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Hinter jedem Zivilisten ein »Franktireur«?

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Für die deutschen Truppen, die am 2. August des Jahres 1914 ohne offizielle Kriegserklärung zunächst Luxemburg besetzt hatten, war die Festungsstadt Lüttich das erste Hindernis auf dem Weg durch Belgien. Auf diese Linie hatten sich die belgischen Truppen zurückgezogen. Wenig mehr als 100000 Soldaten hatten die Belgier unter Waffen, gegenüber einer deutschen Heeresstärke von insgesamt 2,4 Millionen Mann. Ein Kampf David gegen Goliath.

Schon in den ersten Tagen des Krieges eskalierte die Gewalt. Überrascht von der starken Verteidigung der vorgeblich »wenig leistungsfähigen belgischen Truppen«, wie der deutsche Generalstab hatte verlauten lassen, kam es zu häufigen Übergriffen gegen Zivilisten. Deutsche Soldaten, von ihrer Führung zur Eile getrieben und in der Furcht vor Übergriffen durch »Franktireurs« (Freischärler), deuteten Schusswechsel allzu oft als Angriffe aus dem Hinterhalt. Sie nahmen Geiseln, erschossen Zivilisten und brannten ganze Straßenzüge nieder. Das deutsche Militär blickte mit Schrecken auf die Erfahrungen aus dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zurück, in dem der Kampf durch »irreguläre« französische Aufständische verlängert worden und es zu Gewaltexzessen gekommen war. Deshalb beschloss die kaiserliche Militärführung vor Ort, schon beim Anschein eines zivilen Übergriffs zur Abschreckung hart durchzugreifen. In Orten wie Aerschot, Andenne und Tamines starben so im August 1914 bereits Hunderte Belgier. In Dinant, einem malerischen Ort an der Maas, wurden 674 Zivilisten erschossen, darunter auch Kinder. Insgesamt fielen den deutschen Strafaktionen in Belgien 4421 Zivilisten zum Opfer. Über 60000 Personen wurden verschleppt – zum Arbeitseinsatz im »Reich«.

In der Universitätsstadt Löwen, dem »belgischen Oxford«, war deshalb die Anspannung groß, als die Stadt am 19. August 1914 von deutschem Militär besetzt wurde. Am Vortag erst hatte die belgische Armee die Stadt geräumt. Die deutschen Besatzer führten ein strenges Regiment. Ab 20 Uhr galt eine strikte Ausgangssperre, die Häuser mussten nachts beleuchtet sein, Jagdgewehre waren abzuliefern. Auf Zuwiderhandlung stand die Todesstrafe. Ein paar Tage lang ging alles gut. Dann, am 25. August, fielen plötzlich Schüsse, die im Nu in eine wilde Schießerei ausuferten. Für die Armeeführung ein weiterer Fall von Franktireurs. Die deutsche Reaktion folgte auf den Fuß. Über 200 Einwohner der Stadt wurden ohne Verfahren zusammengetrieben und erschossen, die mittelalterliche Altstadt von Löwen ging in Flammen auf. Auch die historische Bibliothek der Universität brannte mitsamt ihren 230 000 Büchern bis auf die Grundmauern nieder.

Drei Tage wütete das »Strafgericht«, wie die Aktion offiziell hieß. Dem amerikanischen Gesandtschaftssekretär Hugh Gibson, der sich drei Tage später ein Bild von der Lage vor Ort machte, erklärte ein deutscher Offizier: »Es wird die Belgier lehren, Deutschland zu respektieren und es sich zweimal zu überlegen, gegen Deutschland die Waffen zu erheben.«

Bilder des Schreckens

Die Fotos des Monsieur Lajot

Der Krieg war gerade zwei Tage alt, als es bei Lüttich nahe des kleinen Ortes Vottem zu einem Scharmützel zwischen deutschen und belgischen Truppen kam. Als die Soldaten weiterzogen, blieben 22 tote Belgier und elf Deutsche zurück. Die Dorfbewohner waren ratlos. Es gab keine Anweisung, wie mit den Opfern des Krieges zu verfahren sei. Der Priester des Ortes, Abbé Crèvecœur, ließ die Leichen ins Pfarrhaus bringen. Dorthin bestellte er auch den Dorffotografen Monsieur Lajot. Mithilfe einiger Bewohner wurden die Toten aufgerichtet und vom Fotografen auf Glasnegativen abgelichtet. Dies, so dachte sich der Pfarrer, würde die spätere Identifikation erleichtern. Danach beerdigten die Dörfler die Toten nach Nationalität getrennt in zwei Massengräbern. Die Porträts von Vottem gehören zu den frühsten Bildern von gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs. Ein halbes Jahrhundert waren sie verschollen, verloren gegangen im Wandel der Zeitläufe. Erst 2003 tauchten sie wieder auf– auf einem Flohmarkt in den Niederlanden. Die Bilder fesseln und verstören: Gesichter, die vom Kampf gezeichnet sind, mit aufgerissenen Augen im Angesicht des Schreckens. Ungeschönte Aufnahmen, die keine Zensur passieren mussten. Nur wenige Tage später würde kein Pfarrhaus mehr ausreichen, um die Opfer einer Schlacht zu dokumentieren. ▪

Mit der Zerstörung der Bibliothek aber hatte sich Deutschland in der Welt den Ruf von Barbaren eingehandelt. Als »Hunnen«, denen man das Schlimmste zutraute, wurden sie fortan in der alliierten Propaganda persifliert. Noch heute erinnern in Löwen steinerne Bildtafeln an zahlreichen Häusern an die Brandschatzung durch die Deutschen.

Nachkriegsuntersuchungen über die Ursache des Schusswechsels ergaben übrigens, dass es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um »friendly fire« gehandelt hatte. In Löwen einquartierte deutsche Soldaten hatten offenbar unter dem Einfluss von Alkohol und der allgegenwärtigen Franktireurs-Psychose auf die eigenen Truppen geschossen, die von Kämpfen mit der belgischen Armee in die Stadt zurückkehrten.

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