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I. Kodifizierung, Konsolidierung und Petrifizierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts

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Verwaltungsverfahrensgesetze

Die bis Ende der 1950er Jahre zurückreichende Entstehungsgeschichte des umfassend vorbereiteten VwVfG, seine Regelungsanliegen und seine Verknüpfung mit dem Erlass der AO 1977 und dem SGB I und X sind oft nachgezeichnet worden, sodass hierauf verwiesen werden kann.[221] Rückblickend mag maßgeblich für das weitgehende Gelingen dieses Kodifikationsprojekts gewesen sein, dass sich nach den Vorstellungen der Gesetzesverfasser das VwVfG nicht auf eine Aufzählung von Rechten des Bürgers in Verwaltungsverfahren gegenüber der Verwaltung beschränkt, sondern ein „handfestes Verfahrensrecht“[222] gerade auch für die Fachverwaltung und damit eine Grundlage für die tägliche Verwaltungsarbeit geschaffen werden sollte. Das VwVfG bietet damit (mit Ausnahme der §§ 54 ff. VwVfG[223]) vor allem für die Behörde ein strukturiertes und rechtsverbindliches Arbeitsprogramm (in vergleichsweise präziser Sprache unter Vermeidung von Generalklauseln), das insgesamt auf eine Reduzierung von Komplexität durch schrittweises und planvolles Vorgehen gerichtet[224] und – wie § 24 Abs. 2 VwVfG deutlich zeigt – nicht von einer „Gegnerschaft“ von Behörde und Bürger geprägt ist: Die Behörde hat die Rechte des Betroffenen bei der Entscheidung von sich aus zu beachten.[225] Als Arbeitsgrundlage für die Verwaltung verstanden setzte das VwVfG damit einen deutlichen Kontrapunkt gegenüber der sich auf die Rechtsschutzperspektive fokussierten Verwaltungsrechtswissenschaft.

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Auswirkungen des VwVfG auf die Verwaltungsrechtswissenschaft

Die wissenschaftliche Befassung mit dem allgemeinen Verwaltungsrecht fokussierte sich mit seinem Inkrafttreten jedoch immer mehr auf das VwVfG und die nunmehr in seinem Kontext zu lesende VwGO. Zum einen bewirkte dies, dass auch das Verwaltungsverfahren letztlich primär aus der Gerichtsperspektive – nämlich im Hinblick auf die Frage der Folgen von Verfahrensfehlern (§ 45, § 46 VwVfG und § 44a VwGO) – betrachtet wurde.[226] Dadurch geriet das eigentlich Neue am VwVfG – die Durchstrukturierung des behördlichen Entscheidungsprozesses und die Schaffung von Einwirkungsmöglichkeiten des Bürgers auf diesen Entscheidungsprozess[227] – vielfach aus dem Blick. Zudem gab es mit dem VwVfG zum ersten Mal nun auch ein – mit bundesweiter Wirkung – „kommentierbares“ Gesetz im allgemeinen Verwaltungsrecht. Dies bewegte die Verwaltungsrechtswissenschaft dazu, sich vermehrt mit der Frage zu beschäftigen, wie dieses Gesetz im Einzelnen auszulegen ist, was sich gegenüber dem früheren Rechtszustand geändert hat und wie die hierzu ergangene Rechtsprechung zu verstehen ist. Das VwVfG wurde zum „Grundgesetz der Verwaltung“.[228] Nahezu zwangsläufig konnten daher die führenden Lehrbücher aus der frühen Phase der Bundesrepublik seit dem Inkrafttreten des VwVfG keine (wirkliche) Neuauflage mehr erleben.[229] Sie wurden durch neue Lehrbücher „ersetzt“, die von Anfang an das VwVfG in den Mittelpunkt stellten.[230] Aufgrund dieser Fokussierung auf das VwVfG geriet teilweise aus dem Blick, dass die Rechtsentwicklung außerhalb seines Anwendungsbereichs weiterging[231] und es gerade oft die einzelnen Zweige des besonderen Verwaltungsrechts sind, in denen sich Innovationen zeigen und bewähren (oder scheitern) können.[232] So hat das VwVfG teilweise den Blick auf neue Entwicklungen verstellt. Anders als dies Absicht der Gesetzesverfasser war,[233] wurde es vielfach nicht nur als „Zwischenschritt“ bei der Weiterentwicklung des Verwaltungsverfahrensrechts gesehen, sondern als letztlich abschließende Regelung des Verwaltungsverfahrensrechts, die als gegenteilige gesetzgeberische Entscheidung der Anerkennung weitergehender Verfahrensrechte und damit der Fortentwicklung des Verfahrensrechts entgegengehalten wurde.[234] Die „rechtsschöpferische Kreativität“ der 1950er und 1960er Jahre[235] schien der Verwaltungsrechtswissenschaft daher mit Inkrafttreten des VwVfG teilweise verloren gegangen zu sein. Sie wurde mehr und mehr gesetzes- und rechtsprechungs-positivistisch geprägt. Dies hat zu einer gewissen Versteinerung sowohl des „Themenkatalogs“ verwaltungsrechtlicher Forschung als auch der vorgeschlagenen Lösungen geführt.[236]

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Staatshaftungsgesetz

Interessanterweise zog das am 1.1.1982 in Kraft getretene und vom BVerfG bereits am 19.10.1982 für verfassungswidrig erklärte[237] Staatshaftungsgesetz (StHG) vom 26.6.1981[238] trotz seiner nur 10-monatigen Anwendung einen ganz ähnlichen Versteinerungseffekt nach sich. Die bis in die 1970er Jahre bestehende Offenheit gegenüber der Ausweitung bestehender und Schaffung neuer Staatshaftungsinstitute in der Rechtsprechung[239] (und hiermit korrespondierend im Schrifttum) ging mit zunehmender Verdichtung der Vorarbeiten zum StHG[240] immer mehr zurück. Dies mag daran liegen, dass diese Vorarbeiten wie auch der Bericht der Gemeinsamen Arbeitsgruppe des Bundes und der Länder von 1987[241] und seine spätere Behandlung[242] deutlich machten, dass die Länder durch den Bundesrat jegliche Ausweitung der Staatshaftung aber auch jegliche Vereinfachung des Staatshaftungsrechts (vor allem aus haushaltspolitischen Gründen) als ausschließliche Aufgabe des Gesetzgebers ansahen und eine Neuordnung der Staatshaftung durch Rechtsfortbildung für ausgeschlossen hielten. Dieses Argument wurde von der Rechtsprechung[243] zunehmend in der Form übernommen, dass sie sich an einer (weiteren) Fortentwicklung und Abrundung überkommener Staatshaftungsansprüche wegen eines unterstellten „Vorbehalts des Gesetzes“ (zum Schutz der Budgethoheit des Parlaments) gehindert sah. Die Literatur folgt dem vielfach: Bereits eine Fortentwicklung des Staatshaftungsrechts durch Entwicklung einer rechtswegübergreifenden kohärenten Staatshaftungsdogmatik in klarer Abgrenzung zum zivilrechtlichen Vertrags- und Deliktsrecht entlang der existierenden Anspruchsgrundlagen und ergänzt durch allgemeine Rechtsgrundsätze wird offenbar teilweise als Überschreiten einer Rechtsfortbildungsgrenze gesehen.[244] Dies ist umso erstaunlicher, als ein vergleichbarer Vorbehalt des Gesetzes z. B. gegenüber einer ebenfalls (nicht unerhebliche) Kosten verursachenden Ausweitung der aus den Grundrechten und insbesondere aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleiteten Garantien nie erwogen worden war. Die Annahme eines Vorbehalts des Gesetzes für eine Staatshaftungsreform mag auch der Grund für die zunächst sehr heftigen Reaktionen in der deutschen Literatur[245] gegenüber der Kreation des „gemeinschaftsrechtlichen“ Staatshaftungsanspruchs durch den EuGH in der Rechtssache Francovich[246] gewesen sein:[247] Der EuGH nahm sich eine Rechtsfortbildungskompetenz zum Schutz der durch Gemeinschaftsrechtsverletzungen Geschädigten heraus, auf die die deutsche Rechtsprechung (und Verwaltungsrechtswissenschaft) selbst in rein nationalen Fällen weitgehend verzichtet hatte.

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