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An Herrn Heinrich Guldenbrahms

Nelkenthalstraße 47

10247 Berlin

Deutschland

Lieber Heinrich,

zuerst einmal danke für Deinen schönen Brief. Ich freue mich immer über Post und versuche, schnell zu antworten. Manchmal helfen mir meine liebe Frau oder die fleißigen Werkstattmitarbeiter dabei. In Deinem Fall ist es mir aber besonders wichtig, persönlich zurückzuschreiben, weil Du Dir mit Deinem Schreiben so große Mühe gegeben hast. Außerdem merke ich, wie viele Gedanken Du Dir in Deinem Glauben an die Bedeutsamkeit des Weihnachtsfestes machst. Das finde ich wunderbar!

Nun lass Dir, lieber Heinrich, von einem alten Mann mit weißem Bart versichern, dass Du auf keinen Fall den Eindruck gewinnen sollst, irgendetwas würde Dir weggenommen werden. Ich lege ja besonderen Wert darauf, dass am Weihnachtsabend bei jedem das Richtige unterm Baum liegt. Darum versuche ich nun, Deinem Unmut auf den Grund zu gehen, denn Du schreibst leider nicht ganz genau, was Du Dir wünschst.

Das erinnert mich direkt an damals, als sich der kleine Charles aus Rochester »a hook« — also einen Piratenhaken — gewünscht hat. Seine Schrift war so fantasievoll, dass ich »a book« las und ihm einen Band mit Bärengeschichten brachte. Mir tut seine Enttäuschung an jenem Weihnachtsabend noch heute leid. So etwas kommt selten vor, aber es passiert leider ab und zu.

Nun ist mit Deiner Handschrift alles bestens, mein Freund, dennoch möchte ich sicherheitshalber nachfragen, damit es uns nicht so geht wie dem armen Charles damals. An welche Bräuche denkst Du denn, lieber Heinrich, wenn Du schreibst, amerikanische Sitten würden deutsche verdrängen?

Vielleicht an den bunt geschmückten, hell erleuchteten Weihnachtsbaum, den man auf dem ganzen Globus kennt?

Ich glaube, den kannst Du nicht meinen. Denn der stammt aus Deinem Land. Dort hat man vor rund vierhundert Jahren damit begonnen, Bäumchen im festlichen Kleid in der Stube aufzustellen. Erst als sich Königin Viktoria mit dem Sachsen-Herzog Albert vermählte, kam der Christbaum dann in die englischsprachige Welt. Ich erinnere mich noch gut daran, wie befremdet der Hofstaat zuerst war — den Duft der Tanne und die glänzenden Lichter aber bald mochte.

Hast Du übrigens gewusst, dass in Deutschland jedes Jahr dreißig Millionen Weihnachtsbäume aufgestellt werden? Ach, wie freue ich mich immer über diese Pracht! Das nur nebenbei.

Aber vielleicht meinst Du ja auch den Adventskalender, den man mittlerweile mit so vielen verschiedenen Füllungen kaufen kann. Meine Frau, die Gute, hat mir einen mit Vitamin-C-Brause gebastelt, damit ich an den wichtigsten Tagen des Jahres fit bleibe. Und meine Rentiere haben einen mit Karotten.

Den Deutschen wird ja allgemein ein besonders inniges Verhältnis zu Zeit und Pünktlichkeit nachgesagt. Wie gut, dass Ihr den Adventskalender erfunden habt! Stell Dir vor, ich würde mich im Tag irren und schon am 23. Dezember durch den Kamin rauschen. Nicht auszudenken! Da haben sicher viele ein gemütliches Feuerchen an.

Den Grundstein für den Adventskalender-Brauch legten protestantische Familien übrigens vor rund hundertsechzig Jahren, indem sie täglich eines von 24 Bildern im Haus aufhängten. Für die Kinder malte man Kreidestriche an die Tür, von denen dann jeden Tag einer weggewischt werden durfte. In katholischen Haushalten wurde jeden Morgen ein Strohhalm in eine Krippe gelegt, damit das Christkind zu Weihnachten weich liegen konnte.

Gedruckte Adventskalender gibt es schon seit über hundert Jahren. Heute kenne ich kaum mehr eine Familie in Deutschland, die keinen dieser Wartezeit-Verkürzer zu Hause hat. In der Nachkriegszeit hat sich der »advent calendar« dann bis nach Amerika ausgebreitet. Dort wie hier sind die Kinder stets fürchterlich aufgeregt, wenn sie wieder ein Türchen öffnen können.

Genauso verhält es sich übrigens mit dem Ursprung des Adventskranzes, lieber Heinrich. Weißt Du noch, welch üppige Exemplare Deine Mutter immer zu binden pflegte? Euer Küchentisch war beinahe zu klein.

Durch einen Zufall erinnere ich mich sogar noch an das exakte Jahr, in dem dieses weihnachtliche Utensil erfunden wurde. Denn damals hatten wir die Mottenplage in meinem Schrank und ich musste zu Weihnachten mit zerfressener Kleidung losziehen, weil meine Frau gar nicht so schnell neue Sachen nähen konnte. Das war 1839 und ich habe es mir deshalb so genau gemerkt, weil ich 18 Mottenlöcher in der Hose und 39 im Mantel hatte.

Außerdem weiß ich noch gut, wie in jenem Jahr der Hamburger Johann Wichern im Waisenheim »Das Rauhe Haus« einen Reifen mit zwanzig kleinen und vier großen Kerzen bastelte, damit die Kinder jeden Tag sehen konnten, wie lange sie noch bis Weihnachten zu warten hatten. Diese schöne Idee hat mich über den desolaten Zustand meiner Garderobe hinweggetröstet. Wicherns Kranz — bald nur mehr mit vier Kerzen — hat sich danach innerhalb von hundert Jahren im deutschsprachigen Raum verbreitet. Es ist ja immer so feierlich, an den Adventssonntagen rund um den Kranz zu sitzen und zu singen!

Von einigen deutschstämmigen Familien mal abgesehen, kennen die Amerikaner Adventskränze eher weniger. Dort werden aber gern Christingles gebastelt. Das ist eine Orange, die mit einem roten Band, aufgespießten, getrockneten Früchten sowie einer Kerze geschmückt wird. Sie symbolisieren die Erde mit ihren Schätzen und den Heiland als das Licht der Welt.

Mein Rentier Blitzer hat einmal in einem unbeobachteten Moment ein Christingle verschlungen. Wir hatten einige Probleme, weil ihm ein Zahnstocher, mit dem kandierte Kirschen an der Frucht befestigt waren, im Hals steckengeblieben ist. Du liebe Zeit, er ist schon ein ziemlich ungezogener Bengel!

Ich schweife schon wieder ab. Wo waren wir? Ah ja …

Vielleicht geht es Dir bei Deiner Beschwerde ja um den Konsum? Aber Du weißt sicher, dass selbst die Weihnachtsmärkte aus Europa, insbesondere aus Deutschland, kommen. In Chicago, New York, Denver und anderen nordamerikanischen Städten hat man diesen Brauch in den letzten Jahrzehnten begeistert übernommen. Man nennt die stimmungsvollen Buden-Dörfer dort oft »German Christmas Market«. Gefällt Dir das, Heinrich? Mir schon, denn ich esse — sehr zum Missfallen meiner Frau, die immer um meine Gesundheit besorgt ist — gern Zuckerwatte und gebrannte Mandeln. Außerdem liebe ich das fröhliche Treiben, die aufgeregten Gesichter der Kinder und die gesellige Feierlaune der Erwachsenen. Für einen Besuch auf dem Weihnachtsmarkt scheint jeder leicht Zeit erübrigen zu können.

Je länger ich nachdenke, desto klarer wird mir, dass unter Umständen ich selbst Dein Missfallen erregt habe. Kann es sein, dass es Rudi mit der roten Nase und meine anderen Rentiere, mein Schlitten und mein rot-weißes Gewand sind, die Dich stören? Oder sind es die Weihnachtselfen, die mir altem Mann so fleißig in der Werkstatt helfen?

Es stimmt, ich kam früher im Kleid des Heiligen Bischofs Nikolaus am 6. Dezember daher. Die Leute haben an diesem Tag die Großzügigkeit und Nächstenliebe gefeiert, die im Zusammenleben der Menschen so wichtig ist. Bald entwickelte sich daraus der Brauch, die Kinder zu beschenken.

Aber dann passierte Folgendes: Die Reformation machte Heiligenverehrung unschick und so verschob sich der Bescherungstag auf den 24. beziehungsweise 25. Dezember. Das Interesse der Mädchen und Jungen sollte auf Weihnachten statt auf den Nikolaustag gelenkt werden. Vor hundertachtzig Jahren schrieb der gute August, dem Ihr Deutschen ja auch den Text eurer Nationalhymne zu verdanken habt, das Lied Morgen kommt der Weihnachtsmann, wodurch er dafür sorgte, dass man mich erst zu Weihnachten erwartete.

Europäische Auswanderer brachten die Nikolaus-Tradition mit nach Amerika. Wie war ich froh, als mir dort das Gedicht The Night before Christmas endlich meine Rentiere und den Schlitten bescherte. Zuvor war es doch ein wenig beschwerlich gewesen, alles zu Fuß zu erledigen. Das Highlight der amerikanischen Weiterentwicklung meiner Person war aber sicher Mrs Santa Claus, die nun schon seit 165 Jahren meine bessere Hälfte ist.

Lieber Heinrich, wie Du siehst, werden Bräuche von Ost nach West, von Süd nach Nord und umgekehrt weitergetragen. Unterwegs verändern sie sich, manches kommt hinzu, anderes gerät in Vergessenheit. Und nicht selten kehrt eine Sitte abgewandelt wieder an ihren Ursprung zurück.

Ob wir Früchtebrot oder Zuckerstangen essen, ob wir O du fröhliche oder Jingle Bells singen und ob das Christkind Geschenke bringt oder ob ich das tue, ist doch eigentlich einerlei. Der springende Punkt ist ja eher, dass wir alle nicht übersehen sollten, worum es beim Weihnachtsfest tatsächlich geht: die Liebe, die Familie, den Zusammenhalt und das Glück der Kinder.

Die Menschen sollen sich das Staunen bewahren und für den Glanz der festlichen Tage offen bleiben. In welcher Form die Feiertage begangen werden, sei jedem selbst überlassen. Hauptsache, sie sind für die Menschen etwas ganz Besonderes.

Frohe Weihnachten wünscht Dir

mit einem kräftigen Ho-Ho-Ho

Santa Claus

(auch bekannt als: Heiliger Nikolaus, Father Christmas, Sinterklaas, Väterchen Frost, Père Noël, Jultomte, Weihnachtsmann …)

Oh Schreck, du fröhliche!

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