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Einleitung

Wer die Grundlinien der wirtschaftlichen Entwicklung Europas nachzeichnen und erklären will, erzählt zunächst einmal (wie jeder Historiker) eine Geschichte. Geschichten lassen sich auf unterschiedliche Arten erzählen. Der Autor sollte daher offenlegen, wie er seine Geschichte zu erzählen gedenkt, welches Modell ihr zugrunde liegt, kurz: unter welchen Voraussetzungen sie gültig ist. Er sollte – auch im Rahmen dieses knappen Überblicks – auf kontroverse Interpretationen und konkurrierende Deutungsangebote hinweisen. Nur dann ist der Leser in der Lage, den Erzählgang kritisch zu begleiten, ihn teilweise oder gegebenenfalls auch ganz zu verwerfen.

Kommen wir zunächst zu dem, was unstrittig ist: Um das Jahr 1000 war Europa wirtschaftlich und kulturell gegenüber anderen Kulturräumen und Regionen der Welt wie China oder dem islamischen Bereich weit zurückgeblieben. 900 Jahre später beherrschte es wirtschaftlich und politisch große Teile der Welt, war Europa das Zentrum der Weltwirtschaft. Um die Wende vom ersten zum zweiten Jahrtausend lag das westeuropäische Durchschnittseinkommen nach den Berechnungen Maddisons deutlich unter demjenigen der anderen Hochkulturen. 1820 lag das westeuropäische Einkommen doppelt so hoch wie das chinesische, 1973 um das Vierzehnfache darüber.

In Europa, genauer gesagt in Großbritannien, gelang mit der sog. Industriellen Revolution seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zuerst der Durchbruch zu einer neuen Wirtschaftsweise, die etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts einer stark angewachsenen Bevölkerung erstmals ein Leben ohne Hunger ermöglichte. Von hier aus breitete sich der industrielle Kapitalismus zunächst über Europa und dann über die Welt aus. Der Prozess hält im Zeichen der Globalisierung bis heute an.

Vielfältige Faktoren hat man herangezogen, um den jahrhundertelangen Prozess wirtschaftlichen Aufstiegs (das sog. Wunder Europa) verständlich zu machen. Die naturräumlichen Charakteristika, aber auch das Klima wurden dabei ebenso bemüht wie Besonderheiten der europäischen politischen und gesellschaftlichen Struktur, die Herausbildung wachstumsfördernder Institutionen und Mentalitäten oder auch schlicht die Ausbeutung peripherer Räume durch politische und militärische Machtausübung. Einigkeit über die jeweilige Bedeutung dieser Faktoren besteht keineswegs.

Die Uneinigkeit beginnt schon bei der Frage, wann denn die great divergence stattfand, mit anderen Worten: ab wann Europa begann, in seiner wirtschaftlichen Entwicklung andere Großregionen der Welt, etwa China, zu überholen. Die meisten Autoren setzen die entscheidende Zäsur bereits in das Spätmittelalter. Andere Autoren sehen China, aber auch Bengalen noch Ende des 18. Jahrhunderts als die reichsten Regionen der Erde an. Erst danach seien diese Länder durch das Vordringen der Europäer und den Ruin ihrer Wirtschaft zurückgefallen. Für den unbefangenen Leser, der an akkurate Statistiken und ausgefeilte volkswirtschaftliche Gesamtrechungen gewöhnt ist, sind derartig grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten nur schwer verständlich. Zu bedenken ist aber, dass sich der größte Teil des langsamen Aufstiegs der Europäer im vorstatistischen Zeitalter vollzieht. Das öffnet unterschiedlichen, gelegentlich ideologischen Interpretationen Tür und Tor.

Keineswegs soll es in diesem Buch darum gehen, eine legitimatorische oder identitätsbildende „Vorgeschichte“ der Europäischen Union aus wirtschaftshistorischer Perspektive zu schreiben. Das Thema ist bei allem denkbaren Stolz auf die wissenschaftlichen und technischen Leistungen Europas dafür auch wenig geeignet: Der Aufstieg Europas verlief nicht linear, er erfuhr immer wieder Rückschläge und hatte auch seine dunklen Seiten, die nicht verschwiegen werden dürfen (man denke nur an die auch wirtschaftlich bedeutsamen Kreuzzüge, den Sklavenhandel der Frühen Neuzeit oder den neuzeitlichen Kolonialismus und Imperialismus).

Dies vorausgeschickt, ist vor allem zu definieren, was hier unter „Europa“ verstanden werden soll. Die Grenzen Europas sind (wie schon der Blick auf die gegenwärtige Diskussion um die Grenzen der EU zeigt), keineswegs eindeutig zu bestimmen. Die Frage, welche Regionen dazugehören, welche nicht, ist zudem in verschiedenen historischen Zeiträumen unterschiedlich zu beantworten. Im Rahmen dieser Überblicksdarstellung auf knappstem Raum kann ohnehin keine flächendeckende Vollständigkeit angestrebt werden (dafür sind mehrbändige Handbücher zuständig). Da der wirtschaftliche Aufstieg Europas und seine Bedingungsfaktoren im Mittelpunkt stehen sollen, gilt es den Blick auf die im Zeitverlauf wechselnden innovativen Zentren der europäischen Wirtschaft zu richten und nach den dort jeweils herrschenden Bedingungen zu fragen. Die semiperipheren oder peripheren Regionen Europas geraten dabei in erster Linie unter der Fragestellung in den Blick, wie sie sich dem jeweiligen Zentrum zuordnen und wie sie integriert sind in die sich ausdehnenden Märkte. Kurz: der geographische Fokus der Darstellung wechselt im Zeitverlauf. So stehen z.B. Venedig und die Hanse bei der Betrachtung der hoch- und spätmittelalterlichen Wirtschaft (Kap. I.3.–4.) im Vordergrund, Portugal, Spanien und die Niederlande im Zeitalter der Kolonialexpansion (Kap. II.1.–2.) und England als Mutterland der Industriellen Revolution in Kap. III.1. Während die Industrialisierung des europäischen Kontinents (Kap. III.2.) im nationalwirtschaftlichen Rahmen behandelt wird, um die unterschiedlichen Industrialisierungspfade zu verdeutlichen, sind die das 20. Jahrhundert behandelnden Kap. IV. und V. stärker aus einer gesamteuropäischen Perspektive geschrieben. Dies ist nicht nur pragmatisch aus Platzgründen geboten, sondern auch Ausdruck des Zusammenwachsens der europäischen Wirtschaft.

Ausbruch aus der malthusianischen Falle

Der Aufstieg Europas begann nicht erst mit der Industriellen Revolution. Über Jahrhunderte wuchsen im Schoße der traditionellen Agrargesellschaft die vielfältigen materiellen und immateriellen Voraussetzungen heran, die Europa seit dem 18. Jahrhundert den Ausbruch aus der malthusianischen Falle ermöglichten. So beruhte die Industrielle Revolution in Großbritannien auf der Grundlage eines seit längerem in Gang gekommenen vorindustriellen Wachstums. Den vielfältigen Neuerungen im agrarischen, gewerblichen und kommerziellen Bereich während der Frühen Neuzeit (16.–18. Jh.) wird daher in den Kap. II.3.–5. besondere Aufmerksamkeit zuteil.

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Malthusianische Falle

Der Begriff der malthusianischen Falle bezieht sich auf die Bevölkerungstheorie des englischen Sozialforschers Robert Malthus (1766–1834). In seiner Schrift „An Essay on the Principle of Population“ (1798) führte er das Elend seiner Zeit auf das starke Anwachsen der englischen Bevölkerung zurück und stellte damit als Erster einen Bezug zwischen Demographie und Ökonomie her. Während die Bevölkerung in geometrischer Progression (1,2,4,8,16 …) anwachse, nehme die Nahrungsmittelmenge infolge des abnehmenden Bodenertrags nur in arithmetischer Reihe (1,2,3,4,5 …) zu. In unregelmäßiger Folge komme es daher immer wieder zu existenzbedrohenden Krisen, Hungersnöten, Seuchen oder ähnlichen Katastrophen (positive checks). Die malthusianische Bevölkerungstheorie ist statisch und sieht eine dynamische Steigerung der ökonomischen Produktivität, wie sie im 19. Jahrhundert mit der Anwendung der modernen Technik und der künstlichen Düngung erfolgte, nicht vor. Sie hat insoweit nur Gültigkeit für eine statische Agrargesellschaft ohne nennenswerte Produktivitätsfortschritte.

Bedeutung der Institutionen

Unter Entwicklung wird hier ein langfristiger und komplexer Prozess wirtschaftlichen und sozialen Wandels verstanden. Er findet seinen Ausdruck in einer zunehmenden Ökonomisierung der Ressourcenverwendung, etwa durch fortschreitende Arbeitsteilung, Überwindung von Handelshemmnissen, zunehmende Marktausdehnung und -integration. Sein Ergebnis besteht in der Regel in wirtschaftlichem Wachstum, das durch den vermehrten Input der Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital und die Produktivitätssteigerung dieser Faktoren zustande kommt. Nach der Neuen Wachstumstheorie kommt dabei der Innovationstätigkeit und den Investitionen sowie dem technischen Fortschritt eine besondere Bedeutung zu. Für den produktiven Einsatz der materiellen Kapitalgüter sind die immateriellen Güter wie Wissen, Ideen, Risikobereitschaft und die Institutionen im weitesten Sinne von großem Belang.

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Institutionen

Institutionen sind die formalen oder informellen Begrenzungen und Spielregeln, die das politische, wirtschaftliche und soziale Handeln der Menschen regulieren. Zu den formalen Institutionen zählen Verfassungen, Gesetze und Eigentumsrechte, zu den informellen gehören Sitten, Tabus, Sanktionen, kulturelle Traditionen, Wertorientierungen und Weltbilder.

Den formalen wie informellen Institutionen ist daher bei der Analyse des wirtschaftlichen Aufstiegs Europas ebenso Beachtung zu schenken wie etwa der Ausdehnung der materiellen Inputs durch Vermehrung des bewirtschafteten Landes oder der demographisch bedingten Vergrößerung des Arbeitskräftepotentials.

Europäische Wirtschaftsgeschichte

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