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Mexikanische Weihnachtsmagie

Ich hatte Postkarten geschrieben, fünf Stück, dabei wusste ich, dass sie über die Feiertage alle zusammen sein würden: meine Geschwister, meine Eltern, meine Großeltern. Für jeden Haushalt eine Karte.

Fröhliche Weihnachten.

Eine merkwürdige Vorstellung. Mein Bruder hatte sich vor Kurzem eine eigene Wohnung gesucht, eine, die ich noch nicht kannte, und genau jetzt würden sie dort ankommen.

Als Erstes die Eltern meiner Mutter, die immer mindestens eine Viertelstunde zu früh dran waren. Christian hatte sich sicher Mühe gegeben, die neue Wohnung herzurichten. Ich stellte mir einen Weihnachtsbaum vor, eine Tanne oder Kiefer, gerade gewachsen und ungefähr so groß, dass die Spitze fast die Decke berührte. Weihnachtskugeln in allen Farben und dazu ein paar Lichterketten. Er wollte bestimmt die Familie beeindrucken, indem er alle Räume schmückte und Kuchen backte, während er das Kochen doch lieber meiner Mutter und den Großmüttern überließ. All ihre Stimmen, im Hintergrund Last Christmas, Orangen-Marzipan-Stollen, draußen Schnee.

So stellte ich mir das vor, während ich zum Strand hinunterging.

Hier in Mexiko war es erst sieben Uhr morgens, doch die Hitze des nahenden Tages kündigte sich bereits an. Vom Hostel zum Strand lief man fast 15 Minuten, erste Schweißtropfen perlten von meiner Stirn. Dazu die Weihnachtsdeko. Tatsächlich waren einige der Schaufenster in der Fußgängerzone Playa del Carmens festlich geschmückt, bunte Weihnachtsmänner blinkten fröhlich vor sich hin, obwohl man ihr farbenfrohes Licht gegen die Sonne kaum erkennen konnte, und später, sobald die Geschäfte geöffnet waren, würde aus knackenden Lautsprechern Weihnachtsmusik dudeln.


Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ausgerechnet im Dezember meinen Mexikoaufenthalt zu beginnen? Mitte Januar würde ich anfangen, in einem Freiwilligenprojekt zu arbeiten, drei Monate lang, und vorher hatte ich ein bisschen das Land kennenlernen wollen. Nun war ich hier, zur falschesten Zeit des Jahres. Und dann auch noch in dieser Touristenstadt.

»Woran denkst du?«, fragte Mandy, die neben mir lief.

Wir waren uns vor drei Tagen in Mérida begegnet, gerade als mir bewusst geworden war, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben die Weihnachtszeit nicht mit meiner Familie verbringen würde. Wahrscheinlich hatte ich deshalb zugestimmt, sie nach Playa del Carmen zu begleiten. Mir fehlten die Alternativen. Alternativen gegen die merkwürdige Form der Einsamkeit, die die Ferne auslöst. Ich hatte mir vorher keine Gedanken darüber gemacht, wie fremd sich ein anderes Land anfühlen kann.

»Ach, nur an meine Familie. Um diese Zeit treffen wir uns meistens, essen Kuchen und bereiten alles für den Heiligabend vor. Die Kinder sind bestimmt schon ganz aufgeregt wegen der Geschenke.«

Mandy nickte und fragte nicht weiter nach. Ich wusste gar nicht so genau, wie man in den USA den Heiligabend verbrachte. Allerdings war ich zu erschöpft und genau genommen auch zu desinteressiert, um sie nach ihren Traditionen zu fragen.

Überhaupt war es ein Wunder, dass sie nicht von selbst davon erzählte, das hatte sie schließlich die letzten drei Tage mit allen möglichen Themen getan. Wahrscheinlich hatte sie die Schnarcherin in unserem Sechs-Bett-Schlafraum ebenfalls die halbe Nacht wachgehalten. Der Hauptgrund, weshalb wir so früh aufgestanden waren. Und weil ich den Strand für mich haben wollte oder zumindest einen winzigen Teil davon. In ein paar Stunden würde er wieder so voll sein, als gäbe es in ganz Mexiko keinen anderen Ort, an dem man sich aufhalten konnte.

Ich grub die Zehen in den morgenwarmen Sand, die Flip-Flops in den Händen. Leer war der Strand zwar bei Weitem nicht, doch noch lange nicht so überfüllt wie in den Vor- und Nachmittagsstunden.

»Kommst du mit ins Wasser?«, fragte ich Mandy.

Sie zuckte mit den Schultern, ihr Blick streifte über den weißen Strand. Vermutlich war sie eher daran interessiert, anflirtbares Material ausfindig zu machen. Das schien ohnehin ihre Hauptbeschäftigung zu sein, nach stundenlangen Monologen über ihr Leben und ihre Meinungen zu allen möglichen Themen.

Wenn diese beiden Eigenschaften nicht wären, wäre sie sicher sehr nett. Und wenn nicht Weihnachten wäre, wäre ich bestimmt gnädiger mit allem.

»Kannst du dann auf meine Sachen aufpassen?«, fragte ich. Geistesabwesend nahm sie meine Flip-Flops, das Handtuch, das Shirt und den Rock entgegen.

Ich wandte mich dem Wasser zu. Gestern Abend hatte ich an einem der altersschwachen Hostelrechner das Wetter in Berlin gecheckt. Gut zwölf Grad. Sie hatten genauso wenig Schnee wie wir, aber weit und breit kein Karibikmeer.

Das gehörte mir.

Ich tauchte in das klare, warme Wasser, in die Welt unter der Oberfläche, in der alles so still war, so gedämpft, in der sich alles weit weg anfühlte, jede Bewegung war nur eine Erinnerung. Dieses Jahr würde es keine Geschenke geben. Keinen Gewürzkuchen. Keinen Entenbraten mit Rotkohl. Doch dieses Jahr spürte ich diese Leichtigkeit, diese Stille und die leise kitzelnde Aufregung immer dann, wenn mir bewusst wurde, dass ich weit weg war von zu Hause, ganz allein, zum ersten Mal in meinem Leben.

Ich tauchte wieder auf, die Sonne glitzerte überall um mich herum und vom Strand wehten Stimmen und Gelächter herüber. Ein paar Minuten lang ließ ich mich auf dem Rücken treiben, dann schwamm ich ein Stückchen hinaus und anschließend zurück an den Strand. Langsam meldete sich mein Magen, es wurde Zeit für ein paar morgendliche Tacos.

Mandy war natürlich schon umringt von lauter neuen Freunden. Keine Ahnung, wie sie das machte, doch sie blieb nie lange allein. Wenn ich mich jetzt entscheiden würde, der Haupttourismuszone zu entfliehen, wenn ich jetzt irgendwo hinfahren würde, wo es leise und einsam war, ich müsste kein schlechtes Gewissen haben, sie über die Feiertage spontan zurückzulassen. Sie war schließlich nicht mehr als eine zufällige Reisebekanntschaft. Hier gab es niemanden, der mir wirklich etwas bedeutete, hier gab es nur Gerüche und Klänge und eine Art von Wärme, die ich vorher nicht gekannt hatte.

»Das ging ja schnell«, begrüßte sie mich und stellte mir anschließend die sechs Leute vor, mit denen sie sich gerade unterhalten hatte. Ich merkte mir keinen einzigen Namen, nur, dass drei von ihnen in einer Rockband spielten und heute Abend in einer kleinen Bar auftreten würden, die anderen drei waren Touristen wie wir.

»Was ist, gehen wir zu dem Konzert?«, fragte sie mich, als würde meine Meinung eine Rolle spielen. Dabei würde Mandy auch gehen, wenn ich keine Lust auf den Trubel hatte.

»Klar«, antwortete ich.

Rockmusiker statt Schokoweihnachtsmänner. Wieso nicht?

Den Tag verbrachte ich damit, in den Souvenirgeschäften nach ein paar Mitbringseln zu stöbern und zwischendurch zu Hause anzurufen. Sie waren mitten in der Bescherung, sie lachten alle und klangen so fröhlich, obwohl ich doch fehlte, obwohl ich nicht bei ihnen war. Allerdings konnte ich wohl kaum erwarten, dass das Leben der anderen stehen blieb, bis ich zurückkehrte. Schließlich befand ich mich nicht im Exil, ich war freiwillig gegangen.

Meine Nichte und meine beiden Neffen riefen immer wieder dazwischen, während ich mit meiner Mutter sprach, und zählten mir die Geschenke auf, die sie bereits ausgepackt hatten. Es gab Früchtepunsch, die Ente war schon längst im Ofen und würde bald gegessen werden, der erste Plätzchenteller war bereits komplett geplündert.

Dann legten wir auf.

Die Dunkelheit brach rasch herein, wie jeden Abend. Dämmerung war hier nicht mehr als ein Zwinkern, doch die Wärme blieb, sie hing zwischen den niedrigen Häusern und nackten Beinen und statt Geflügelbraten aßen wir ein paar Quesadillas an einem Stand an der Ecke zum Hostel, ein Stück vom Zentrum entfernt.

Der Auftritt begann um acht Uhr, die Bar war brechend voll und die Cocktails vergleichsweise teuer, aber gut. Die Margarita wurde mein Glühwein und die Musik erwies sich als erstaunlich vielfältig und elaboriert, kein einfaches Gitarrengeschrubbel und ein paar schief gesungene Liedzeilen, wie ich eigentlich erwartet hatte. Mandy fand die Mädels vom Strand wieder, die mit der Band zusammen unterwegs gewesen waren, und ich überließ die vier ihrem fröhlichen Geschnatter und meine Gedanken der Musik. Das beste Mittel gegen Sehnsucht.

Allerdings war das Konzert viel zu schnell vorbei und der Laden derart voll, dass ich kaum noch Luft bekam.

Ich ging nach draußen, hinein in das Sommernachtsgefühl mitten im Dezember. Die Weihnachtsbeleuchtung flutete die Fußgängerzone, doch noch immer wirkte sie irreal, wie etwas, das vergessen worden war. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Familie in diesem Augenblick Mohnstollen aß und genau genommen tat sie das auch nicht. In Deutschland war es jetzt mitten in der Nacht, der Heiligabend schon wieder vorbei. Morgen würden die Besuche bei den entfernteren Verwandten beginnen, mit mehr Geschenken, mehr Kuchen, mehr Sekt und mehr Glühwein.

Die Tür hinter mir öffnete sich und Barlärm quoll auf die Straße, Stimmen, das Klirren von Gläsern.

»Das Konzert hat dir wohl nicht so gut gefallen?«, fragte jemand neben mir in einem brüchigen, aber grammatikalisch völlig korrekten Deutsch.

Es war einer der Musiker, Manuel, der Gitarrist. Er trug sein Instrument auf dem Rücken.

»Doch, sehr gut sogar.«

Die Tür schwang wieder zu, eine Traube von Menschen entfernte sich. Mit einem Mal war es wieder ruhig, nur aus der Ferne drang Musik aus einem anderen Lokal.

Durch die Fenster konnte ich Mandy und die anderen Mädchen erkennen, die mittlerweile bis zur Bühne vorgedrungen waren und mit ihren Bierflaschen anstießen. Ich konnte ihr Lachen nicht hören, aber in ihren Gesichtern lesen, die Hitze und die Aufregung, die immer zurückbleibt nach guter Musik.

»Willst du nicht zu deinen Freunden zurückgehen?«, fragte ich nach einer Weile, in der wir nur hier draußen standen und schwiegen, mehr nicht.

»Ich gehe jetzt nach Hause.«

Es war merkwürdig, mich mit einem Mexikaner auf Deutsch zu unterhalten, erst recht, weil er mehr als ein paar vereinzelte Wörter beherrschte. Ein bisschen wie zu Hause fühlte sich das an. Wie etwas, das ich nicht sofort gehen lassen konnte.

»Werdet ihr nicht noch ein bisschen feiern?«, fragte ich deshalb.


Er lächelte, ein leises, ruhiges Lächeln. »Nein, heute nicht.« Heute feiere ich mit meiner Familie. Es ist doch Heiligabend.

Ich nickte, wenn auch irritiert, eine solche Tradition in diesem Land anzutreffen. Soweit ich wusste, wurden hier die Geschenke erst am Dreikönigstag im Januar verteilt, aber das hieß natürlich nicht, dass heute nicht trotzdem gefeiert wurde.

»Meine Mutter ist Deutsche«, erklärte Manuel sogleich, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Weihnachten und Heiligabend gehören zu ihren Lieblingsfeiertagen, weil dann die ganze Familie zusammenkommt. Es ist immer laut und voll, aber sehr fröhlich, außerdem gibt es gutes Essen.«

Wieder nickte ich. Die Vorstellung, dass jemand in diesem Land einen ähnlichen Abend feierte, wie ihn meine Familie gerade erlebt hatte, wie ich ihn ebenfalls gewohnt war, hinterließ ein warmes Gefühl in meinem Bauch. So sehr ich mich auch aufs Ausland gefreut hatte, gab es doch Dinge, die ich nur furchtbar schwer loslassen konnte.

»Willst du mitkommen?«

Die Frage traf mich mitten in diese sehnsüchtige Stelle in meinem Herzen, die schon den ganzen Tag lang geschmerzt hatte. Natürlich war das albern, ich kannte Manuel ja nicht, ich kannte seine Familie nicht. Doch ich konnte auch nicht Nein sagen. Es ging einfach nicht.

Er bemerkte mein Zögern und lächelte. »Ich wohne nicht weit weg und ich verspreche dir, dich nicht in irgendeine dunkle Gasse zu führen, um dich dort auszurauben.«

Nun musste ich doch lachen. Nicht dass man das wirklich sehen konnte, aber für einen Verbrecher hätte ich ihn ohnehin nie gehalten. Dafür wirkten seine dunklen Augen viel zu sanft und sein Lächeln viel zu offen und ehrlich.

»Okay«, sagte ich also. Mehr nicht.

Gemeinsam schlenderten wir die Straßen entlang, bis wir das belebte Zentrum verließen und in einer ruhigeren Gasse vor einem zweistöckigen Wohnhaus ankamen. An der Haustür hing ein Kranz aus Nadelgehölz mit einer weiß glimmenden Lichterkette.

Manuel öffnete die Tür und ich betrat hinter ihm einen kleinen Vorraum, in dem sich jede Menge Schuhe stapelten. So wie bei uns, wenn sich die gesamte Familie versammelte.

Wir streiften unsere Sandalen ab und liefen in eine große geflieste Wohnküche, die so voller Kinder und plaudernder Erwachsener war, dass ich das Gefühl bekam, mitten in einer Party gelandet zu sein. In einer Ecke stand tatsächlich ein Weihnachtsbaum, ein richtig echter, nach Harz duftender Weihnachtsbaum mit roten Kugeln und Lichterkette und getrockneten Orangenscheiben und Zimtstangen dekoriert.

»Mama«, sagte Manuel zu einer groß gewachsenen Frau mit vergleichsweise heller Haut. »Das ist Sina.«

Sie umarmte mich, als würden wir uns schon ewig kennen oder als hätte Manuel ihr schon viel von mir erzählt. »Herzlich willkommen«, sagte sie auf Deutsch und vorsichtshalber noch einmal auf Spanisch.

So einfach war das.

Manuel holte mir ein Glas Früchtebowle, während mir eines der Kinder eine Zeichnung vom Weihnachtsmann zeigte, und irgendwie landete ich später in der Küche und verglich das Rotkohlrezept von Manuels Mutter mit dem meiner eigenen. Wenig später saßen wir alle dicht gedrängt an einem riesigen Esstisch, auf dem Kerzen und Teelichter flackerten. Aus der Stereoanlage tönten deutsche Weihnachtslieder, von denen ich nie im Leben angenommen hätte, ich könnte sie jemals vermissen.

Es gab Hühnchen und Kartoffelsalat und dazu Enchiladas und Tamales und Gespräche, die in einem bunten Wirrwarr und zwei verschiedenen Sprachen durch den Raum flogen. Ich schwieg und tauchte ein in die fröhliche Stimmung und ab und zu sah ich auf und begegnete Manuels Blick und seinem Lächeln.

Nach beinahe anderthalb Stunden reichlichem Essen sah die Tafel ziemlich geplündert aus. Die Kinder sprangen mit verschmierten Mündern und klebrigen Händen durch den Raum und warteten ungeduldig darauf, dass die Erwachsenen den Tisch abräumten und die Küche säuberten, damit endlich die Geschenke verteilt werden konnten.

Es war schon fast Mitternacht, als die gut dreißigköpfige Familie durch das Haus zu wuseln begann und aus allen Ecken und Zimmern Geschenke hereingetragen wurden. Offenbar zelebrierten sie trotz der Kinder keine Weihnachtsmanntradition oder Ähnliches, sondern sammelten sämtliche Geschenke auf dem nun freigeräumten Esstisch. Es waren mindestens hundert Pakete und Päckchen, alle so hübsch eingewickelt und dekoriert, dass sie fast zu schade waren zum Auspacken.

Dann begann ein für mich eher undurchsichtiges Spiel, bei dem irgendjemand eine Frage in den Raum warf, woraufhin der Erste, der sie beantworten konnte, ein Geschenk aus dem Haufen fischte und es demjenigen überreichte, für den es bestimmt war. Unter lauten Rufen und fröhlichen Kommentaren sahen dann alle zu, wie es ausgepackt wurde. So ähnlich machten wir das zu Hause auch, nur ging es bei uns aufgrund der geringeren Anzahl an Familienmitgliedern und Geschenken deutlich schneller und organisierter. Zumal wir wesentlich früher mit der Bescherung begannen. Trotzdem zeigte kein einziges Kind auch nur ansatzweise Spuren der Müdigkeit.

Mir war schon vorher aufgefallen, dass es in Mexiko nicht unüblich war, selbst die Kleinsten bis nach Mitternacht wach bleiben zu lassen, doch die Energie, mit der sie hier noch immer umhersprangen, überraschte mich. Nach einer Weile fing ich, zusammen mit den anderen, an, Antworten auf die Fragen in den Raum zu werfen, die mal auf Deutsch gestellt wurden und mal auf Spanisch. Es gab einige Familienmitglieder, die nur jeweils eine Sprache beherrschten, irgendwie gelang es ihnen dennoch, sich mit Gesten und Lachen und Wortneubildungen miteinander zu verständigen.

Meine Weihnachtssehnsucht nach Zuhause war verschwunden. Ein Baum, ein paar Kerzen und eine glückliche Familie, mehr brauchte ich nicht, um mich in diesen Tagen nicht allein zu fühlen.


Der Geschenkeberg war zusammengeschmolzen, nur ein paar vereinzelte Päckchen lagen noch auf dem Tisch. Manuels Mutter nahm ein kleines, rot verpacktes Geschenk heraus und überreichte es mir. Überrascht sah ich erst sie an, dann Manuel, und packte es schließlich aus.

Es waren Bernsteinohrringe, ganz einfache, wie man sie auf jedem Markt zu kaufen bekam, trotzdem kamen sie mir vor wie etwas Besonderes. Alle sahen mich an, sogar die Kinder, als hätte sich die gesamte Familie schon lange im Voraus Gedanken darüber gemacht, was mir gefallen könnte, obwohl niemand hatte ahnen können, dass ein Gast mehr zu dieser Familienfeier stoßen würde.

Ich war so gerührt, dass ich ein paar Sekunden brauchte, bis ich ein »Danke« hervorbrachte. Sogleich nahm ich meine eigenen Ohrringe heraus und probierte die neuen an.

Während die letzten Geschenke verteilt und ausgepackt wurden, setzte ich mich neben Manuel. »Das wäre wirklich nicht nötig gewesen«, sagte ich leise.

»Ich weiß.« Er zuckte mit den Schultern. »Meine Mutter ist eben so. An Weihnachten geht niemand ohne Geschenk nach Hause. Außerdem stehen sie dir wirklich gut.« Behutsam strich er mir eine Haarsträhne hinters Ohr und betrachtete den Schmuck. »Ab jetzt bist du wohl ein Teil von uns.«

Irgendwann waren die Geschenke verteilt, die Süßigkeiten verspeist und die Weihnachtslieder-CDs einmal zu oft gehört. Irgendwann wurden selbst die Kinder müde.

Ich schaute nicht auf die Uhr, als ich mich von allen mit einer herzlichen Umarmung verabschiedete und auf die nächtliche Straße trat. Zum Hostel war es nicht weit, dennoch wollte Manuel mich begleiten.

Die Stadt war still geworden und das Pflaster glühte noch von der Hitze des Tages. Manuel erzählte, wie sehr sie alle diesen einen Tag im Jahr liebten, an dem die ganze Verwandtschaft aus Deutschland auf den mexikanischen Teil der Familie stieß, der einzige Tag im Jahr, an dem alle beisammen waren. Trotz der Sprachbarrieren und der kulturellen Unterschiede und all der Missverständnisse und Differenzen, die beides mit sich brachte, lag eine besondere Magie in diesen Stunden, das hatte ich ebenfalls gespürt.

Obwohl er überhaupt nicht auf unserem Weg lag, landeten wir am Strand. Das Meer war träge geworden, als wäre es erschöpft von all den Feierlichkeiten, nur ich war mit einem Mal nicht mehr müde.

Wir sahen uns nur an, Manuel und ich, und dann stürmten wir ins Wasser und ließen uns in die sanften Wellen fallen. Ich lachte und prustete und dachte an den Morgen, an dem ich mich noch so einsam und weit entfernt gefühlt hatte.

Irgendwo in einem weichen, warmen Meer berührten sich zwei Hände. Irgendwo in einem großen, fernen Land hatte ich etwas gefunden. Eine Familie, wenn vielleicht auch nur für ein paar Stunden.

An einem magischen Tag.

Oh Schreck, du fröhliche!

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