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Benjamin, Walter

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Geboren 1892 in Berlin, Selbstmord 1940 in Port Bou (frz.-span. Grenze). Kindheit in Berlin, Studium der Philosophie und Philologie in Freiburg, Berlin, München, Bern. Während des Studiums Engagement in der von Gustaf Wyneken initiierten Freistudentischen Bewegung. Promotion 1919, 1925 Ablehnung des Habilitationsantrags an der Frankfurter Universität. Statt der versperrten akademischen Karriere publizistische Tätigkeit für Zeitungen, Zeitschriften und den Rundfunk. Ab 1933 im Exil, meist in Paris.

Zahlreiche Reisen, teils aus privaten, teils aus beruflichen oder politischen Gründen, führen Benjamin durch weite Teile Europas und bis nach Moskau und sind immer wieder Anlass philosophisch-literarischer Reflexionen oder publizistischer Projekte. Besonders aber im letzten Lebensjahrzehnt werden Reisen (und die mit ihnen verbundenen Aufenthalte bei Freunden) sowie zahlreiche Umzüge innerhalb von Paris nun aus Gründen materieller Not unternommen; allein die Förderung durch das Institut für Sozialforschung bietet eine finanzielle Grundsicherung. Benjamin bewegt sich, bedingt durch das Exil (seit März 1933; offizielle Ausbürgerung 1939) und die immer schlechter werdenden Publikationsmöglichkeiten, am Rande des Existenzminimums. Gleichwohl entsteht im Pariser Exil zwischen 1933 und 1940 Benjamins bedeutendes Spätwerk, zu dem Arbeiten gehören wie etwa das Passagenprojekt (Benjamin 1982), der Kunstwerkaufsatz (Benjamin 1936), die Texte zu Baudelaire (Benjamin 1923) und zahlreiche andere, sowie als letztes abgeschlossenes Werk, die 1940 in der Zeit vor seinem Tod verfassten Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ (Benjamin 1942).

Es ist nicht falsch, die Beschreibung der Profession Walter Benjamins weit aufzufächern und ihn sowohl als Publizisten, Schriftsteller, Kritiker, Kulturtheoretiker, Intellektuellen oder auch als Philosophen zu bezeichnen. Die skizzierten Umstände seines Lebens und Arbeitens haben das ihre zu dieser Vielgestaltigkeit beigetragen. Doch erklärt das nicht alles. Bei der Lektüre seiner Texte – gleich welcher Schaffensperiode – lässt sich die Erfahrung machen, dass Benjamin sich in der Anlage seiner Texte, in der Methodik seiner Analysen, in seinen theoretischen Referenzen und der Auswahl der Themen keine theoretischen, disziplinaren oder „schulischen“ Grenzen auferlegt hat bzw. auferlegen ließ. So finden sich in seinem Werk ebenso akademische Untersuchungen und philosophische Abhandlungen wie etwa auch journalistische Rezensionen, aphoristische und experimentelle Textformate bzw. -anordnungen, Reiseberichte, Texte für den Rundfunk, selbst Sonette.

Neben die Vielfalt der Textformen tritt jene der theoretischen Perspektiven. Der Leser Benjamins sieht sich immer wieder mit dem unvermittelten Nebeneinander verschiedenartigster Deutungsmuster konfrontiert: Soziologische und kulturhistorische Analysen werden mit surrealistisch anmutenden Erfahrungsbeschreibungen verknüpft, Politische Philosophie mit Messianismus, auf phänomenologisches Denken in einem Satz folgt marxistisch-materialistisches im nächsten, bildlich-allegorische Reflexionen werden zu geschichtsphilosophischen Thesen, Gedichtanalysen bilden den Ausgangspunkt kulturphilosophischer Panoramen, Ästhetische Theorie verbündet sich mit kritischer Gesellschaftsanalyse, dialektische Zuspitzungen werden gefüllt mit metaphysischen bzw. theologischen Begriffen und so weiter.

Dass diese Textarbeit Benjamins sich nicht im literarischen Spiel erschöpft, hat schon Adorno gesehen und macht einen philosophischen Anspruch Benjamins geltend, indem er vom „Rebus“, im Sinne einer bildhaften Darstellungsweise des Denkens, spricht (Adorno 1990, 10); genauer gesagt: Im Denkbild sind es „in der Tat die Dinge, die die Bedeutungen tragen. Sie ‚verraten‘ etwas, sie geben etwas ‚abzulesen‘, sie ‚künden‘, geben ein ‚Zeichen‘, ‚lehren‘, ‚versprechen‘, ‚wissen‘, ‚blicken‘, ‚warten‘, sind ‚Winke‘.“ (Lindner 2000, 87) Benjamins Bilddenken ist insofern als wichtige und analytische Arbeitsform mit eigenem „erkenntnis- und geschichtstheoretischen Status“ zu verstehen – eingewohnte Dichotomien – wie etwa „Form und Inhalt, aber auch […] Theorie und Praxis, Politik und Kunst, Kontext und Text, Individuum und Kollektiv etc.“ – können auf diese Weise instabil werden (Weigel 1997, 16).

Man mag solche textuellen Umstände während der Lektüre als Zumutung empfinden. Doch sind sie Resultat reflektierter Autorschaft, die sich der Frage nach den begrifflichen Möglichkeiten und intellektuellen Strategien philosophischer Wahrheitssuche eigens widmet. Benjamins eigene Antwort hierauf ist die Missachtung akademischer Fachgrenzen oder vermeintlich sich widersprechender Formen des Denkens und Schreibens. Die politischen Implikationen dessen hatte Hannah Arendt schon früh benannt: „Walter Benjamin wußte, daß Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluß, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu suchen. In diesem Umgang wurde er ein Meister, als er entdeckte, daß an die Stelle der Tradierbarkeit der Vergangenheit ihre Zitierbarkeit getreten war, an die Stelle ihrer Autorität die gespenstische Kraft, sich stückweise in der Gegenwart anzusiedeln und ihr den falschen Frieden der gedankenlosen Selbstzufriedenheit zu rauben.“ (Arendt 1971a, 49)

In dieser theoriepolitischen Hinsicht ist die werkinterne philosophische Spannung von Politischer Philosophie, Geschichtsphilosophie und Theologie im Werk Benjamins sicher am auffallendsten. Sowohl Freunde und Zeitgenossen Benjamins als auch die wissenschaftliche Nachwelt haben sich lange gestritten, ob Benjamin ein theologischer Denker gewesen sei, der durch politische Intellektuelle von diesem Denken abgelenkt worden sei (darunter Scholem), oder ob er ein Materialist bzw. Marxist sei, der es nur aufgrund noch abzustoßender theologischer Residuen nicht schaffe, seine Arbeiten „durchzudialektisieren“ und von metaphysischem Ballast zu befreien (für diese Sicht mögen Brecht und Adorno genannt sein) (Küpper, Skrandies 2006, 32–38). Man wird heute verstehen können, dass es Benjamin um etwas anderes geht: Er war nicht in Not, sich auf eine der beiden Seiten (oder irgendeine andere) schlagen zu müssen. „Mein Denken“, schreibt Benjamin in einer unveröffentlichten Notiz des Passagenprojekts (die sich auch in den Aufzeichnungen zu den Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ findet), „verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen. Ginge es aber nach dem Löschblatt, so würde nichts was geschrieben ist, übrig bleiben.“ (Benjamin 1982, 588) Sein Interesse gilt zeitlebens dem gedanklichen Experiment, das den intellektuellen Ritualen des Betriebs entgegensteht.

Worin bestehen nun – vor dem Hintergrund der bisher geschilderten Bedingungen – auf inhaltlich-thematischer bzw. begrifflicher Ebene Benjamins Beiträge zur philosophischen Theoriebildung? Sie sind zunächst in der Auseinandersetzung mit Metaphysik und Erkenntnistheorie zu finden; weiterhin befasst sich Benjamin immer wieder mit sprachphilosophischen Problemen; ebenso ist Benjamins Denken durchzogen von einer Arbeit an Geschichtsphilosophie und Politischer Philosophie; schließlich bilden Ästhetik und Medienphilosophie einen weiteren Werkschwerpunkt. Eine solche an philosophischen Disziplinen orientierte Charakterisierung ist bei Benjamin werkgenetisch auszuweisen; die genannten philosophischen Problemfelder sind allesamt schon früh entwickelt.

Metaphysik und Erkenntnistheorie – Oftmals scheinen Texte Benjamins der eigenen Standortbestimmung zu dienen. 1917 stellt er einen Aufsatz mit dem Titel „Über das Programm der kommenden Philosophie“ fertig (Benjamin 1963). Man kann diesen Text als Zentrum oder konzeptionellen Kern der philosophischen, sprach- und kunsttheoretischen Arbeiten aus jener Phase ansehen. Hatte er in dem im Winter 1914/15 verfassten Kommentar zu zwei Gedichten Hölderlins die „Intensität der Verbundenheit der anschaulichen und der geistigen Elemente“ auf den Begriff des „Gedichteten“ als der Sphäre der Wahrheit von Dichtung gebracht (Benjamin 1955, 108), und war Benjamin in dem frühen Sprachaufsatz „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ von 1916 (Benjamin 1977) zu einem umfassenden Sprachbegriff als einer Übersetzungs-Mannigfaltigkeit zwischen Offenbarung und Erkenntnis gelangt, stellt er in seinen Überlegungen zu einem „Programm der kommenden Philosophie“ die Auseinandersetzung mit Kant, dem Neukantianismus bzw. der Marburger Schule und der Phänomenologie hinsichtlich des Verhältnisses von Erkenntnis und Erfahrung in den Mittelpunkt. Zwar lässt sich auch im Hölderlin-Kommentar (Beschäftigung mit Ästhetik und Kunstkritik der Romantik) und im Sprachaufsatz (Sprache als un-mittelbare Grundlage aller Erkenntnis und Erfahrung) eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen von Metaphysik und Transzendentalphilosophie finden, doch im Unterschied zu diesen beiden Texten, fällt die Schrift über die „kommende Philosophie“ durch ihren – wie es der Titel schon annonciert – programmatischen Ton auf.

Insofern es der Philosophie an einer „Rechtfertigung“ von Erkenntnis als ihrer Kernaufgabe gelegen ist, hat die kommende Philosophie sich am Kantischen System zu orientieren, um darauf aufbauend eine Neufassung des Verhältnisses von Erfahrung und Erkenntnis zu entwickeln (Benjamin 1963, 157, 163f., 168) und „unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische Fundierung eines höhern Erfahrungs-begriffes vorzunehmen“ (ebd., 160). Während Benjamin diese höhere Erfahrung als Metaphysik bezeichnet, versteht er seinen Text als Prolegomena zur Ausarbeitung eines solchen metaphysischen Erfahrungskonzepts. Und wenngleich Kant den Ausgangs- und Orientierungspunkt bilden soll, sieht Benjamin doch zwei grundsätzliche Hindernisse („Unzulänglichkeiten“) in dessen Philosophie, die auch der Neukantianismus (den Benjamin durchaus würdigt) nicht zu beheben weiß: „erstens die bei Kant trotz aller Ansätze nicht endgültig überwundene Auffassung der Erkenntnis als Beziehung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oder irgendwelchem Subjekt oder Objekt; zweitens, die ebenfalls nur ganz ansatzweise überwundene Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung auf menschlich empirisches Bewußtsein“ (ebd., 161). Den Erfahrungsbegriff so anzulegen, dass er auch religiöse Erfahrung „logisch ermöglicht“ (ebd., 164) und „Gott“ als „Inbegriff“ der „reinen Erkenntnis“ denkbar werden lässt, erfordert also für die Erkenntnistheorie zunächst, alle Erfahrung durch ein von allem Subjekthaften befreites „reine[s] transzendentale[s] Bewußtsein“ zu fundieren (ebd., 163). Des Weiteren macht es nötig, Abstand zu gewinnen von der Ausrichtung des Denkens am „mathematisch-mechanisch orientierten Erkenntnisbegriff“ (ebd., 168), wie Benjamin es in der Strategie des Neukantianismus identifiziert (Benjamins 1972a). So ist es dem Schlussteil der benjaminschen Programmschrift vorbehalten, anzugeben, wodurch der kommende Erkenntnisbegriff gewonnen werden kann: durch die „Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis“, durch „eine Beziehung der Erkenntnis auf die Sprache“ (Benjamin 1963, 168), die die Immanenz des – begrifflich auf Husserl anspielenden – „reine[n] transzendentale[n] Bewußtsein[s]“ ausmacht (Hamacher 2001, 211f., Fenves 2006).

Sprachphilosophie – Diesem „Programm“ liegt eine Auffassung von Sprache und Übersetzung zu Grunde, die Benjamin bereits 1916 formuliert hatte. Spätestens mit seinem Text „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“ (Benjamin 1977) eröffnet sich Benjamin das sprachphilosophische Feld, das sein gesamtes Werk prägen wird (Benjamin 1923, 1928, 1935, 1955, 1972). In diesen Texten ist Sprache nicht nur Thema, sondern insbesondere Ordnung des eigenen sprachlichen Tuns in seiner Mitteilbarkeit ebenso wie in seinem in ihm verbleibenden „Nicht-Mitteilbare[n]“ (Benjamin 1923, 19).

Der frühe Sprachaufsatz verortet jene in der Programmschrift erörterte Möglichkeitsbedingung höherer Erfahrung in der Sprache, weil diese als un-mittel-bares Medium Sphäre der „Offenbarung“ des Wesens aller geistigen Entitäten sein kann (Benjamin 1977, 146). Je nach Intensitäts- bzw. Dichte-Grad von „geistigem“ und „sprachlichem“ Wesen gehen die Sprachen von Dingen, Menschen und von Gott in einem offenen Kontinuum ineinander über: „Übersetzung“ wird zur zentralen Eigenschaft geistiger Erkenntnis-Ereignisse; mithin ist sie Übergang „des Namenlosen in den Namen“, ohne jedoch selbst jenem Kontinuum anzugehören (ebd., 151; Hamacher 2001, 215–220, 232–235; allg. zum Kontext von Benjamins frühem Sprachaufsatz: Menninghaus 1980, Menke 1991, Steiner 2006; zum Übersetzer-Aufsatz: Hirsch 1995, 2006; zur späteren Sprachphilosophie: Lemke 2006; aufs Gesamtwerk bezogen: Welbers 2009).

Verdichtet findet sich diese nicht-instrumentelle Bestimmung des Wesens von Sprache in einem kurz vor dem Sprachaufsatz verfassten Brief an Martin Buber (Benjamin 1995). Die Sprache wird hier mit Fragen der (politischen) Tat und Wirkung verknüpft: Entgegen einem Begriff von Sprache, der diese als Vermittlungs-Technologie oder (Kommunikations-) Mittel zu einem außerhalb ihrer liegenden Zweck auffasst, richtet sich Benjamins Aufmerksamkeit auf das der Sprache eigene Verhältnis zu dem ihr „Unsagbaren“. Nur da, wo Schreiben „auf das dem Wort versagte“ hinführt, kann es „magisch das heißt un-mittel-bar“ (Benjamin 1995, 325; 1977, 142) Wirkung zeigen. Gerade die Lösung von einer zweckrationalen „Wirksamkeit“ soll einen Begriff „sachlichen und zugleich hochpolitischen Stils und Schreibens“ ermöglichen (Benjamin 1995, 325; Weber 2006).

Geschichtsphilosophie und Politische Philosophie – Benjamin gilt zu Recht auch als politischer Autor – doch wird man ihn kaum (wohl mit Ausnahme seiner Aktivitäten im Umfeld von Wyneken und der Freien Studentenschaft 1912–15) als engagierten Intellektuellen, etwa im Sinne Sartres, bezeichnen können. Der Ablehnung einer Einladung zur Mitarbeit an der Zeitschrift Der Jude, die der äußere Anlass des oben erwähnten Briefes an Buber war, liegt die Haltung zu Grunde, Schreiben und Sprache nicht als Mittel zur Handlungsmotivation bzw. -suggestion und gemeinhin erhofften Wirksamkeit politischen Aktivismus zu verwenden. Schreiben wird vielmehr dadurch „hochpolitisch“, dass es von den Kontexten suggerierbarer Wirksamkeit wegführt und wiederum hinführt zu dem im Wort diesem Versagten und doch in ihm Bewahrten (Benjamin 1995, 325). Schrift bzw. Schreiben dringt auf diese Weise in Sprache ein und wird in der Realisierung derjenigen Einsicht politisch, nach welcher gerade die „Zäsur in der Denkbewegung“ (Benjamin 1982, 595) philosophische wie politische Wahrheitsereignisse möglich macht. Diese sind nicht ohne die Reflektion auf ihre Genesis und Konstruktion zu haben.

Selbstverständlich erfasst es nicht den ganzen Benjamin, sein Denken auf das Moment von Schreibstrategien zu fokussieren. Denn ein kritischer Intellektueller, der im Sinne der politischen Philosophie über die Konkreta der Aktualität und die eigene Zeitgenossenschaft zu reflektieren weiß, ist Benjamin durchaus: Texte wie „Zur Kritik der Gewalt“ (Benjamin 1965) oder die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“ (Benjamin 1942), die konkret wohl auch als Reaktion auf den Hitler-Stalin-Pakt zu lesen sind, insbesondere aber die Defizite des Weimarer Antifaschismus adressieren. Es sind vor allem diese und andere Texte (Benjamin 1955a, Benjamin 1985, Steiner 2004, 74–82), die Benjamin unter die bedeutenden politischen Analysten und Philosophen des 20. Jahrhunderts zählen lassen. Sie sind getragen von dem Anspruch der radikalen und kompromisslosen Begriffsfindung. Das wurde insbesondere in dem rechtsphilosophischen Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ bemerkt (Derrida 1994, Lindner 1997, Honneth 2006a), der – unter anderem Georges Sorels Theorie des Generalstreiks und Erich Ungers politische Theorie verarbeitend – sich der Verhältnisbestimmung von Recht setzender und Recht erhaltender Gewalt als einem historischen und mythischen „Schwankungsgesetz“ einerseits und einem Ereignis göttlicher Gerechtigkeit als „reiner Gewalt“ andererseits widmet (Benjamin 1965).

Benjamins Ethos ist gespeist durch das Wissen, dass es schwerer ist, „das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.“ (Benjamin 1942, 700) Sich dem bzw. den Namenlosen zu widmen bedeutet, nicht nur in sprachphilosophischer, sondern ebenso in politischer Hinsicht, Vergessenes, vermeintlich Abgeschlossenes, Verschwiegenes oder Unterdrücktes erneut lesbar zu machen. Dadurch wird ermöglicht, das, was „Politik“ und „Geschichte“ heißt, zu öffnen: sie einer anderen Konstruktion zu unterziehen und eine politische Erkenntnis möglich zu machen, die sowohl das Katastrophische des homogenisierenden Fortschrittsdenkens erkennbar werden lässt (wie Benjamin es in „Über den Begriff der Geschichte“ reflektiert), als auch das „positive Barbarentum“ (Benjamin 1933, 215; zum Werkkontext: Lindner 2006a) eines in der Darstellung stets neu beginnenden Autors möglich macht. Das zeigen insbesondere das Passagen-Werk (Benjamin 1982), das die materiale und theoretische, wenngleich in sich fragmentarische, Referenzgröße des gesamten Spätwerks ausmacht, und die Geschichts-Thesen. Hier erweist sich, dass Geschichtsphilosophie in ihrer medialen Form als Geschichtsdarstellung stets auch ein politisches Unterfangen ist. Für das Passagenprojekt lässt sich das auf die Frage zuspitzen, wie die Erkenntnis des historisch jüngst Vergangenen für die eigene Gegenwart zu erlangen ist. So ist Benjamin in diesem Werkzusammenhang grundsätzlich an einer Erkenntnistheorie der Geschichte gelegen (Benjamin 1995, 503), die er an der Materialität der Pariser Passagen reflektiert und entwickelt (Skrandies 2010, Adorno 1994). Einige der Aufzeichnungen des Passagenprojektes finden schließlich Eingang in die Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, die – neben den oben skizzierten zeithistorischen Umständen – als geschichtsphilosophische Fortschrittskritik gelesen werden können: „Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Geschichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlaufenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fortgangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts überhaupt bilden.“ (Benjamin 1942, 701) Außerdem stellen die Thesen quasi-methodische Ausführungen darüber zur Verfügung, wie der „historische Materialist“ andere Geschichtsdarstellungen und -analysen – im Spannungsfeld von Philosophie, Politischer Theorie und Theologie – vornehmen sollte (ebd.), die jenseits historiographischer und historischer Konzeptionen eines homogenen Kontinuums liegen. Mithilfe eines geschichtsphilosophischen Erkenntnismodells, das Benjamin als „Dialektisches Bild“ bezeichnet, kann nun an die Stelle jener historistischen „Einfühlung“ die an ein „Jetzt“ gebundene Erkennbarkeit des Vergangenen treten: In der momenthaften Dekontextualisierung von Gewesenem tritt dieses mit Gegenwärtigem in eine bildhafte Beziehung (Benjamin 1982, 576ff.; Hamacher 2002).

Gewesenes in seiner Dialektik zu einem Jetzt der Erkennbarkeit zu denken, zeigt dann auch – mit Benjamins Adaption Freuds und des Surrealismus –, dass Geschichtsphilosophie Arbeit am Erwachen ist: Ebenso wie die Traumbilder erst im Erwachen verstanden oder analysiert werden (können), ist Gewesenes von der Gegenwart und der eigenen Aktualität her zu erschließen; wird materiale Geschichtsschreibung, wie sie Benjamin etwa im Passagenprojekt verfolgt, zu einem „Akt der politischen Besinnung“: „Die kopernikanische Wendung in der geschichtlichen Anschauung ist dies: man hielt für den fixen Punkt das »Gewesene« und sah die Gegenwart bemüht, an dieses Feste die Erkenntnis tastend heranzuführen. Nun soll sich dieses Verhältnis umkehren und das Gewesene seine dialektische Fixierung von der Synthesis erhalten, die das Erwachen mit den gegensätzlichen Traumbildern vollzieht. Politik erhält den Primat über die Geschichte.“ (Benjamin 1982, 1057f.)

Ästhetik und Medienphilosophie – Es gibt im Werk Benjamins zahlreiche Scharnierstellen, an denen Politik mit Geschichte, Messianismus mit Politik, Geschichte mit Metaphysik etc. verknüpft werden. Hinzu tritt oftmals – wie etwa in „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (Benjamin 1936, Lindner 2006b) – eine gemeinsame Perspektivierung von politischem Denken, historischer Analyse und Medientheorie bzw. Ästhetik (Lindner 2006a, Weber 2008). Der genauere gedankliche Zusammenhang von Technik, Medien und Ästhetik, den es im Werk Benjamins zweifellos gibt, bleibt allerdings noch zu klären. So gibt es zwar in „Zur Kritik der Gewalt“ Reflexionen zur Technik in ihrer zivilisatorischen Funktion und in ihrer Beziehung zu den geistig-sinnlichen Qualitäten des Menschen, doch führt von hier kein bereits von Benjamin vorgezeichneter gedanklicher Weg zu den medienphilosophischen Analysen von Buch und Zeitung in der Einbahnstraße (Benjamin 1928a), von Photographie (Benjamin 1931), von Kunstwerk, Wahrnehmungstheorie und Film im Kunstwerkaufsatz. Das gilt auch für andere, an ästhetischer Theoriebildung orientierte Schriften, wie etwa die Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Benjamin 1920), die Bestimmung von Werk, Ursprung, Kritik und Allegorie im Ursprung des deutschen Trauerspiels (Benjamin 1928), oder auch die spätere „Sürrealismus“-Studie, die sich wiederum auch mit der angedeuteten Theorie des Erwachens befasst (Benjamin 1929).

So bliebe, im Erbe Benjamins (zur Rezeptionsgeschichte: Küpper, Skrandies 2006), für das Programm einer kommenden Philosophie im Spannungsfeld von Kritik, Ästhetik, Politik/Politischem und Medialität noch zu erörtern, inwiefern es auch aktuell, wie Benjamin im Trauerspielbuch schreibt, „Gegenstand der philosophischen Kritik“ ist, „daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen.“ (Benjamin 1928, 358)

Literatur: Benjamin 1920, Benjamin 1942, Benjamin 1936, Hamacher 2001, Steiner 2004, Weber 2008

Hilfsmittel: Lindner 2006

Timo Skrandies

Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert

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