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Bollnow, Otto Friedrich

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Geboren 1903 in Stettin, gestorben 1991 in Tübingen. 1921–25 Studium der Mathematik und Physik, 1925 Promotion in theoretischer Physik bei Max Born in Göttingen. 1927–31 Studium der Philosophie und Pädagogik in Berlin und Göttingen, 1931 Habilitation. 1939–43 Professur für Psychologie und Pädagogik in Gießen. 1943–45 Kriegsdienstverpflichtung am Gießener Institut für theoretische Physik. 1946 Professur für Philosophie und Pädagogik in Mainz, 1953–70 in Tübingen.

In Bollnows Lebenswerk sind Lebensphilosophie, Existenzphilosophie, philosophische Anthropologie, Ethik und Pädagogik eng miteinander verknüpft. Geprägt wird Bollnow zum einen durch die Jugendbewegung, die er als Student in Berlin und später als Lehrer an der reformpädagogischen Odenwaldschule (1926/27) erlebt, sowie durch Wilhelm Diltheys Philosophie des Lebens. Mit ihr wird Bollnow zunächst in Berlin durch Eduard Spranger und vor allem dann in Göttingen durch die Dilthey-Schüler Georg Misch und Herman Nohl bekannt gemacht. Angeregt durch Mischs Weiterführung diltheyscher Gedanken in Richtung einer Logik des Lebens und einer hermeneutischen Theorie des Wissens, die in Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger erfolgt, befasst sich Bollnow mit erkenntnistheoretischen und methodologischen Fragen der Geisteswissenschaften, wie z.B. der Theorie des Verstehens, dem Objektivitäts- und dem Wahrheitsbegriff sowie mit dem Begriff des Lebens. So untersucht er in seiner Habilitationsschrift das Verhältnis von begrifflichem Denken und Leben bei F. H. Jacobi (Bollnow 1933), und in seinem Dilthey-Buch (Bollnow 1936) arbeitet er die wesentlichen Strukturen und Bestimmungen von Diltheys Lebensbegriff heraus.

Nachhaltig beeindruckt wird Bollnow durch die Daseinsanalyse Heideggers, bei welchem er drei Semester in Marburg und Freiburg studiert. Nicht Heideggers fundamentalontologischer Ansatz, sondern dessen treffende Beschreibungen von Wesenszügen und Grundstimmungen des menschlichen Daseins und die Analyse der Alltäglichkeit eröffnen Bollnow eine neue Perspektive auf das Wesen des Menschen, welche seiner Meinung nach zwar einseitig ist, aber die Lebensauffassung Diltheys und seiner Schüler ergänzt. Den 1939 gefassten Entschluss zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit (Heidegger 1927) auf dem Boden der Philosophie Diltheys realisiert Bollnow in seinem Buch Das Wesen der Stimmungen (Bollnow 1941), welches er zeitlebens als sein wissenschaftliches Testament und als sein Hauptwerk bezeichnet. Er konzipiert hier erstmals eine eigene philosophische Anthropologie, in welche er die Einsichten beider philosophischer Richtungen einfließen lässt. Deshalb bekundet Bollnow in späteren Jahren und Jahrzehnten wiederholt, sich immer „zwischen den Stühlen“ der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie bewegt zu haben (Bollnow 1942, 1958).

Neben der Philosophie Diltheys, der hieran anknüpfenden Lebenshermeneutik Mischs und Heideggers Daseinsanalyse sind insbesondere die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners und die phänomenologisch-hermeneutisch-logischen Analysen der Alltagssprache von Hans Lipps sowie die Existenzphilosophie für die Ausarbeitung von Bollnows eigener Philosophie konstitutiv. Seine philosophische Anthropologie wurde auch bedeutsam für seine hermeneutische Pädagogik.

In der Ethik geht Bollnow von der Anerkenntnis der geschichtlichen Offenheit und der letztlichen Unaussagbarkeit des menschlichen Wesens aus. Er hält daher überzeitliche Geltung beanspruchende Wesensaussagen über den Menschen für unzulässig. Vielmehr versucht er, auf konkrete Verhaltensweisen und Haltungen sowie auf bestehende kulturelle und gesellschaftliche Gegebenheiten aufmerksam zu machen, indem er sie beschreibt und in ihrer geschichtlichen Gewordenheit und gegenwärtigen Funktion zu verstehen sucht. Auf dieser anthropologisch-phänomenologisch-hermeneutischen Grundlage erinnert Bollnow an tradierte, teilweise noch wirksame, teilweise verschüttete Tugenden, Werte und Normen und verfolgt deren geschichtlichen Wandel (Bollnow 1958a). Mit dem Verlangen nach einem authentischen und humanen Leben und mit dem Ziel einer ethischen Neuorientierung will Bollnow eine Besinnung auf die Grundlagen unseres sittlichen Zusammenlebens in Gang setzen. Er fordert zu einer Einfachen Sittlichkeit (Bollnow 1947), d.h. zu einer immer neuen Einübung von Tugenden, und zu einer Vermittlung moralischer Werte in der Gesellschaft und besonders in der Erziehung auf. Einige seiner ethischen und pädagogischen Schriften versteht er deshalb als Appell.

Bollnows philosophisches und pädagogisches Werk wurde nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch in Japan und Korea rezipiert. Ein großer Teil seiner Schriften wurde ins Japanische übersetzt.

Literatur: Bollnow 1941, Bollnow 1958, Bollnow 1983, Boelhauve 1997, Kümmel 2010, Schwartländer 1984

Bibliographie: Boelhauve 1997, 465–530

Webseite: www.otto-friedrich-bollnow.de

Gudrun Kühne-Bertram

Die deutsche Philosophie im 20. Jahrhundert

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