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SÜNDENFALL

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Es begann mit Schüssen in Sarajevo, jener Stadt, in der ein serbischer Nationalist den österreichisch-ungarischen Thronfolger und dessen Frau erschoss. Doch das Attentat war nur der Auslöser für den blutigsten Krieg, den die Menschheit bis dahin kannte. Verbrechen gegen Zivilisten, industrialisiertes Massensterben, die Hybris militärstrategischer Planungen: Die ersten Monate zeigten bereits das ganze Ausmaß des Schreckens, der eine ganze Generation prägte. Wie war dieser Bruch mit Moral und Ethos der Zivilisation möglich? Wer schürte den tödlichen Hass zwischen den Nationen, der sich so grausam entlud? Die »Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts« führte Europa und die Welt in die Barbarei.

Der 28. Juni des Jahres 1914 war ein herrlicher Sommertag. In der bosnischen Hauptstadt Sarajevo herrschte »Kaiserwetter«, passend für den Besuch des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand. Die Ankunft des hohen Gastes war bereits lange zuvor in der Zeitung angekündigt worden; die Bevölkerung war dazu aufgefordert, die Straßen zu säumen und dem künftigen Kaiser Österreich-Ungarns zuzujubeln. Vielen Bosniern war allerdings nicht nach Jubeln zumute. Ihr Land war 1908 von Österreich-Ungarn annektiert worden, seitdem herrschte ein rigides Besatzungsregime. Vor allem junge bosnische Serben lebten in Armut und litten unter der Perspektivlosigkeit. Sie wollten zu einem großserbischen Staat gehören, nicht zu einem von Deutschen und Ungarn dominierten Vielvölkerstaat. Für sie war Franz Ferdinand kein Gast – er war ein Feind. Sechs junge Bosnier waren fest entschlossen, den Besuch des Thronfolgers für einen gezielten Schlag gegen die verhasste Monarchie zu nutzen. Sie wollten Franz Ferdinand töten. Der serbische Geheimdienst hatte sie mit vier Revolvern und sechs Bomben versorgt. Nun positionierten sie sich an verschiedenen Stellen entlang der allseits bekannten Fahrstrecke durch die Innenstadt und warteten. Zwar rechneten die offiziellen Stellen mit der Möglichkeit eines Attentats. Dennoch waren die Sicherheitsvorkehrungen erstaunlich lax.

Franz Ferdinand bestieg am Bahnhof sein offenes Automobil und fuhr in Richtung Rathaus – den Attentätern entgegen. Bereits nach wenigen Augenblicken gelang es dem ersten von ihnen, eine Bombe auf das Fahrzeug zu schleudern. Der Thronfolger riss instinktiv den Arm nach oben, der Sprengkörper prallte von ihm ab, fiel erst auf das geöffnete Faltdach und danach auf die Straße, wo er explodierte. Oberstleutnant Erik von Merizzi, der den royalen Konvoi begleitete, wurde dabei verletzt. Franz Ferdinand selbst kam noch einmal mit dem Schrecken davon. Der Chauffeur, der den Ernst der Situation sofort begriffen hatte, gab Vollgas und raste zum Rathaus. Dort fand, wie geplant, der Empfang beim Gouverneur von Bosnien-Herzegowina, General Oskar Potiorek, statt. Das weitere Besuchsprogramm hatte sich durch die dramatischen Ereignisse jedoch verändert. Franz Ferdinand stand der Sinn nicht länger nach »Sightseeing«. Stattdessen wollte er Merizzi im örtlichen Krankenhaus besuchen. Die Wagenkolonne brauste also aufs Neue los. Der Chauffeur des Thronfolgers indes war über die Änderung des Programms nicht unterrichtet worden. Der ursprünglichen Route folgend, bog er an einer Straßenecke falsch ab. Der mitfahrende Potiorek klärte den Mann umgehend über seinen Irrtum auf, der stoppte den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein.

Gavrilo Princip stand zu diesem Zeitpunkt seit Stunden in der Menge. Nervös hatte er immer wieder nach der Wagenkolonne des Thronfolgers Ausschau gehalten. Die Menschen um ihn herum standen dicht gedrängt, der junge Mann ahnte, dass er aus dieser Position heraus mit dem Revolver kaum auf ein fahrendes Auto würde schießen können, ohne andere zu gefährden. Als der Wagen nun unvermittelt anhielt, sah er seine Chance gekommen. Er drängte sich durch die Menge, sprang auf den Wagen zu und gab mehrere Schüsse ab. Die Ehefrau des Thronfolgers wurde tödlich in den Unterleib getroffen und sank seitlich in den Schoß ihres Mannes. Dieser rief noch: »Sopherl! Sopherl! Stirb nicht! Bleib am Leben für unsere Kinder!« Dann sackte auch er – getroffen von zwei Schüssen – zusammen. Eine Viertelstunde später war er tot.

Als die Welt am 28. Juni des Jahres 1914 von der Ermordung Franz Ferdinands und dessen Frau Sophie erfuhr, dachte kaum jemand an einen Krieg. Der Neffe Kaiser Franz Josephs war in der Öffentlichkeit nicht sonderlich beliebt, seine Pläne zum Umbau der Doppelmonarchie unter alleiniger Vorherrschaft Österreichs waren im Vielvölkerstaat auf breiten Widerstand gestoßen. Selbst der 84-jährige österreichische Kaiser weinte ihm kaum eine Träne nach. Damit habe er »eine Sorge weniger«, kommentierte er den Tod seines designierten Nachfolgers gegenüber seiner Tochter.

Allein der deutsche Kaiser Wilhelm II. war empört über die Tat. Er sah in »dem lieben Franzi« einen Freund und künftigen Partner bei der Führung des europäischen Kontinents. Der Kaiser segelte gerade mit seiner Yacht Meteor in der Kieler Förde, als ihn die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgerpaares erreichte. Umgehend brach er die Regatta ab und begab sich nach Potsdam. Ein paar Tage später unterrichtete ihn sein Botschafter in Wien über die Stimmungslage nach dem Attentat: Es müsse einmal »gründlich« mit den Serben abgerechnet werden, so die einhellige Meinung der österreichischen Diplomaten und Militärs. »Jetzt oder nie. Mit den Serben muss aufgeräumt werden, und zwar bald«, notierte der Kaiser gewohnt zackig an den Rand eines Dokuments. Mit der Zusicherung der »gewohnten Bündnistreue« an Wien am 5. Juli überließ Wilhelm II. die Entscheidung über Krieg und Frieden den Österreichern. Anschließend brach er wie gewohnt zu seiner alljährlichen Nordlandfahrt auf.

Überall in Europa genossen die Menschen die ungewöhnlich heißen Sommermonate. Fast ein halbes Jahrhundert hatten die Großmächte nicht mehr gegeneinander gekämpft. Die frühen Zwanzigerjahre hatten dem ganzen Kontinent Fortschritt und Wohlstand beschert. Doch während in den Seebädern der Küsten Hochbetrieb herrschte, waren hinter verschlossenen Türen Militärs und Diplomaten damit beschäftigt, auszuloten, ob der Mord von Sarajevo den willkommenen Vorwand für einen Krieg gegen Serbien bieten könnte. Denn dass Serbien seine Finger mit im Spiel hatte, davon war Wien überzeugt, stammte doch die Waffe des Täters aus einem serbischen Militärdepot. Am 23. Juli stellte das Habsburgerreich Serbien ein Ultimatum, das auf 48 Stunden befristet war. Der Ton des Schriftstücks war scharf. »Das unverfrorenste Dokument dieser Art, das jemals geschrieben wurde«, so nannte es etwa Winston Churchill, 1914 Marineminister in der britischen Regierung. Europa stehe an der »Schwelle eines großen Krieges«, schrieb er kurze Zeit später in einem Brief an seine Frau.

Plötzlich war es da, das Schreckgespenst einer großen militärischen Auseinandersetzung. Die serbische Regierung versuchte in ihrer Antwort an Wien die Quadratur des Kreises. Sie akzeptierte das demütigende Ultimatum, jedoch nicht in allen Punkten. Den deutschen Kaiser konnte sie so besänftigen. Damit sei »ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden«, kommentierte Wilhelm II. die Note aus Belgrad und wies seinen Botschafter in Wien an, den Österreichern zu einem Einlenken zu raten. Zurück von seiner Kreuzfahrt, bot er sich sogar als Mittler zwischen den Mächten an, um den Frieden zu retten. Doch die fatale Entwicklung lief längst an Seiner Majestät vorbei. Auf den Tag genau einen Monat nach dem Attentat erklärte Wien Belgrad den Krieg. Es werde nur ein begrenzter Konflikt werden, so glaubte Kaiser Franz Joseph, der zur Sommerfrische in Bad Ischl weilte. »Da brauche ich nicht nach Wien fahren«, erklärte er seiner Vertrauten Katharina Schratt. Schließlich hatten zwei Balkankriege um das Erbe des Osmanischen Reiches in den Jahren 1912 und 1913 die europäische Diplomatie intensiv beschäftigt, ohne dass der Konflikt eskaliert war.

Diesmal jedoch war alles anders. Mit der österreichischen Kriegserklärung kam eine Kettenreaktion in Gang, die erst Europa, dann die Welt in Flammen setzte: Russland stand Serbien zur Seite und machte am 30. Juli mobil. In Erfüllung seiner Bündnistreue erklärte Deutschland am 1. August Russland den Krieg, zwei Tage später Frankreich, das sich geweigert hatte, neutral zu bleiben. Am 4. August, mit dem Einmarsch der Deutschen in Belgien, trat auch das britische Empire dem Konflikt bei. Damit aber weitete sich der zunächst regionale Konflikt zu einem Weltkrieg aus – dem »Sündenfall« des zwanzigsten Jahrhunderts.

»In Europa gehen die Lichter aus«, sagte der britische Außenminister Edward Grey am 3. August 1914 zu einem Freund und fügte in dunkler Vorahnung hinzu: »Wir werden es nicht mehr erleben, dass sie wieder angezündet werden.« Erst später wurde für alle Welt sichtbar, dass im Sommer 1914 eine Schreckenszeit anbrach, die 1918 keineswegs zu Ende war – sondern eigentlich erst 1945. Historiker, Publizisten und Politiker haben immer wieder versucht, den Ursachen des Kriegsausbruchs 1914 auf den Grund zu gehen. In der Zwischenkriegszeit und in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg gingen die meisten Historiker davon aus, dass die Großmächte in diesen ersten Krieg »hineingeschlittert« seien. In einer Zeit der rivalisierenden Machtblöcke und des übersteigerten Nationalismus hätten die herrschenden Mächte das Attentat von Sarajevo zu einer Risikopolitik benutzt, die ihnen einen außenpolitischen Prestigeerfolg erbringen sollte. Irgendwie sei dabei jedoch die »Direktion verloren gegangen«, wie der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg bereits Ende Juli 1914 formulierte.

1959 trat der Hamburger Historiker Fritz Fischer mit einer aufsehenerregenden These an die Öffentlichkeit: Deutschland treffe die Hauptschuld an dieser Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Berlin habe spätestens seit Dezember 1912 gezielt auf die Provokation eines Krieges im Sommer 1914 hingearbeitet, um die Hegemonie über Europa zu erkämpfen. Von dieser überspitzten These ist heute wenig übrig geblieben. Als unstrittig gilt in diesem Zusammenhang allenfalls, dass das Deutsche Reich das Risiko eines Krieges in Kauf genommen hat. Und dass das Kaiserreich gemeinsam mit seinem Bündnispartner die »rote Linie« zuerst überschritten hat. Wenn dem Zweibund auch die Hauptschuld an diesem Krieg zukommen mag, so muss doch die gesamteuropäische Mächtekonstellation vor 1914 gesehen werden, in der auch die Staaten der Entente – England, Frankreich und Russland – ihren Anteil an der Eskalation des Konflikts tragen. So passierte im Juni 1914 eine Heeresvorlage die Duma, das russische Parlament, die eine Aufstockung der Armee auf 1,8 Millionen Mann vorsah.

Im selben Monat erfuhr man in Berlin auch von geheimen Verhandlungen über ein Militärbündnis zwischen London und St. Petersburg. Die deutsche Politik zog daraus ihre ganz eigenen Schlüsse. London hatte offenbar eindeutig Stellung bezogen. In Zukunft würden die Briten wohl nicht mehr willens sein, französische und russische Heißsporne von einem möglichen offensiven Vorgehen gegen Deutschland abzuhalten. Die deutschen Militärs erwarteten einen Abschluss der russischen Aufrüstungsbemühungen für die Jahre 1916 /17. Danach, so prophezeiten sie, könne man von einem Zangenangriff aus Ost und West ausgehen. Also hieß die vermeintlich folgerichtige Devise: Krieg – und zwar lieber jetzt als später, wenn das Übergewicht der Gegner noch größer sein würde. Für Bethmann-Hollweg ein Zeichen, den »Sprung ins Dunkle«, wie er meinte, zu wagen. Diese pessimistische Lageanalyse hatte mit der Realität nicht viel gemein. Zu nüchternem Denken war man in Berlin in diesen Tagen aber nicht mehr in der Lage. So konstatierte denn auch der preußische Kriegsminister Erich von Falkenhayn am 4. August 1914: »Und wenn wir auch darüber zugrunde gehen, schön war’s doch!«

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