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2.4 Übergreifende Evolutionsszenarien
ОглавлениеSchon länger gibt es Bücher, die versuchen, Evolution als übergreifendes Geschehen darstellen. Es geht dabei um die breite Anwendbarkeit des Evolutionsgedankens, nicht immer auch schon der Evolutionstheorie im DARWIN’schen Sinne. Ein frühes Werk dieser Art ist CARL FRIEDRICH VON WEIZSÄCKERS Buch Die Geschichte der Natur, das auf Vorlesungen aus dem Jahre 1946 zurückgeht und immer wieder aufgelegt wird. Obwohl er DARWINS „Selektionslehre“ voll anerkennt, spricht VON WEIZSÄCKER nicht von Evolution, sondern nur von Geschichte und Entwicklung. Spätere derartige Bücher stammen von Autoren wie BRYSON, BYLINSKI, CALVIN, VON DITFURTH, GRIBBIN, RENSCH, RIEDL und UNSÖLD, und von Herausgebern wie FABIAN, GESSLER, GRAFEN, JANTSCH, LASKOWSKI, PATZIG, SIEWING und WILHELM. Diese haben dann – anders als VON WEIZSÄCKER – auch keine Hemmungen mehr, durchgängig von Evolution zu sprechen. Wie nicht anders zu erwarten, wird dabei der Evolutionsbegriff sehr unterschiedlich verwendet. Über einen dieser Autoren – den Biologen BERNHARD RENSCH – berichten wir etwas ausführlicher.
BERNHARD RENSCH (1900–1990) war Mitbegründer der Synthetischen Theorie der Evolution. Neben zahlreichen biologischen Arbeiten schrieb er auch Bücher über allgemeinere, besonders über philosophische Themen. Eines seiner letzten Bücher ist Das universale Weltbild. Evolution und Naturphilosophie (1977), eine eindrucksvolle Zusammenschau seines Gesamtwerkes. Hier sieht er, wie der Titel schon erwarten lässt, überall Evolution am Werk. Er beginnt mit Kapiteln über die Evolution des Universums, der Galaxien, des Sonnensystems und der Erde, bietet später auch Kapitel über die Evolution heutiger Rassen und Völker, menschlicher Kulturen, ethischer und religiöser Vorstellungen und der Kunst, des Psychischen und sogar über die Evolution spezieller Naturgesetze. RENSCH fasst den Evolutionsbegriff also sehr weit.
Allerdings spricht er nur beim Aufbau von Systemen von Evolution, nicht dagegen beim Abbau. In Wahrheit gehört der Abbau genauso zur Evolution wie der Aufbau; häufig sind ja gerade die Katastrophen Voraussetzung und Chance für eine weitere Evolution. Und nicht nur das: Auch Körperteile und Fähigkeiten, die nicht mehr gebraucht werden, können verschwinden. Fische, die aus oberflächennahen Gewässern in die Tiefsee oder in Höhlen vordringen, verlieren ihre Augen; Schalentiere, die ihre Ernährung auf einfaches Filtern von Meerwasser umstellen, brauchen sich nicht mehr zu bewegen und verlieren große Teile ihres Gehirns; das menschliche Steißbein ist der unscheinbare Rest des Schwanzes, den unsere nächsten Verwandten, die Menschenaffen, noch haben, den der aufrechte Gang unserer Vorfahren aber anscheinend entbehrlich machte. Wenn man so will, ist Evolution also noch umfassender, als RENSCH sie sieht.
Insgesamt skizziert RENSCH ein umfassendes evolutionäres Bild; doch macht er nirgends den Versuch, allgemeine Evolutionsgesetze oder gar eine allgemeine Evolutionstheorie aufzustellen. Das gilt auch für viele andere Bücher, vor allem für Sammelbände: Sie fassen den Evolutionsbegriff ähnlich weit, ohne eine einheitliche Theorie in Aussicht zu stellen oder gar vorzulegen. Häufig verraten das schon die Titel, etwa Evolution: Woher und Wohin? Antworten aus Religion, Natur- und Geisteswissenschaften.
In solchen Büchern geht es vorwiegend um die Darstellung verschiedener Evolutionsphasen. Es ist ganz natürlich, dass dabei jeder Autor gerade jene Abschnitte der Evolution hervorhebt, für die er besonderes Interesse oder besondere Kompetenz hat. Zusammenstellungen evolutionärer Disziplinen, die über bloße Aufzählungen hinausgehen oder sogar so etwas wie Vollständigkeit anstreben, finden sich dagegen selten. Einem solchen Wunsch recht nahe kommt das Buch Evolutionär denken des niederländischen Philosophen CHRIS BUSKES mit 10 evolutionären Disziplinen und noch näher der hervorragende Sammelband Evolution, herausgegeben von den Zürcher Wissenschaftshistorikern PHILIPP SARASIN und MARIANNE SOMMER mit rund 20 evolutionären Disziplinen.6 Rund 50 wissenschaftliche und philosophische Disziplinen behandelt das Buch des gegenwärtigen Autors GERHARD VOLLMER: Im Lichte der Evolution. Darwin in den Wissenschaften und in der Philosophie.7