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4. Die Widerrechtlichkeit der Störung, Bedeutung von Wesentlichkeit und Ortsüblichkeit
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§ 1004 setzt grundsätzlich einen widerrechtlichen Eingriff in das Eigentum voraus. Dieses Erfordernis fehlt, wenn der Eigentümer zur Duldung des Eingriffs verpflichtet ist (§ 1004 Abs. 2). Solche Duldungspflichten können auf gesetzlichen Vorschriften des privaten oder öffentlichen Rechts beruhen oder sich aus dem Rechtsverhältnis zwischen Eigentümer und Störer ergeben. Dies ist der Regelungszusammenhang für das, was man als den privatrechtlichen Immissionsschutz bezeichnen kann.
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a) Privatrechtliche Duldungspflichten können etwa herzuleiten sein aus einer Gestattung des Eigentümers.[94] Die schuldrechtliche Gestattung wirkt nur zwischen dem gestattenden Eigentümer und demjenigen, dem die Einwirkung gestattet wird. Gegen den Rechtsnachfolger des Eigentümers wirkt die Gestattung nur, wenn dafür ein besonderer Rechtsgrund geschaffen wird (zB Schuldübernahme). Danach braucht der Erwerber eines Grundstücks einen Leitungsmast eines Energieversorgungsunternehmens nicht deshalb zu dulden, weil der Rechtsvorgänger des Eigentümers die Errichtung des Mastes gestattet hat[95]. Auch das öffentliche Interesse an der Leitung begründet nach dem BGH keine Duldungspflicht des Eigentümers. Allerdings kann § 41 Abs. 1 S. 2 BauGB die Duldungspflicht auslösen, wenn das beeinträchtigte Grundstück von der Leitung aus mit Strom versorgt wird, ferner können in diesem Fall die AGB des Energieversorgungsunternehmens eine Duldungspflicht begründen. Unter diesen Gesichtspunkten wird die Dienstbarkeit (Rn 529 ff) als Grundlage der Duldungspflicht besonders bedeutsam.
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Im Vordergrund der Duldungspflichten, die dem Anspruch aus § 1004 entgegengehalten werden können, stehen die Pflichten zur Hinnahme bestimmter, in § 906 näher bezeichneter Immissionen. Die Einschränkung der aus § 1004 an sich folgenden Verbietungsbefugnis durch § 906 BGB ist der Kern einer privatrechtlichen Raumordnung und zugleich des nachbarrechtlichen Umweltschutzrechts, das das BGB enthält. Die Regelung besagt im Kern, dass bestimmte aus der „Nachbarschaft“ kommende Einwirkungen, wenn sie unwesentlich oder zwar wesentlich, aber „ortsüblich“ sind, hingenommen werden müssen, dass aber der Nutzer des Grundstücks, von dem die Immission ausgeht, in wirtschaftlich zumutbarem Umfang Vorkehrungen gegen Emissionen treffen und an den Eigentümer des beeinträchtigten Grundstücks für unzumutbare Belastungen einen Ausgleich leisten muss. Diese Rechte und Pflichten beziehen sich im Wesentlichen auf das Eigentum an einem durch die Immission betroffenen Grundstück, sog. Immobiliarbezug des privaten Nachbarrechts[96]. Mit Rücksicht auf das Kriterium der „Ortsüblichkeit“ (Rn 85) muss bei der Prüfung eine Durchschnittsbetrachtung einer Mehrheit von Grundstücken in gleicher Lage stattfinden[97], was zwar eine besondere Empfindlichkeit unberücksichtigt lässt, aber im Zuge neuerer Entwicklungen, etwa der heutigen Einstellung zu Kinderlärm, veränderlich sein könnte. Ein Kritikpunkt vor diesem Hintergrund ist die Interpretation der Merkmale der „Ortsüblichkeit“ und der „Wesentlichkeit“ in § 906 (Rn 82), aus denen folgen kann, dass langsame Entwicklungen, die für die Nachbarschaft nicht sonderlich störend sind, nicht verhindert werden können und die damit dazu beitragen, dass die eine Emission nicht vermeidende Nutzung eines Tages ortsüblich wird[98]. Auf der anderen Seite sind hier die Ergebnisse öffentlich-rechtlicher Planungs- und Genehmigungstätigkeit zu berücksichtigen, bei der die privaten Belange mitbedacht werden mussten. Allerdings kann wegen § 14 BImSchG gegen einen behördlich genehmigten Betrieb, auch wenn er nicht ortsüblich sein sollte, nicht mit der Unterlassungsklage vorgegangen, sondern nur auf Maßnahmen gedrungen werden, die die benachteiligenden Wirkungen ausschließen; erst wenn dies nicht möglich ist, kann Schadensersatz verlangt werden. Insgesamt wird hiermit ein Gleichgewicht zwischen Einzel- und Allgemeininteressen angestrebt.
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Gewisse Arten von Immissionen, die § 906 nicht erwähnt, etwa sog. grob körperliche Immissionen (Steine oder Felsbrocken, die vom Nachbargrundstück gekommen sind), müssen aber keineswegs geduldet werden[99], wenn jemand für die Beeinträchtigungen als Störer verantwortlich ist. Zu dulden sind unter den in § 906 genannten Umständen also Geräusche, Erschütterungen, Dämpfe und Gerüche, auch Staubbehinderung[100]. Zum Problem der ideellen und der negativen Einwirkungen oben Rn 70. Gegenüber wesentlichen, ortsüblichen Emissionen, deren Quellen nicht beseitigt werden können, kommt dann der in § 906 Abs. 2 niedergelegte Anspruch auf vorbeugende Schutzmaßnahmen oder sonst auf einen Geldausgleich in Betracht. Das Gesetz versucht auf diesem Wege erneut einen Interessenausgleich zwischen demjenigen, der (möglicherweise aus dringenden Gründen der wirtschaftlichen Entwicklung) eine emittierende Anlage betreiben muss, und auf der anderen Seite dem Inhaber gestörter Rechte (so auch § 14 BImSchG – Rn 99). Was dabei für das Eigentum gilt, muss sich auch der Besitzer, also etwa der Mieter eines Wohngrundstücks, bei der Durchsetzung seiner Schutzansprüche aus § 862 entgegenhalten lassen. Dementsprechend hat die Rechtsprechung § 906 auf die Rechtsstellung obligatorischer Nutzungsberechtigter wie der Mieter ausgedehnt, allerdings nicht auf das Verhältnis unter mehreren in einem Gebäude ansässigen Mieter[101]. Eine Modifikation der Betrachtungen jedenfalls hinsichtlich des Maßes zumutbarer Belastungen hat sich daraus ergeben, dass § 906 Abs. 1 S. 2 Standards in Gestalt der in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten „Grenz- oder Richtwerte“ für die Bestimmung der Wesentlichkeit heranzuziehen erlaubt; das betrifft die Verwaltungsvorschriften in den sog. TA-Luft und TA-Lärm[102]. Dabei sind insbesondere die Richtwerte für die höchstzulässige Lärmbelästigung stark aufgeschlüsselt, es gibt sie für Bau- und Arbeitslärm, für Fluglärm, Kinder- und Schullärm, für Kirchenglocken, Kraftfahrzeuge und Verkehr, für Sport sowie für Musikveranstaltungen und Gaststättenlärm. Auf gewisse dadurch verursachte Folgeprobleme ist noch einzugehen.
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b) Geduldet werden müssen unwesentliche Immissionen. Ob eine Einwirkung unwesentlich ist, hängt von der Art und der Nutzungsweise des betroffenen Grundstücks ab. Das bedingt eine Durchschnittsbetrachtung der Nutzung einer Mehrheit von Grundstücken, die jedenfalls das emittierende und das beeinträchtigte Grundstück umfassen muss.[103]
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Wesentliche Beeinträchtigungen können zB starke Rußeinwirkungen[104] oder nächtlicher Baulärm in einem Mietshaus sein. Angesichts der Bedeutung der Staubeinwirkungen für den Betrieb des F im Ausgangsfall 5 ist die Einwirkung nicht „unwesentlich“. Einwirkungen durch Laubfall usw auf das Nachbargrundstück sind grundsätzlich zu dulden[105], doch sind Ausnahmen angenommen worden für das Abfallen von Laub, Nadeln und dergleichen von Bäumen, die unter Verletzung des (landesrechtlich vorgeschriebenen) Grenzabstandes gepflanzt und unterhalten wurden, wobei allerdings hinzu kam, dass der Eigentümer des hierdurch beeinträchtigten Grundstücks wegen der Versäumung einer ebenfalls landesrechtlich vorgesehenen Frist ein Zurückschneiden der Bäume nicht mehr verlangen konnte[106].
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Die Neuerung in § 906 Abs. 1 S. 2, die etwa die in der technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft (TA-Luft) zugrunde gelegten Werte für die Bestimmung der Wesentlichkeitsgrenze für maßgeblich erklärt, wird angezweifelt, weil möglicherweise eine Reduzierung des Nachbarschutzes darin liegt, dass eine die Richtwerte nicht übersteigende Belastung ohne weiteres als unwesentlich eingestuft werden könnte[107]. Das widerspräche dem Grundansatz in einer Durchschnittsbetrachtung, doch kann im Einzelfall auch eine die Grenzwerte noch nicht erreichende Beeinträchtigung erheblich sein[108]. Ohnehin hat sich aber die Einschätzung der Richtwerte insofern verändert, als störende Ereignisse, zB Musikveranstaltungen oder Volks- oder Gemeindefeste, nicht isoliert betrachtet werden dürfen, sondern unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit für den Eigentümer (oder Besitzer) beeinträchtigter Räume oder Grundstücke, die sich aus der Seltenheit solcher Veranstaltungen oder aus ihrem Stellenwert für die örtliche Gemeinschaft ergebe, hingenommen werden müssen[109]. Die öffentliche Akzeptanz dieses Lärms, der gerade nicht die Öffentlichkeit, sondern Einzelne trifft, droht dabei überbewertet zu werden.
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c) Wesentliche Beeinträchtigungen sind zu dulden, sofern sie ortsüblich sind, § 906 Abs. 2 S. 1. Darunter wird der Charakter eines Raums verstanden, geprägt durch die typische Art der Nutzung der Grundstücke und die dadurch begründeten Einwirkungen auf die Nachbarschaft[110]; eine Rolle spielen naturgemäß planerische Vorgaben und die konkrete öffentliche Genehmigungstätigkeit[111]. Nach dem Wortlaut des § 906 Abs. 2 kommt es auf die Ortsüblichkeit der Nutzung des beeinträchtigenden Grundstücks, nicht des beeinträchtigten an; das Gesetz stellt insoweit zu einseitig auf das Interesse der Nutzung des beeinträchtigenden Grundstücks ab. Da es aber um Raumordnung geht, ist auf das Gebiet abzustellen, in dem beide Grundstücke liegen. Soweit danach ortsübliche, auch wesentliche Beeinträchtigungen zu dulden sind, schafft § 906 Abs. 2 S. 2 einen Anspruch zugunsten des beeinträchtigten Grundstückseigentümers.
Wodurch allerdings das – wie es der BGH einmal formuliert hat[112] – „Wesen des Raumes“ bestimmt wird, ist nicht mit einer allgemein gültigen Formulierung zu umschreiben. Entscheidend ist insofern die tatsächliche Gestaltung des Raums[113]. So wurde etwa im westdeutschen Industriegebiet die Rauch- und Staubentwicklung der Stahlwerke, in ländlichen Gebieten dagegen die Geruchsbelästigung durch größere Düngerhaufen als hinnehmbar betrachtet. Es kann aber auch so sein, dass eine einzelne Anlage nicht allein die Ortsüblichkeit bestimmt, auch wenn sie längere Zeit hingenommen wurde. So hat die Rechtsprechung das längere Vorhandensein einer emittierenden Anlage nicht für ihre Qualifikation als ortsüblich ausreichen lassen[114], obwohl es auf der anderen Seite auch sein kann, dass ein einziger Großbetrieb den Charakter des Raums prägt[115]. Damit hängt das Problem zusammen, dass Einwirkungen iS der §§ 1004, 906 nicht nur im engen Raum gemeinsamer Grundstücksgrenzen stattfinden können, was sicherlich im Vordergrund der nachbarrechtlichen Regeln steht[116]; die Einwirkungen etwa von Industrieanlagen können sich über weite Räume hinweg bemerkbar machen. Das ist dann aber eine Frage des öffentlich-rechtlichen Umweltschutzes hauptsächlich im Rahmen von Genehmigungsverfahren. Davon abgesehen, muss die Ortsüblichkeit mit der Art der Nutzung der Grundstücke in Verbindung stehen[117].
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Ein anderer häufig zu hörender Einwand verfängt in der Regel nicht. Es gibt nämlich kein Prioritätsprinzip in dem Sinne, dass ein einmal geschaffener Zustand vorrangig und zu schützen sei. Maßgebend ist der Zustand zur Zeit der Entscheidung; so ist für die Ortsüblichkeit gleichgültig, dass eine störende Kläranlage im Zeitpunkt der Errichtung des durch die Anlage gestörten Hauses geplant, aber noch nicht errichtet war[118]. Andererseits kann eine ursprünglich zu duldende Beeinträchtigung durch nachträglichen Wegfall der Duldungspflicht rechtswidrig werden[119].
Interessant dazu der „Schweinemästerei-Fall“: In der Nähe einer Schweinemästerei wurden die ursprünglich landwirtschaftlichen Nachbargrundstücke später mit Wohnhäusern bebaut. Die Ortsüblichkeit bestimmt sich nach dem Zustand zur Zeit der Entscheidung. Folglich muss die Schweinemästerei als unüblich gegebenenfalls weichen[120]. Wenn die Beseitigung der Beeinträchtigung durch Maßnahmen beim störenden Grundstück nicht möglich ist, kann die Einstellung verlangt werden.
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Ein besonders lohnendes Studienobjekt für mehrere im Vorigen erläuterte Anspruchsvoraussetzungen des negatorischen Anspruchs, aber auch für die Begrenztheit nur begrifflicher Wertungen stellt der Fall der „Frösche von Ingolstadt“ dar[121]:
Die Grundstücke der Parteien lagen etwa 70 m von einer Straße entfernt an einem Bach. Die Beklagte hatte auf ihrem Grundstück mit behördlicher Genehmigung einen ca. 144 qm großen Teich anlegen lassen, der etwa 35 m vom Schlafzimmer der Kläger entfernt lag. Die in dem Teich der Beklagten ausgesetzten Frösche störten durch ihr lautes und unangenehmes Quaken die Kläger mehrere Monate im Jahr in der Nachtruhe, so dass diese vor der Belästigung jeweils von April bis September in ihre Stadtwohnung flüchteten. Messungen hatten einen Geräuschpegel von 87 (dBA) ergeben, was um das 7,5-fache über dem Richtwert für Wohngebiete zur Nachtzeit liegt. Die Klage war auf Trockenlegung des Teiches und Ersatz des Schadens gerichtet, der durch den Umzug in die Stadtwohnung entstanden war, hilfsweise auf Entfernung der männlichen Frösche aus dem Teich oder andere geeignete Maßnahmen gegen das Froschquaken.
Nach sorgfältiger Auswertung der Umstände in Bezug auf den tatsächlichen Lärmpegel (Orientierung am Mittelwert für die lauteste Stunde in der Zeit zwischen 21.30 und 24.00 Uhr) wurde die Lärmbelästigung für den Zeitraum von 15 bis 25 Tagen während des gesamten Zeitraums für wesentlich im Sinne des § 906 erklärt[122]. Hinsichtlich der Ortsüblichkeit orientierte man sich am Richtlinienwert für reine Wohngebiete. Dabei wurde zwar gesehen, dass dem Bewohner eines ländlichen Gebiets Naturgeräusche in erhöhtem Maße zumutbar sind, man bezog sich aber auch auf die künstliche Anlage des Teiches. In unmittelbarer Nähe zu dem Schlafzimmer der Kläger bestand keine vergleichbare Lärmbelästigung durch Froschquaken, dies, obwohl im unbesiedelten Raum, an den die Grundstücke grenzten, vergleichbare Biotope existierten. Weder für die „Wesentlichkeit“ noch für die „Ortsüblichkeit“ spielte sodann die behördliche Genehmigung der Anlage des Teichs eine Rolle. Es konnte hier auch keine Rede von einer nur auf die natürliche Beschaffenheit der Umwelt zurückgehenden Beeinträchtigung sein, da der Teich von der Beklagten künstlich angelegt worden war.
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Das Urteil zeigt einerseits, dass die Gerichte ein „geändertes Umweltbewusstsein“ bei der Beurteilung der Wesentlichkeit einer Emission durchaus mitbedenken[123], aber auch, dass ein betroffener Eigentümer trotz plankonformer und konkret genehmigter Nutzung eines Grundstücks noch auf privatrechtlichem Wege vorgehen und dabei zumindest den Richtlinienstandard durchsetzen kann. Allerdings konnte im Ergebnis wegen des gesetzlichen Artenschutzes weder die Trockenlegung des Teichs noch die Ausrottung der männlichen Exemplare verlangt werden; der BGH verwies die Sache deshalb an die Tatsacheninstanz zurück, damit diese prüfen könne, ob die Naturschutzbehörde möglicherweise in eine befriedigende nachbarrechtliche Lösung des Problems einwilligen würde. Das Letztere ist, da der schließliche Ausgang des Streits nicht publiziert ist, etwas unbefriedigend, aber durch die Gegebenheiten der beschränkten Prüfung in der Revisionsinstanz bedingt. Auch ist fraglich, ob wirklich die Zivilgerichte die Aussichten eines Antrags auf eine Ausnahmegenehmigung der Naturschutzbehörde beurteilen sollen und können[124].