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2.6.2 ENRICO COEN und die Formel des Lebens

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Wir beginnen mit einem Buch des britischen Molekularbiologen ENRICO COEN Die Formel des Lebens. Von der Zelle zur Zivilisation. Schon der englische Titel11 und auch der deutsche Untertitel verraten, worauf der Autor hinauswill: auf eine Theorie, die mehrere Entwicklungsprozesse übergreift. Diese Prozesse sind:

♦ die Evolution von der Bakterie bis zum menschlichen Gehirn,

♦ die Entwicklung von der Eizelle zum Individuum,

♦ das Erlernen neuer Umweltbeziehungen und

♦ die soziokulturelle Entwicklung von der Stammesgesellschaft zur Hochzivilisation.

Auf diesen vier Ebenen soll aller Wandel belebter Systeme stattfinden; hier wird nach Gemeinsamkeiten gesucht. (Leider wird die ökonomische Ebene, die heute besonders viel diskutiert wird, in COENS Buch mit keinem Wort erwähnt.)

Aber wo steckt nun die Formel des Lebens? COEN nennt sieben Prinzipien, die den Wandel beschreiben sollen: Variation, Beständigkeit, Verstärkung, Wettbewerb, Wiederholung, Kooperation und kombinatorische Vielfalt. Diese sieben Prinzipien und ihr Zusammenspiel sollen die Formel des Lebens ausmachen.

Hier könnte man stutzig werden: Was hier aufgezählt wird, das sind Begriffe, keine Prinzipien. Prinzipien sind Grundsätze, die wahr und falsch sein können, etwa das Archimedische Prinzip des Auftriebs oder das Trägheitsprinzip der klassischen Physik. Genaue Formulierungen für COENS Prinzipien finden sich bei ihm nicht. – Vor allem aber bleibt ungeklärt, in welchem Sinne es sich dabei um eine Formel handelt, denn weder die Prinzipien noch ihr Zusammenwirken werden in Gestalt einer oder mehrerer Formeln dargestellt. – Eine weitere Merkwürdigkeit: Gibt man den sieben Prinzipien eine andere Reihenfolge und ergänzt sie um den Begriff (oder das Prinzip) der Abschwächung, so erhält man vier Gegensatzpaare: Beständigkeit und Variabilität, Kooperation und Wettbewerb, Verstärkung und Abschwächung, Wiederholung und Vielfalt. Man könnte also auch von vier Paaren antagonistischer Prinzipien sprechen. Das macht die Liste sofort viel übersichtlicher. Leider wird diese Möglichkeit nirgends erwähnt.

Prüft man die von COEN genannten vier Ebenen des Wandels – Evolution, Entwicklung, Lernen, Kultur –, so findet man tatsächlich eine Gemeinsamkeit: die Rückkopplung (feedback). Im Buch wird sie für jede Ebene bildlich dargestellt. Dabei geht es in der Evolution um den Fortpflanzungserfolg, bei der Individualentwicklung um die Musterbildung, beim Lernen um die Synapsenstärke im Gehirn, bei der Kulturentwicklung um die Wertschätzung der Sozialpartner. COEN betont, dass diese doppelte Rückkopplungsschleife allen vier Ebenen gemeinsam ist. Doch macht er nicht deutlich, dass erst diese Rückkopplungen seine „Prinzipien“ miteinander verbinden und damit zur „Formel des Lebens“ gehören!

COEN betont zu Recht, dass sein Unternehmen ein angemessenes Abstraktionsniveau voraussetzt. Aber welches Niveau ist angemessen? Stellen wir uns vor, eine vielseitige Physikerin arbeitet über mehrere Naturerscheinungen, etwa über Wasserwellen, Schall, Licht, Mikrowellen, Elektromagnetismus, Erdbeben und Gravitation. Ganz begeistert erzählt sie uns, dass diese Naturerscheinungen gemeinsamen „Prinzipien“ genügen: endliche Ausbreitungsgeschwindigkeit abhängig von der Dichte des Mediums, Energieübertragung ohne Materietransport, Abnahme der Intensität mit zunehmender Entfernung, Überlagerung (Superposition) von Signalen aus verschiedenen Richtungen, wechselseitige Verstärkung und Auslöschung. Sie zeigt auch noch, dass sich alle diese Erscheinungen als Wellen beschreiben lassen, also als räumlich und zeitlich periodische Vorgänge. Aber sie verrät uns nicht, dass diese Gemeinsamkeiten durch eine einzige Gleichung ausgedrückt werden können: die Wellengleichung. Sie stellt – auch quantitativ – die gemeinsame Struktur der genannten Erscheinungen dar. Sie ist zwar keine Weltformel, aber doch eine universelle Beschreibung für alle Wellenerscheinungen. Dann stellt diese Gleichung die angemessene Abstraktionsebene dar, und deshalb muss heute jeder Physiker mit dieser Gleichung vertraut sein.

Nun erwarten wir nicht, dass es für die Lebenserscheinungen mit einer einzigen Formel getan ist – obwohl COEN gerade dies durch sein Schwärmen von der Formel des Lebens durchaus nahelegt und mehrfach als seine persönliche Entdeckung ausgibt. Auch die Physik besteht ja nicht nur aus der Wellengleichung, sondern stützt sich, solange eine Weltformel nicht zur Verfügung steht, auf viele weitere fundamentale Gleichungen. So würden wir uns wünschen, dass auch COEN verrät, wie weit sich seine „Formel“ tatsächlich formalisieren lässt, sodass die von ihm aufgewiesene Strukturgleichheit auch quantitativ sichtbar würde. Erst dann könnte man beurteilen, ob hier wirklich eine Formel allen Lebens gefunden wurde oder ob es bei den üblichen vagen Analogien bleibt. So erweist sich COENS Bemühen, von einer Formel zwar zu reden, dabei aber jede Art von formaler Präzisierung sorgsam zu vermeiden, als Bumerang: Die Gesamtstruktur bleibt in der Schwebe. Der Leser erfährt nicht einmal, dass es so etwas wie Biomathematik überhaupt gibt. Erst recht findet er keinerlei Hinweis auf einen Text für Fachleute, in dem COEN oder jemand anderes diese Lücke füllt. So bleibt völlig offen, ob es die versprochene Formel überhaupt gibt.

Darwin heute

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