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Weihnachtsfrieden
ОглавлениеEnde 1914 war die Front erstarrt. Bis Weihnachten sollten alle Soldaten wieder zu Hause sein, hatte es geheißen, doch die Hoffnung auf einen kurzen Krieg war längst geschwunden. Mit dem Wintereinbruch verlangsamten sich die Kämpfe. Auf allen Seiten fehlte es an entsprechender Ausrüstung für die Soldaten. Kälte, Läuse und Hunger machten allen zu schaffen. Der Kaiser hatte de facto die Herrschaft längst an den Chef des Generalstabs übergeben. Er blieb hinter der Front in der Nähe seiner Soldaten, verlieh Orden, unterzeichnete Gesetze, doch mischte er sich wenig in operative Vorgänge ein. »Der Generalstab sagt mir nichts und fragt mich auch nicht. Wenn man sich in Deutschland einbildet, dass ich das Heer führe, so irrt man sich sehr«, klagte er Ende 1914. In der Heimat konnte man sich nur schlecht ein Bild vom Frontgeschehen machen. Zwar gab es noch kaum Zensur, aber 1914 waren gerade einmal 19 Pressefotografen beim Generalstab zugelassen, und die hielt man weit hinter der Front zurück. Fotos von deutschen Leichen waren tabu. Nachrichten aus erster Hand erhielten viele Eltern durch die Feldpost – wie auch die Todesmeldungen. »Zurück. Gefallen« stand auf dem Brief von Käthe Kollwitz an ihren Sohn, der wie alle seine Freunde freiwillig in den Krieg gezogen war. Peter Kollwitz war im Alter von 18 Jahren in der Flandernschlacht durch Kopfschuss als Erster seines Regiments gefallen. Für seine Mutter »eine große Wunde, die nie heilen wird und nie heilen soll«.
Auch die Verluste auf alliierter Seite waren mörderisch. Von Dezember des Jahres 1914 an veröffentlichten britische Zeitungen keine Gefallenenlisten mehr. Der Berufssoldat Bernard Montgomery, im Zweiten Weltkrieg Sieger von El Alamein, empörte sich über die Art der britischen Kriegführung. Für viele Offiziere war der Krieg ein großes Abenteuer. Sie pendelten zwischen der Front und London, Züge und Fähren verkehrten regelmäßig. Während die Militärstäbe in »relativer Ruhe und Behaglichkeit« lebten, wie Montgomery fand, vegetierten die einfachen Soldaten in feuchten Gräben und starben wie die Fliegen.
Nun, da ein Weihnachten im Felde immer näher rückte, versuchten sich die Soldaten mit ihrem Schicksal zu arrangieren. Die Kampfmoral war schlecht. Die einfachen Soldaten fühlten sich als Kanonenfutter. Tausende desertierten. Allein Frankreich exekutierte 600 Mann wegen Fahnenflucht, die meisten davon bereits im ersten Kriegsjahr. Die oftmals geringe Entfernung zum feindlichen Graben verführte zu Absprachen zwischen den Fronten. Während der Essenszeiten gab es im gegenseitigen Interesse Feuerpausen, ebenso zur Beerdigung der Toten. Kündigte sich der Besuch eines Generals an, so wurde ein bisschen stärker geschossen. Fern der Euphorie des Kriegsausbruchs sahen die Soldaten in ihren Gegenübern auch ihresgleichen im Leid. »Wir hatten an sich nichts gegen ›Bruder Boche‹«, gab nach dem Krieg der Schütze Leslie Walkinton von den Queen’s Westminster Riffes zu Protokoll, »er schoss auf uns, wir schossen auf ihn, aber letztlich waren wir ja genau dafür auch da.«
Am Morgen des 24. Dezember 1914 hatte der Regen aufgehört. Die Temperaturen waren in den Minusbereich gefallen und hatten das Niemandsland wieder begehbar gemacht. Während das Regiment List Heiligabend hinter der Front in der flandrischen Stadt Messines verbrachte, versuchten die Soldaten an der Front, ein Stück des weihnachtlichen Zaubers in den Schützengraben zu retten. Kleine Weihnachtsbäume wurden aufgestellt, »Liebesgaben« verteilt, Geschenke aus der Heimat: Zigaretten, Schokolade oder warme Socken. Der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, hatte Tabakpfeifen mit seinem Bild schicken lassen.
Im Frontabschnitt bei Ypern lagen den Truppen des British Expeditionary Force bayerische und sächsische Einheiten oft nur wenige hundert Meter entfernt gegenüber. Einer der diensthabenden Offiziere an Weihnachten war Kurt Zehmisch, Leutnant der Reserve im sächsischen Infanterieregiment 134. Der 24-jährige Kriegsfreiwillige war bereits seit Ende Oktober an der Front. Er kannte die katastrophalen Zustände in den Schützengräben aus leidvoller Erfahrung. In seinem Kriegstagebuch hatte er akribisch festgehalten, wie seine Männer bis zu den Knien im Wasser versanken, während die Lehmwände an ihrer Seite nachgaben und einbrachen. Für die Weihnachtstage hatte er seinen Leuten befohlen, von ihren Waffen nur im Notfall Gebrauch zu machen. Auch bei den Briten spürte man einen Stimmungsumschwung: »Da war so ein Gefühl in der Luft, wir können uns doch nicht in alle Ewigkeit umbringen«, beschrieb der britische Artillerist Reginald Thomas jene eigenartige Atmosphäre, »ich persönlich hatte gar nichts gegen die Deutschen. Ich hasste sie nicht.«
»Die Deutschen brachten aus ihrem Graben Bier mit, das unsere Männer gierig tranken, und die Sache geriet ein bisschen außer Kontrolle.«
Peter Jackson, britischer Soldat
Kurt Zehmisch war einer von denen, die die Initiative ergriffen. Im zivilen Leben Lehrer, konnte Zehmisch ganz gut Englisch und nahm mit den Briten im gegenüberliegenden Graben durch lautes Rufen Kontakt auf. Irgendwie verabredeten beide Seiten ein Treffen auf halbem Weg zwischen den Stellungen. Zögernd verließen die Soldaten die Schutzgräben. Mitten im Krieg trafen sie im Niemandsland in friedlicher Absicht aufeinander: Sie schüttelten einander die Hände und wünschten sich fröhliche Weihnachten. Sie tauschten Zigaretten und zeigten sich Fotografien von ihren Angehörigen. Bier wurde herangebracht. Jemand hatte einen Ball, und so kam es tatsächlich zu einem Fußballspiel zwischen Engländern und Deutschen.
Am 25. Dezember wurde auch das 16. bayerische Infanterieregiment an die Front geschickt, und das Schauspiel wiederholte sich. Die offizielle Regimentsgeschichte zitiert den Brief des Kameraden Josef Wenzl an seine Eltern: »Alles bewegte sich frei aus den Gräben, und es wäre nicht einem in den Sinn gekommen zu schießen. Was ich vor Stunden noch für Wahnsinn hielt, konnte ich jetzt mit eigenen Augen sehen. Bayern und Engländer, bisher größte Feinde, drückten sich die Hände, unterhielten sich und tauschten Sachen aus. Zwischen den Schützengräben stehen die erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Den Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht, dass der Mensch doch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden. Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich sein.«
Viele Tausend Soldaten waren in jenen Tagen beteiligt an den Fraternisierungen entlang der Front, vor allem nicht-preußische Regimenter und britische Einheiten. Sie genossen die »heilige Zeit«, ohne Tote und Verwundete. Bis zum 29. Dezember dauerte die friedliche Phase, ein Stück Menschlichkeit mitten in der Hölle. Der Weihnachtsfrieden des Jahres 1914 hätte das Ende vom Krieg bedeuten können.
»Am 24. Dezember waren wir dem Feind gegenüber gar nicht feindlich eingestellt. Die Fraternisierung erreichte ihren Höhepunkt gegen 3 Uhr nachmittags, als 10 oder 12 unserer Soldaten aus den Gräben kamen und ungefähr dieselbe Zahl von Franzosen. Wir trafen uns in der Mitte zwischen den Stellungen und tranken Champagner und Wein und tauschten Zigaretten.«
Bericht eines deutschen Kriegsfreiwilligen
Doch die feinen Triebe internationaler Solidarisierung waren nicht unbeobachtet geblieben. Am 29. Dezember setzte Generalstabschef von Falkenhayn Fraternisieren mit Hochverrat gleich und verlangte, künftig jeden Mann, der in »unkriegerischer Haltung« den Graben Richtung Feind verlasse, vor ein Kriegsgericht zu stellen. Die Briten veröffentlichten ähnliche Befehle. Ab Silvester forderte der Krieg wieder seinen täglichen grausamen Tribut. Adolf Hitler, als Mitglied des Regimentshauptquartiers jetzt eher ein »Etappenhengst«, kannte den Weihnachtsfrieden nur vom Hörensagen. Gegenüber einem Kameraden kommentierte er jedoch die Vorfälle voller Verachtung: In Kriegszeiten könne solches Verhalten nicht zur Disposition stehen.
Mit der Rückkehr zu den Kampfhandlungen endeten die verlustreichsten Monate des Ersten Weltkriegs. Zwischen August und Dezember 1914 starben bereits 14 Prozent aller im Ersten Weltkrieg gefallenen deutschen Soldaten. Das Habsburgerreich hatte von seinen mobilisierten 3 350 000 Soldaten Ende Dezember 1914 bereits ein Drittel verloren. Auch auf alliierter Seite forderten die ersten Monate einen gewaltigen Blutzoll. Das Britische Expeditionskorps, das im August 1914 mit 110 000 Mann angetreten war, verlor fast 90 000 Soldaten. Über 400 000 Toten und Verletzten bei den Franzosen standen über eine Million Verluste bei den russischen Truppen gegenüber. Die Opferzahlen erhöhten jedoch nicht die Bereitschaft der kriegführenden Nationen, sich für eine diplomatische Lösung einzusetzen, im Gegenteil: Angesichts der vielen Toten und Verwundeten war ein Frieden auf der Grundlage des Status quo den Bevölkerungen nicht vermittelbar. Der Krieg wurde fortgeführt – weitere 47 Monate lang.