Читать книгу Handbuch des Verwaltungsrechts - Группа авторов - Страница 165
I. Erstreckung des westdeutschen Verwaltungsrechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR[33]
Оглавление7
Rechtsangleichung oder Rechtsanpassung?
Die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung der DDR gewünschte schnelle Übernahme westdeutscher Lebensverhältnisse, die die Übernahme der in der Bundesrepublik vor dem 3.10.1990 entwickelten Rechtskultur einschloss, ließ eine teilweise gewünschte[34] behutsame Rechtsangleichung nicht zu, auch wenn die Überschrift des Kapitels III des Einigungsvertrags dies suggerierte. Es galt, die bewusste Abkopplung von den bürgerlich-rechtsstaatlichen Vorstellungen, die mit besonderer Gründlichkeit in der DDR vorgenommen worden war,[35] rückgängig zu machen. Art. 4 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR (Staatsvertrag) vom 18.5.1990 bezeichnete diesen Vorgang daher zutreffend als „Rechtsanpassung“. Tatsächlich hatte das Konzept dieses Staatsvertrages noch einen abgestuften Vereinheitlichungsprozess vorgesehen, wenn auch auf Grundlage der in Art. 2 des Staatsvertrags genannten zentralen Prinzipien der grundgesetzlichen Ordnung. Entsprechend wäre eine Rechtsanpassung des einfachen Rechts durchzuführen gewesen, aber innerhalb dieses Rahmens noch mit weitem Spielraum, der die Berücksichtigung eigenständiger Leistungen der Bevölkerung der DDR nach der Wende (auch in Bezug auf die Schaffung verwaltungsrechtlicher Grundlagen)[36] sowie etwaiger Errungenschaften der früheren DDR ermöglicht haben würde.[37]
8
Einigungsvertrag
Der nicht mehr aufzuhaltende wirtschaftliche Zusammenbruch zwang die DDR jedoch, das Versprechen in der Präambel des Staatsvertrags vom 18.5.1990, nach Art. 23 GG a. F. „in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden“, sofort einzulösen. Die Grundlage bildete der Einigungsvertrag vom 31.8.1990, der in seinem Art. 8 die Konsequenz aus der Entscheidung für den Weg der Wiedervereinigung über Art. 23 GG a. F. zog, nämlich die grundsätzliche Übernahme des Rechts und damit auch des bestehenden formellen und materiellen Verwaltungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.[38] Diese rechtliche Folge war von dem Willen der breiten Mehrheit der Bevölkerung der DDR getragen; zugleich wurde sie von der Kraft der tatsächlichen Verhältnisse erzwungen: Zeit für die Erarbeitung einer eigenständigen Rechtsordnung blieb nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Herrschaftssystems nicht mehr, zumal sich nach dem Umbruch die trotz hektischer Gesetzgebung[39] faktisch bestehenden rechtsleeren Räume zuungunsten der Bürger und der wohlverstandenen Allgemeininteressen vergrößerten; sie mussten in einer hochindustrialisierten Gesellschaft so schnell wie möglich ausgefüllt werden.[40] Nur dadurch konnte versucht werden, für den Einzelnen den Schutz eines Rechtsstaates gegenüber nur von persönlichen und wirtschaftlichen Beweggründen diktierten Eigeninteressen aufzubauen.
9
Herausforderungen im praktischen Vollzug
Die vollständige Übernahme des ausgebauten westdeutschen Verwaltungsrechtssystems stellte die Behörden und Einrichtungen im Gebiet der früheren DDR vor erhebliche Herausforderungen. Vor allem fehlte in den neuen Ländern ein entsprechend ausgebildeter Beamtenstamm im Bereich des gehobenen Dienstes.[41] Nahezu alle Behörden und Einrichtungen mussten neu aufgebaut und die für eine moderne Büroorganisation fehlenden sächlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Massive Verwaltungshilfe aus den alten Ländern, wie sie Art. 15 Abs. 2 EVertr. vorsah und auf allen Ebenen vollzogen (und 1994 eingestellt) wurde,[42] war einerseits unverzichtbar, brachte andererseits aber auch Probleme persönlicher Zusammenarbeit zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichem Erfahrungshintergrund und rechtlichen Vorverständnissen mit sich.[43] Im Unterschied zu dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in den westlichen Besatzungszonen nach 1945, der für die betroffenen Deutschen prinzipiell gleich war,[44] führte die Übernahme westdeutschen Rechts in den neuen Ländern dazu, dass das von der DDR übernommene Personal sich nach vierzig Jahren weitgehenden Abbaus rechtlicher und insbesondere verwaltungsrechtlicher Denkweise sofort mit einem hochkomplizierten Normengefüge nach den westlichen Auslegungs- und Anwendungsmethoden unter Beachtung geschriebener und ungeschriebener Verfassungsgrundsätze auseinandersetzen musste. Eine kaum zu überblickende Fülle bisher unbekannter materieller Rechtsvorschriften war zu beachten und in einer Weise umzusetzen, die die Grundrechte des Bürgers respektiert und sich an dem Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes orientiert.[45] Dies alles war zu leisten, obwohl die Ausbildung der Juristen und der Angehörigen des öffentlichen Dienstes der DDR hierfür wenig Hilfe anbot. Umsetzungsschwierigkeiten beruhten vor allem auf einem divergierenden Verständnis von der Funktion des Rechts und den Aufgaben der einzelnen Staatsgewalten, dem unterschiedlichen Verständnis von der Eigenverantwortung eines Bediensteten auch in einer hierarchisch gegliederten Behörde, dem unterschiedlichen Verständnis von der Rechtsstellung des Bürgers in einem Staat, insbesondere von der Bedeutung der Grundrechte und der subjektiv-öffentlichen Rechte, und auch der fehlenden Unterrichtung und Übung in juristischen Methoden der Gesetzesanwendung und Gesetzesauslegung in der DDR-Ausbildung.[46] Umgekehrt bot der „westliche Hintergrund“ vieler zur Verwaltungshilfe abgeordneter Juristen kaum Gewähr, die Lebensumstände in der DDR und die dortige Rechtswirklichkeit zutreffend einordnen zu können. Auch das Verwaltungsrecht der DDR und das der alten Bundesrepublik trennte nichts mehr als die gemeinsame Sprache.[47]
10
Fiktion der Vergleichbarkeit zweier Rechtssysteme
Das Problem des Einigungsvertrages war es, diese Unterschiede zusammenzuführen und dabei eine Vergleichbarkeit der Rechtsroutinen und Verwaltungskulturen in Ost und West zu fingieren. Die politische Notwendigkeit dieser Fiktion[48] verlagerte die Umgestaltung in den täglichen Vollzug. Sie beseitigte nicht die Gefahr, zu schnell von den westdeutschen Begriffsinhalten und ihren Rechtswirkungen auszugehen und sie auf durch das Rechtssystem der DDR gestaltete Lebenssachverhalte zu übertragen. Angesichts des Übergewichts westdeutschen Personals in der Aufbauphase blieb in der Praxis eine einseitige westdeutsche Sicht nicht aus.[49]