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Flandern und Oberitalien als gewerblich-kommerzielle Zentren
ОглавлениеFlandern und Oberitalien als Pole der mittelalterlichen europäischen Weltwirtschaft
Flandern und Oberitalien entwickelten sich zu den Zentren der hochmittelalterlichen Wirtschaft. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts bildeten diese Regionen regelrechte Städtelandschaften, in denen mehr als die Hälfte der Bewohner in Städten lebten. Der Weltmarkt Brügge und die Tuchmacherstadt Gent im Norden waren nach damaligen Maßstäben Weltstädte. Die Einwohnerzahl von Florenz stieg im 13. Jahrhundert von 10.000 auf 80.000 an.
Den Anstoß zum Aufstieg des nordwesteuropäischen Wirtschaftsraums hatten die Karolinger mit der Errichtung einer Pfalz in Aachen gegeben. Die Verwüstungen der Normannen zwischen 820 und 891 unterbrachen diese Entwicklung. Doch mit der Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse begann der Aufstieg der Niederlande erneut. Die Niederländer knüpften Beziehungen zu den Gebieten jenseits des Rheins und den Nordseeländern und erbauten Burgen und Städte, in denen sich Händler niederließen.
Mitte des 11. Jahrhunderts siedelten die Weber vom flachen Land in die Städte über. Die Bevölkerung wuchs, und in dem ganzen Gebiet von der Zuidersee im Norden bis zu den Ufern der Seine und Marne im Süden siedelte sich das städtische Textilgewerbe an. Diese Entwicklung gipfelte in dem glanzvollen Aufstieg Brügges, das regelmäßig von ausländischen Kaufleuten aufgesucht wurde. Brügge dehnte seine Handelsbeziehungen bis nach England und Schottland aus. Von dort bezog es die qualitätsvolle Wolle für seine eigenen Werkstätten wie für den Weiterverkauf in die anderen Tuchstädte Flanderns.
Brügges Beziehungen zur englischen Krone, die damals noch Besitzungen in Frankreich hatte, erwiesen sich von großem Vorteil: sie ermöglichten der Stadt den Bezug von Weizen aus der Normandie und Wein aus Bordeaux. Entscheidend wurde, dass die deutsche Hanse Brügge zu ihrem Hauptkontor wählte und damit den Wohlstand der Stadt festigte.
Als 1277 erstmals genuesische Schiffe in Brügge landeten, war eine Seeverbindung zwischen der Nordsee und dem Mittelmeer hergestellt. Reiche italienische Kaufleute ließen sich in der Stadt nieder und tauschten die kostbaren Produkte des Orients wie Pfeffer und Spezereien aus der Levante gegen die flandrischen Gewerbeerzeugnisse ein. Brügge wurde zum Mittelpunkt eines weitgespannten Handelsnetzes, das den Mittelmeerraum, Portugal, Frankreich, England, das deutsche Rheinland und die Hansestädte umfasste. Bis 1500 stieg seine Einwohnerzahl auf 100.000 an – für damalige Verhältnisse eine Weltstadt. Da das Textilgewerbe auch die anderen Städte Flanderns erfasste, entstand dort ein im damaligen Europa einzigartiges Gewerbegebiet.
Der Aufstieg der flandrischen Städte im 11. Jahrhundert fällt zusammen mit dem Aufblühen der Tuchindustrie. Die Übervölkerung Flanderns stellte zahlreiche gewerbliche Arbeitskräfte bereit, was der Tuchherstellung zugutekam. Der komplizierte Herstellungsprozess des Tuches, der unter Umständen in 30 Teilarbeitsgänge zerfiel, rief nach einem kaufmännischen Unternehmer, der den gesamten Herstellungsprozess koordinierte. Schon im 13. Jahrhundert importierten diese kapitalistischen Unternehmer das Rohmaterial und ließen es dann von verschiedenen Handwerkern bearbeiten. Im Spätmittelalter kam es zwischen den in Zünften organisierten Handwerkern und den Arbeitgebern zu heftigen Konflikten um Lohnhöhe und politische Mitsprache.
In den Städten Flanderns, in Ypern, Gent, Douai, Valenciennes und anderen, wurden aus englischer Wolle (England exportierte jährlich mehr als 5 Mill. kg) feinste Tuche gefertigt, die von der Hanse nach Russland und von Kölner und Regensburger Kaufleuten nach Ungarn gebracht wurden. Niederländische Händler exportierten sie darüber hinaus nach Südfrankreich, Spanien und Italien. Italien war bis ins 13. Jahrhundert ein dankbares Absatzgebiet für die flandrischen Tuche, da die italienischen Städte zunächst nur billige Tuche aus einheimischer Wolle herstellten, ehe sie sich auf der Basis von Importwolle aus Nordafrika, Spanien und England selbst der Herstellung von Spitzenqualitäten widmeten. Um 1300 hatte das flandrische Tuchgewerbe seinen Höhepunkt überschritten. Politische Verwicklungen mit England und Frankreich, vor allem aber die hohen flandrischen Löhne, führten zu einem Niedergang. Englands aufsteigendes Tuchgewerbe konnte billiger produzieren. Dort hatte sich seit dem Ende des 12. Jahrhunderts die Anwendung der Wasserkraft für das Walken durchgesetzt. Da Flandern nicht über die nötige hydraulische Energie verfügte, verlegte man dort die Wollindustrie seit dem Beginn des 14. Jahrhunderts auf das platte Land, um den Reglementierungen der Zünfte zu entkommen.
Auch Oberitalien war ein großes Tuchmacherzentrum. Die Tuche wurden von Kaufleuten in Florenz, Siena, Lucca und Genua verarbeitet, d.h. gewalkt, gefärbt und geschoren, ehe sie in Nordafrika gegen Häute, Wolle und Goldstaub, in der Levante gegen Gewürze, Seide, Baumwolle und Farbwaren getauscht wurden.
Lucca und Venedig widmeten sich der Seidenherstellung. Im frühen Mittelalter war die Seidenherstellung als kaiserliches Monopol nur in Byzanz betrieben worden. Der Islam brachte die Seidenraupe und die Seidenherstellung nach Spanien und Sizilien. Von Sizilien aus verbreitete sich das Gewerbe in Italien.
Seit dem 12. Jahrhundert konzentrierte sich der Handel zwischen Flandern und dem Mittelmeerraum auf die vier kleinen, unter dem Schutz der Grafen der Champagne stehenden Messestädte Troyes, Provins, Lagny und Bar-sur-Aube in der Champagne, in denen alljährlich sechs Messen stattfanden. Hier wurden die Waren des Okzidents (z.B. Tuche aus dem Artois oder aus Flandern) gegen die des Orients (Seiden, Spezereien, Farbstoffe) ausgetauscht. Letztere wurden vor allem von den seit 1170 in der Champagne erscheinenden italienischen Kaufleuten eingeführt. Mit dem Aufschwung der Messen der Champagne zeichnete sich ein von den Niederlanden bis zum Mittelmeer reichender zusammenhängender Wirtschaftsraum ab. Seine beiden Pole bildeten die Niederlande und Norditalien. Dabei überwog im Norden die Gewerbetätigkeit, im Süden der Handel, der sich in dem Maße ausweitete, wie die italienischen Städte die Seewege des Mittelmeers und die Handelsstraßen des Orients zurückeroberten.