrickte Arendt in den 1960er Jahren aufgrund ihrer Thematisierung der Rolle der Judenräte und ihrer These der „Banalität des Bösen“ in heftige internationale Kontroversen. Besonders ihr Gebrauch des Begriffs „banal“ (z.B. Arendt 1963b, Smith 2000) führte zum Vorwurf, sie verharmlose die furchtbaren Mordtaten. Gegenwärtig gewinnen Arendts Vorbehalte gegen eine „Pathologisierung der Täter“ (Reemtsma 1999) mehr Anerkennung. In der politischen Theorie hat Jürgen Habermas in den 1970er Jahren Arendts Werk als „kommunikative Macht“ neu gelesen (Habermas 1981b). Außerdem knüpfte man im Zusammenhang mit dem Thema der „Zivilgesellschaft“ in den 1980er Jahren und später auch in der feministischen Theoriebildung (Benhabib 1996, Caverero 1989, Kristeva 2001) an ihre politischen und philosophischen Überlegungen an. Aufgrund ihres theoretisch anders ausgerichteten Hintergrundes und ihrer eher abschätzigen Bemerkungen über „Frauenprobleme“ sind feministische Anschlüsse an Arendt jedoch eher spärlich.
Arendt gehört zu den wenigen Theoretikern des 20. Jahrhunderts, denen es gelingt, den Erfahrungsgrund als „Zeitzeugin“ mit philosophischen Einsichten zu verknüpfen. Ihr „Denken ohne Geländer“ (Arendt 1951, 35; 1972, 110; Knott 2011) oder, in Anlehnung an Walter Benjamin, ihre Suche als „Perlentaucher“ (Arendt 1968, 229ff.), ihr komplexer, narrativer und biographischer Stil und ihr Verständnis von Politik als Sorge für die Pluralität und Freiheit einer gemeinsamen Welt passen in den Zusammenhang postmoderner Diskurse.
Literatur: Arendt 1958, Arendt 1961, Arendt 1996, Heuer, Heiter, Rosenmüller 2011, Schönherr-Mann 2006, Young-Bruehl 1982
Bibliographie: Arendt 1996
Webseiten: www.hannaharendt.net; www.arendt-zentrum.uni-oldenburg.de
Christina Schües