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2.6.4 PETER MERSCH und die Systemische Evolutionstheorie
ОглавлениеEin besonders viel versprechender Ansatz stammt von dem Systemanalytiker PETER MERSCH mit einem Buch Die egoistische Information. Eine neue Sicht der Evolution.13 Auf der Suche nach einer allgemeinen Theorie kritisiert MERSCH die biologische Evolutionstheorie zum Teil als zu eng, zum Teil aber auch als falsch – was bei Biologen sofort Unbehagen und Widerspruch auslöst. Die Grundvoraussetzungen seiner Theorie sind:
♦ Variation: Die Mitglieder einer Population sind verschieden und deshalb unterschiedlich gut an ihren Lebensraum angepasst;
♦ Reproduktionsinteresse, das in der Regel ein Selbsterhaltungsinteresse einschließt; und
♦ Reproduktion, also das Erzeugen von Nachkommen, die ähnlich sind, aber nicht gleich sein müssen.
Das klingt zunächst ganz darwinistisch und erinnert an den Algorithmus der natürlichen Auslese bei DENNETT und die DARWIN’schen Module von SCHURZ. Doch fällt auf, dass der Begriff der natürlichen Auslese bei MERSCH gar nicht vorkommt. Tatsächlich stellt MERSCH fest, dass seine Allgemeine Evolutionstheorie das Prinzip der natürlichen Selektion nicht benötige, weil es aus dem grundsätzlicheren Prinzip der (gleichverteilten) Reproduktionsinteressen von selbst folge. Da jedoch nur Lebewesen Interessen haben können, gilt die Theorie zunächst auch nur für Lebewesen und die durch sie gebildeten sozialen Systeme. Bei großzügiger Auslegung der Terminologie lassen sich aber auch nichtbiologische Evolutionstypen wie Kultur, Technik und Sport mit dieser Theorie erfassen. Dagegen wird man fragen, inwiefern alle Lebewesen Interessen haben sollen, benützen wir doch diesen Begriff in aller Regel in einem psychologischen Sinne, was dann eben auch eine Psyche voraussetzt. Dazu muss MERSCH dem Begriff Interesse eine metaphorische oder sogar fiktive Bedeutung geben: Alle Lebewesen verhalten sich so, als ob sie am Überleben und an der Fortpflanzung Interesse hätten. (Das erinnert an den metaphysischen Begriff des Willens, der von ARTHUR SCHOPENHAUER auch Pflanzen und sogar unbelebten Systemen zugeschrieben wird.)
MERSCHS größte Leistung liegt darin, dass er ein geeignetes Abstraktionsniveau für eine universelle Evolutionstheorie gefunden hat. Es gelingt ihm, seine Theorie so zu formulieren, dass sie sowohl die biologische als auch die soziale Evolution angemessen beschreibt. Insbesondere gelingt es ihm, das für die Ökonomik grundlegende Theorem des Engländers DAVID RICARDO (1772–1823), auch Theorem der komparativen Kostenvorteile genannt, aus seinen Grundannahmen abzuleiten (10.4). Das ist genau das, was wir von einer universellen Theorie erwarten.
In kompetenter Weise setzt sich MERSCH mit vielen Einwänden auseinander, sowohl mit solchen gegen die klassische Evolutionstheorie als auch mit möglichen Einwänden gegen seine eigene. Dazu gehört die Tatsache, dass gerade intelligente und beruflich erfolgreiche Leute ein geringeres Reproduktionsinteresse und deshalb auch weniger Kinder haben, was verschiedentlich als das zentrale theoretische Problem für die Soziobiologie des Menschen angesehen wird. MERSCH zeigt, dass seine Theorie dieses und andere Probleme lösen kann. Mir scheint, dass hier die bisher beste Verallgemeinerung des Evolutionsgedankens vorliegt. Diesem Ansatz ist deshalb besonders viel Aufmerksamkeit zu wünschen.