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2.1.2 Evolution als Leitthema der Naturwissenschaften

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Die Einheit der Biologie, so erfreulich sie sein mag und so eindrucksvoll sie sich vorführen ließe, ist nicht unser Hauptthema; sie wird hier einfach vorausgesetzt. Uns geht es um mehr: Es geht um die Bedeutung des Evolutionsgedankens für die Wissenschaft überhaupt, also auch für die nichtbiologischen Wissenschaften! Man könnte sagen, viele Wissenschaften seien vom Evolutionsgedanken „infiziert“. Das hat ihnen durchweg gutgetan. Für die Naturwissenschaften ist das leicht zu zeigen; nicht umsonst sprechen wir von kosmischer, galaktischer, stellarer, planetarer, geologischer, chemischer, molekularer Evolution als Vorstufen der biologischen Evolution, in deren Verlauf der Kosmos, Galaxien, Sterne, Planeten und Monde, die Erde, Atmosphäre und Biomoleküle entstanden sind.

Warum aber gibt es dann keine evolutionäre Geologie? Ganz einfach: Die geologischen Prozesse haben mit den Gesetzen der biologischen Evolution nichts gemeinsam. Von den wichtigsten Evolutionsfaktoren wie Stoffwechsel, Reproduktion und Vererbung, Variation und natürliche Auslese ist in der Geologie nicht die Rede. Geologische Systeme haben keine Nachkommen, sie vererben nichts, und sie konkurrieren nicht miteinander; deshalb spielt die natürliche Auslese bei ihnen keine Rolle. Und doch gibt es zwischen Geologie und Biologie so viele interessante Querverbindungen, dass es ein Versäumnis wäre, sie unerwähnt zu lassen.

Nimmt man es nicht gar zu genau, dann hat der Evolutionsgedanke in Geologie und Biologie nahezu gleichzeitig Fuß gefasst, in der Geologie in allgemeiner Form durch den Engländer CHARLES LYELL (1787–1875) mit seinem dreibändigen Werk Principles of geology, in der Biologie durch den Franzosen JEAN-BAPTISTE DE LAMARCK (1744–1829) mit seiner zweibändigen Philosophie zoologique und natürlich durch CHARLES DARWIN (1809–1882) mit dem Ursprung der Arten. DARWIN selbst hat sich für Geologie sehr interessiert. Nachdem er ein Medizinstudium abgebrochen hatte, studierte er Theologie, und das einzige Examen, das er je abgelegt hat, ist eine Bakkalaureus-Prüfung 1831 in diesem Fach. Doch besuchte er Vorlesungen zu naturwissenschaftlichen Fächern, insbesondere zu Botanik, Zoologie und Geologie. Er nahm an Exkursionen teil und knüpfte Kontakte zu vielen Naturwissenschaftlern, etwa zu dem Botaniker und Theologen JOHN STEVENS HENSLOW, mit dem er lebenslang freundschaftlich verbunden blieb, oder zu dem Geologen ADAM SEDGWICK, der ihn in gründliches wissenschaftliches Arbeiten einwies, ihm allerdings später seine Evolutionstheorie übelnahm. Auf seiner fünfjährigen Reise mit der Beagle trieb DARWIN auch geologische Studien. Als er auf den Höhen der südamerikanischen Anden versteinerte Muscheln fand, schloss er, dass der Andenkamm ganz allmählich aus Meereshöhe angehoben worden sein müsse. An diesem geologischen Befund fand er LYELLS These bestätigt, dass viele kleine Schritte über ausreichend lange Zeiträume zu großen Veränderungen führen können. Diese Einsicht übertrug er dann später auf die biologische Evolution; sie erlaubte es ihm, eine gradualistische Evolutionstheorie zu formulieren, nach der die Entstehung und Entwicklung der Arten ebenfalls in vielen kleinen Schritten erfolgt sein soll.

Die Geologie profitiert aber auch umgekehrt von der Evolutionsbiologie. Denken wir an die so genannten Leitfossilien, die es dem Kenner erlauben, Erdschichten zu identifizieren und, sobald einmal eine Chronologie der biologischen Evolution zur Verfügung steht, zuverlässig zu datieren. Genau genommen handelt es sich bei diesem Hin und Her, wie so oft, nicht um einen Teufelskreis, einen circulus vitiosus, sondern um ein fruchtbares Wechselspiel gegenseitiger Unterstützung, um einen circulus virtuosus, den man sich am besten als Spirale vorstellt.2

Denken wir auch daran, wie viel die Plattentektonik als geowissenschaftliche Disziplin der Biologie zu verdanken hat. Schon den Geografen des 17. Jahrhunderts war aufgefallen, dass die Ostküste von Südamerika sehr gut an Afrikas Westküste passt; Gebirge im einen Kontinent scheinen eine Fortsetzung im anderen zu haben; auf beiden Seiten finden sich gleiche Tiere, die unmöglich über die weiten Wasser des Atlantiks gekommen sein können; vor allem aber deuten Fossilien darauf hin, dass diese und andere Kontinente einmal verbunden gewesen sein müssen. Der Meteorologe ALFRED WEGENER stellte schon 1915 alle verfügbaren Argumente zugunsten eines ehemaligen Superkontinents „Pangaea“ und zugunsten der Kontinentaldrift zusammen3, fand aber zu seinen Lebzeiten nur wenig Zustimmung, wurde sogar als Pseudowissenschaftler verlacht. Erst um 1970 führte die Plattentektonik zur Anerkennung von WEGENERS Theorie und zugleich zu einer Verknüpfung aller geologischen Disziplinen. So wurde die Geologie eine Wissenschaft nicht nur vom Aufbau der Erde, sondern auch von ihrer Geschichte. Seitdem ist die Geologie wahrhaft evolutionär, aber eben nicht im biologischen Sinne. Von evolutionärer Geologie im Sinne eines weltgeschichtlichen Geschehens zu sprechen wäre kein Widerspruch, sondern ein Pleonasmus: Es erübrigt sich einfach.

Solche Überlegungen gelten nun aber nicht nur für die Geowissenschaften, sondern auch für die Kosmologie, die Astrophysik, die Chemie, die Entstehung der Atmosphäre (die in ihrer heutigen Zusammensetzung dem Leben auf der Erde zu verdanken ist) und der Biomoleküle. Sie gelten insbesondere für die Entstehung des Lebens, die allerdings noch nicht zufriedenstellend geklärt ist. Diese stellt ja gerade den Übergang vom Unbelebten zum Belebten dar, also die Stelle, an der die biologische Evolution beginnt. Von da an sind alle Naturwissenschaften „evolutionär“.

Darwin heute

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