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2.7.4 Welchen Einfluss hatte DARWINS Evolutionstheorie
auf die Philosophie?

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Dass DARWINS Theorie auch Folgen für die Philosophie haben würde, wurde schon früh bemerkt. DARWIN selbst war sich völlig im Klaren, dass seine Theorie nicht nur innerbiologische Bedeutung besitzt, sondern auch philosophische Implikationen hat. Er selbst hat diese Folgerungen nur angedeutet. Es gab aber genügend andere Leute, die diese Bedeutung sofort erkannten und auch zum Ausdruck brachten. Tatsächlich hat sich die Evolutionstheorie – oder sollten wir vorsichtiger sagen: der Evolutionsgedanke? – für viele weitere Themenkreise als fruchtbar erwiesen, auch für viele Bereiche der Philosophie. Das hat früh begonnen.16

Bekanntlich hat der bereits erwähnte Philosoph HERBERT SPENCER, nur ein gutes Jahrzehnt jünger als DARWIN, die Evolution zur Grundlage seines umfangreichen Werkes gemacht, das ihn als Hauptvertreter des Evolutionismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausweist, zu einer Zeit also, in der sich DARWINS Theorie noch gar nicht durchgesetzt hatte.

Weniger bekannt ist, dass auch der Philosoph CHARLES SANDERS PEIRCE eine „evolutionäre Philosophie“ ins Auge fasst.17 Dabei geht er davon aus, dass sogar die heute herrschenden Naturgesetze durch Evolution entstanden seien. Nur der Zufall könne am Anfang aller Entwicklung stehen, und nur der Zufall könne aus homogenen Anfangszuständen die heterogene Vielfalt werden lassen, die wir heute vorfinden und von der auch wir ein Teil sind. Man darf hier von einer Evolutionären Naturphilosophie sprechen. Im Gegensatz zum Evolutionären Naturalismus enthält sie allerdings viele metaphysische Elemente, insbesondere ein umfangreiches Kategoriensystem.

Ein weiterer früher Vertreter einer evolutionären Philosophie ist ROY WOOD SELLARS. In seinem Buch Evolutionary naturalism von 1922 verbindet er evolutionäres Denken mit einem konsequenten Naturalismus, eine Verbindung, die uns heute ganz natürlich zu sein scheint. Der Naturalist geht davon aus, dass es überall in der Welt „mit rechten Dingen“ zugehe. Deshalb muss er alle Eigenschaften des Menschen auf natürliche Weise erklären, also auch Erkennen, Handeln und Urteilen.18 Dafür ist ihm die Evolutionstheorie besonders willkommen. Sie wird damit zu einem wesentlichen Baustein für einen Evolutionären Naturalismus. Nicht nur hat DARWIN diesen Baustein geliefert, er hätte sich dieser Auffassung sicher auch gern angeschlossen.

JOHN DEWEY (1859–1952), Pragmatist und Naturalist, der die amerikanische Philosophie besonders stark geprägt hat, kann DARWINS Einfluss gar nicht genug betonen. Dieser habe den Blick der Biologen vom Sein auf das Werden gerichtet. Zwar hätten das in der Physik andere schon vor ihm getan, etwa KEPLER und GALILEI; aber in der Biologie habe eben noch ein statisches Denken geherrscht, wonach die einzelnen Lebewesen sich entwickeln, die Arten aber nicht: „Der Einfluss DARWINS auf die Philosophie beruht darauf, dass er die Phänomene des Lebens für das Prinzip des Übergangs erobert hat und dadurch die neue Logik für eine Anwendung auf Geist und Moral und Leben befreit hat.“19 Damit habe DARWIN die gesamte klassische Naturphilosophie und Erkenntnistheorie in Frage gestellt; insbesondere habe er alle Teleologie entbehrlich gemacht. – Ganz ähnlich beurteilt HARALD HÖFFDING (1843–1931) den Einfluss des Evolutionsdenkens auf die Philosophie in seinem Beitrag zu dem schon zu Anfang erwähnten Sammelband von ALBERT CHARLES SEWARD zu DARWINS 100. Geburtstag.

Trotz dieser frühen Stimmen, die den Einfluss der Evolutionstheorie auf die Philosophie hervorheben und offenbar auch begrüßen, muss dieser Einfluss in Deutschland auch heute noch als gering bezeichnet werden. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kann man dafür noch Verständnis aufbringen; war doch damals die Evolutionstheorie selbst noch umstritten. Für die zweite Jahrhunderthälfte greift diese Ausrede aber nicht mehr. Hier muss man ganz klar sehen, dass deutsche Philosophie in dieser Zeit immer noch stark idealistisch bis religiös geprägt ist. So hat auch das dreizehnbändige Historische Wörterbuch der Philosophie die Chance, die Bedeutung der Evolutionstheorie für die Philosophie zu thematisieren, rundweg verpasst. Wie kommt es, dass die Bedeutung der Evolutionstheorie für die Philosophie in Deutschland so unterschätzt wird? Es scheint mehrere Gründe zu geben.

Erstens wird die Evolutionstheorie selbst weit unterschätzt. An den Schulen wird sie kaum behandelt, wenn überhaupt, dann erst in oberen Klassen und auch dort recht oberflächlich. Bedenkt man, was sonst alles sogar schon an Grundschulkinder herangetragen wird – Religionsunterricht, Fremdsprachen, ein bisschen Geschichte, ein bisschen Erdkunde – dann fragt man sich, warum der Evolutionsgedanke nicht auch schon viel früher vermittelt wird.

Zweitens bleibt der Evolutionsgedanke im Allgemeinen auf die Biologie beschränkt. Dass er eine ungeheure Tragweite hat – für andere Naturwissenschaften, für viele weitere Disziplinen, für die Philosophie, für unser gesamtes Weltbild –, das wird den Lernenden nicht klar.

Wer soll es ihnen denn auch erzählen? Es ist ja – drittens – auch den Lehrenden nicht bewusst. An welchen Universitäten gibt es das Fach Evolutionsbiologie? An welchen Universitäten ist es Pflicht? An welchen Universitäten reicht es über die Biologie hinaus? An welchen Schulen und Hochschulen wird die Tragweite dieser Idee vorgestellt?

Und viertens hat es sich in Deutschland immer noch nicht herumgesprochen, dass auch Grundzüge der Naturwissenschaften zur Bildung gehören. Das erschreckendste Beispiel ist das Buch Bildung – Alles, was man wissen muss. Sein Autor, der Anglist DIETRICH SCHWANITZ, meint dort: „Naturwissenschaftliche Kenntnisse müssen zwar nicht versteckt werden, aber zur Bildung gehören sie nicht.“ So enthält sein Buch bei einem Umfang von 700 Seiten so gut wie nichts über Naturwissenschaften, nämlich nur dreieinhalb Seiten über DARWIN und die Evolution, drei Seiten über EINSTEIN und die Relativitätstheorie. Und ausgerechnet hier muss man entsetzt feststellen, dass es selbst in diesen wenigen Bemerkungen von Fehlern nur so wimmelt!20

Im Folgenden schildern wir nicht den Einfluss der Evolutionstheorie auf die Philosophie als Ganzes, sondern ihre Auswirkungen auf einige wichtige Teilgebiete der Philosophie.

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