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Der »Kindermord von Ypern«

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Zur Legende wurde in jenen Tagen eine andere Schlacht, nur wenige Kilometer von Hitlers Einsatzgebiet entfernt. Am 11. November 1914 gab die Oberste Heeresleitung bekannt, bei Langemarck unweit von Ypern seien junge Regimenter unter dem Gesang »Deutschland, Deutschland über alles« gegen die erste Linie der feindlichen Stellungen gestürmt und hätten sie genommen. Etwa 2000 französische Infanteristen seien gefangen genommen worden. Eine Erfolgsmeldung? Die Verlautbarung der Obersten Heeresleitung entfaltete im Land eine große Breitenwirkung. Die Presse bejubelte den »todesmutigen« Einsatz der jungen Reservisten, patriotische Erhabenheit machte sich breit. Die unerfahrenen Kriegsfreiwilligen, notdürftig ausgebildet und frisch an der Front, hatten. einen Graben genommen und Gefangene gemacht. Der heroische Einsatz der deutschen Jugend mit dem Deutschlandlied auf den Lippen – für die deutsche Propaganda ein willkommenes Motiv und Anlass für neue Siegeszuversicht.

Doch die Wahrheit war weitaus brutaler, der Preis für kleinste Geländegewinne hoch. Etwa 2000 Kriegsfreiwillige, vor allem Gymnasiasten, wurden an jenem Tag bei Langemarck von den gut gedeckten britischen Truppen ohne effektive Gegenwehr reihenweise niedergemäht. Die jugendlichen Soldaten wateten durch die matschigen Felder dem Feind entgegen – in den sicheren Tod. 9500 Tote und Verwundete und tausend Vermisste hatte allein die 6. Armee, die Armee der Studenten und Schüler, in jenen blutigen Novembertagen zu beklagen.

Das »Opfer der Jugend« bot Historikern nach dem Krieg reichlich Stoff für schwülstige Beschreibungen des Geschehens. 1928 wurde in der deutschen Studentenschaft eigens der »Langemarck-Tag« eingeführt. Im »Dritten Reich« schließlich wurden Schulen, Straßen und Plätze nach dem kleinen Dorf in Flandern benannt. Bei »Langemarck-Feiern« wurde das Vorbild jener jungen Soldaten beschworen, die ihr Leben für die Nation geopfert hatten.

Auch Adolf Hitler wollte an diesem Mythos partizipieren. In seinen Erinnerungen verklärte er seinen Einsatz unweit des Ortes und verknüpfte ihn mit der Langemarck-Geschichtsschreibung: Er sei ebenfalls »über Rübenfelder und Hecken« in den Kampf gezogen, »Mann gegen Mann«. Auch er wollte die Klänge eines Liedes gehört haben, die »kamen immer näher und näher, sprangen über von Kompanie zu Kompanie, und da, als der Tod gerade geschäftig hineingriff in unsere Reihen, erreichte das Lied auch uns und wir gaben es nun wieder weiter: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!« Der Schriftsteller Ludwig Renn, selbst ein ehemaliger Kriegsteilnehmer, hielt dies für eine Mär: »Wenn man mal so einen Sturm mitgemacht hat, und da soll man sich vorstellen, dass die gesungen haben? Wie denn gesungen? Während sie vorrannten gegen ratternde Maschinengewehre? Außer Atem singen [...] Nein, das ist Lüge, ist eine bloße Phrase.«

Näher an der Realität war wohl das Zeugnis des Soldaten Alfred Buschalski, Flandernkämpfer wie Hitler, der seinen Eltern voller Entsetzen schrieb: »Es war furchtbar! Nicht das vergossene Blut, nicht auch der Umstand, dass es vergeblich vergossen war, auch nicht, dass in der Nacht die eigenen Kameraden auf uns schossen – nein, die ganze Kampfesweise ist es, die so abstößt. Kämpfen wollen und sich nicht wehren können! Der Angriff, der mich so schön dünkte, was ist er anders als der Drang: Hin zur Deckung da vorne gegen diesen Hagel tückischer Geschosse. Der Feind, der sie entsendet, nicht zu sehen!« Es war ein sinnloses Opfer, dem erfahrene »Landser« den Namen »Kindermord von Ypern« gaben. »Was hat man diesen Männern versprochen, dass sie sich so töten lassen?«, fragte ein alliierter Kompaniechef verwundert, »sie erreichen die Laufgräben nur, um hier den Tod zu finden.« Und der Schriftsteller Carl Zuckmayer, selbst damals Kriegsfreiwilliger, analysierte später: »Wir zogen in den Krieg wie junge Liebende – die Todesangst hatten wir erst zu lernen. In unseren Schulfächern war sie nicht vorgekommen.«

Adolf Hitler hat seinen Einsatz in der ersten Flandernschlacht unverletzt überstanden. Sein erster Kampfeinsatz war gleichzeitig sein letzter. Seit dem 9. November wurde der Gefreite als Meldegänger eingesetzt. Damit war er dem Regimentsstab zugeordnet und musste nicht mehr im Graben ausharren. »In Bezug auf Schmutz ist es etwas besser, dafür aber auch gefährlicher«, schrieb er einem Münchner Bekannten. In Mein Kampf würde er später seine Verwendung als Meldegänger hartnäckig verschweigen. Er präsentierte sich als einfacher Soldat, als Teil der »großen Gemeinschaft« der Frontkämpfer. Auf sein Eisernes Kreuz, das er Anfang Dezember des Jahres 1914 erhielt, war er zeitlebens stolz. Daran klebe »der Schmutz von Frankreich und der Schlamm von Flandern«, erklärte er 1922. auf einer NSDAP-Versammlung. Jahre später, während des von ihm entzündeten zweiten Flächenbrands des zwanzigsten Jahrhunderts, betonte er, die Erfahrungen der Jahre 1914 bis 1918 hätten ihn gelehrt, das Leben als einen »ständigen Kampf« zu sehen. Ohne diese Erfahrungen Hitlers im Ersten Weltkrieg, davon gehen auch Historiker wie Ian Kershaw aus, wären weder der ganze Umfang des Völkermords noch die absolute Vernichtungsbereitschaft im Zweiten Weltkrieg vorstellbar.

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