Читать книгу Darwin heute - Harald Lesch - Страница 22

2.6.3 GERHARD SCHURZ und die DARWIN’schen Module

Оглавление

Fast gleichzeitig mit dem Buch von COEN erschien ein Buch des Physikers und Philosophen GERHARD SCHURZ mit dem Titel Evolution in Natur und Kultur. Eine Einführung in die verallgemeinerte Evolutionstheorie.12 Wenn SCHURZ nicht von einer, sondern gleich von der verallgemeinerten Evolutionstheorie spricht, dann muss er ja wohl auch die einzige, die erste oder die bisher beste derartige Theorie zu bieten haben. Hat er?

Vorweg: Es ist ein sehr gutes Buch! Auf 450 Seiten enthält es beeindruckend viel Information, und überall lohnt sich die Lektüre. Über zahlreiche Disziplinen hinweg werden hochinteressante und sorgfältig recherchierte und belegte Themen behandelt: Entwicklungstheorien vor DARWIN, Argumente gegen Kreationisten, anthropisches Prinzip, wissenschaftstheoretische und ethische Fragen der Evolutionstheorie, Brückenprinzipien zwischen Sein und Sollen, kulturelle Evolution, die Mem-Theorie von RICHARD DAWKINS, mathematische Grundlagen, klassische und evolutionäre Spieltheorie, Evolution von Moral, Wissen und Religion.

Wie aber steht es mit dem Versprechen, eine verallgemeinerte Evolutionstheorie anzubieten? Studiert man das Inhaltsverzeichnis, so ist dieser Verallgemeinerung zwar Teil II gewidmet, tatsächlich aber nur ein Unterkapitel (6.3) von sieben Seiten. Und in Teil IV werden „mathematische Grundlagen und theoretische Modelle der verallgemeinerten Evolutionstheorie“ vorgestellt. Aber wo lernen wir die allgemeine Theorie ohne Mathematik denn wirklich kennen? Welche Seiten oder Kapitel soll jemand lesen, der schon einiges über Evolution und Evolutionstheorien weiß, jetzt aber auch die verallgemeinerte Evolutionstheorie kennenlernen möchte? Diese allgemeine Evolutionstheorie ist, quantitativ gesehen, nicht als Hauptanliegen des Buches erkennbar. Immerhin könnte man der Meinung sein, alle Kapitel über einzelne Arten von Evolution seien notwendig, um die Angemessenheit der vorgeschlagenen allgemeinen Evolutionstheorie zu belegen.

Welche Arten oder Phasen der Evolution sind gemeint? SCHURZ lässt seine verallgemeinerte Evolutionstheorie erst bei der biologischen Evolution im Sinne DARWINS beginnen. Das liegt daran, dass er den Evolutionsbegriff auf DARWIN’sche Evolution einschränkt. In ihr wirken die drei Faktoren – SCHURZ nennt sie DARWIN’sche „Module“ – Reproduktion, Variation, Selektion, denen wir schon bei DENNETT begegnet sind. Durch die Forderung nach Reproduktion werden viele Evolutionsphasen ausgeschlossen, mindestens alle jene, bei denen eben keine echte Reproduktion vorliegt. (Bloßes Weiterexistieren ist natürlich keine Reproduktion, selbst wenn sich dabei einiges ändert.) Von der Evolution des Kosmos ist deshalb nur kurz die Rede und nur im Zusammenhang mit der kosmologischen Vielwelten-Spekulation des Astrophysikers LEE SMOLIN, die aber mit Evolution so gut wie nichts zu tun hat, weil es unter den verschiedenen Welten keine Wechselwirkung, keine Konkurrenz und keine Auslese gibt. Im Übrigen spielen Kosmos, Galaxien und Sterne keine Rolle. Auch die Evolution von Planetensystemen und die chemische Evolution, also die Entstehung von Biobausteinen auf der Früherde, fallen noch nicht unter den hier zugrunde gelegten Evolutionsbegriff; ihnen billigt SCHURZ allenfalls den Status von Protoevolutionen zu. Das leuchtet ein; aber auch die Entstehung des Lebens, zu der DARWIN noch so gut wie nichts sagen konnte, über die aber inzwischen doch einiges bekannt ist, kommt mit vier Seiten zu kurz. Dabei ist gerade sie für Evolutionsfragen besonders lehrreich, weil die entscheidenden Evolutionsfaktoren bei den ersten lebenden Systemen, den Einzellern oder ihren Vorgängern, gewissermaßen in Reinkultur am Werk sind.

Nun gibt es ja auch höhere Evolutionsphasen. Der sozialen Evolution sind merkwürdigerweise nur vier, der technologischen nur fünf Seiten gewidmet, und die Evolution der Wissenschaft findet so gut wie gar keine Erwähnung. Besonders nachteilig wirkt sich aus, dass die Evolutorische Ökonomik überhaupt keine Rolle spielt; gerade hier ist, wie der Name verrät, die Verwandtschaft mit der Evolutionstheorie besonders eng.

Die Evolutionsphase, der SCHURZ sich besonders widmet, ist die kulturelle Evolution. In sorgfältig erarbeiteten Tabellen (S. 142, 195, 207, 237f.) stellt er biologische und kulturelle Evolution gegenüber. Dabei schließt er sich weitgehend der von RICHARD DAWKINS ab 1976 entwickelten Mem-Theorie an, wonach Meme (Ideen) für die kulturelle Evolution eine ähnliche Rolle spielen sollen wie die Gene für die biologische Evolution. Dabei gewinnt man jedoch den Eindruck, dass die Unterschiede die Ähnlichkeiten weit überwiegen, so sehr, sodass von einer übergreifenden Theorie kaum mehr die Rede sein kann. Es ist schon schwierig zu sagen, in welchem Sinne Ideen sich reproduzieren sollen. Insbesondere kennt die kulturelle Evolution eine lamarckistische „Vererbung“ erworbener Eigenschaften, die für die biologische Evolution ausdrücklich verneint wird. Auch ist es so gut wie unmöglich, einen nicht-zirkulären Fitnessbegriff zu prägen, der Prognosen darüber erlaubt, ob ein Mem oder eine Idee sich ausbreitet oder in Vergessenheit gerät.

Hätte ich zu raten, so würde ich als Untertitel wählen: Eine Einführung in die Probleme einer verallgemeinerten Evolutionstheorie. Über solche Probleme wird man tatsächlich bestens informiert.

Darwin heute

Подняться наверх