Читать книгу Oh Schreck, du fröhliche! - Heike Abidi - Страница 5

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Zwei unerwartete Geschenke

In der Luft lag ein Duft von Weihrauch, Harz und — wie Jake, der beste Freund meiner Söhne, sagte — Joints. Alle zwei Stunden fuhr ein gelber Transporter durch die Straßen, um Pakete auszuliefern. Die alte Frau Schmölder hängte elektrisch beleuchtete Schneeflocken in die Tanne vor ihrem Haus, die Kinder der Müllers malten mit Fingerfarbe Engel an alle Fenster ihrer Wohnung. Durch die gekippte Balkontür der Tepes drang das Flötenspiel der Tochter Ayse: Last Christmas. Es war Advent, mal wieder. Advent, die Zeit, in der wir Mütter sieben Arme bräuchten, drei Gehirne, einen Dukatenesel — und Nerven wie Drahtseile.

Zu allem Unglück wohnte in unserer Straße, schräg oberhalb von uns, denn wir leben am Hang, auch noch eine Familie, die uns allen zeigte, wie unzulänglich wir anderen in unseren Weihnachtsvorbereitungen waren. Ihr Nachname sagt alles: Edelmann.

Wer jetzt denkt, diese Leute hätten eine Villa und Personal und wären stinkreich, irrt. Ihr Haus war weitläufig und hübsch, mit Erkern und großen Fenstern, aber sonst ganz normal. Und es in Schuss zu halten, schafften sie ganz allein. Auch sonst machten sie alles selbst. Zu den Edelmanns fuhr niemals der gelbe Transporter voller im Internet bestellter Geschenke, auch nicht der große weiße Wagen mit den Essensbildern, der tiefgefrorene Fertiggerichte liefert. Kein Pizzataxi, Döner-Roller, Chinese auf Rädern — die Edelmanns hatten all das nicht nötig.

Zur Weihnachtszeit war Lavinia Edelmann besonders emsig. Sie nähte, strickte, häkelte, backte Plätzchen, rollte Pralinen, kochte ein und gestaltete Büchlein mit handgemalten Bildern und selbst geschriebenen Gedichten.

Woher ich das alles wusste, ohne sie näher zu kennen? Erstens konnte ich aus meiner Küche direkt in ihr Wohnzimmer blicken, wo sie das alles fabrizierte — die Edelmanns hatten keine Gardinen. Und zweitens trafen meine Kinder ihre Söhne regelmäßig beim Sport, da durften sie ab und zu eine Edelmann-Praline naschen oder ein Edelmann-Buch anschauen. Hinterher schwärmten sie in den höchsten Tönen.

Dann aber kam das dicke Ende — für mich. »Mamaaa, warum kannst du nicht nähen, stricken, häkeln, backen, Pralinen rollen und Bücher schreiben?«, fragte mein Sohn.

»Ich hab zwei linke Hände und wenig Zeit. Wisst ihr, ich brauche nachts meinen Schlaf«, knurrte ich.

Über Lavinia Edelmann ging das Gerücht um, sie ruhe allnächtlich nur vier Stunden, wie Napoleon. Und während ich einem Panda gleiche, wenn ich mal eine kurze Nacht habe, sah sie immer blendend aus. Daher auch ihr Beruf: Fotomodell. Weder für Übergrößen noch für Seniorenprodukte, sondern für modische Businesskleidung in Katalogen und Prospekten. Was die Lage von uns anderen Müttern hier nicht einfacher machte.

»Warum sieht dein Hintern nach zwei Kindern eigentlich breiter aus als der von Lavinia Edelmann nach vieren?«, hatte mein Mann Paul neulich gefragt. Sollte wohl scherzhaft gemeint sein, ich schmiss ihm trotzdem den Topflappen an den Kopf.

Aber zum Glück fiel mir noch die passende Antwort auf seine unverschämte Frage ein: »Justus Edelmann ist so viel netter als du, da braucht sie keine Frustschokolade, um sich zu trösten.«

Justus Edelmann sah ein bisschen aus wie Bruce Willis mit Haaren: handfest. Er leitete eine Schreinerei, was sicher praktisch ist, wenn im Hause einmal etwas repariert werden muss. Außerdem wusste jeder in der Gegend, dass er leidenschaftlich gern grillte — selbst im Winter. Seine Steaks, Braten, Gemüsespieße und Würstchen brutzelte er an einem Standgrill, der seitlich an die Terrasse der Edelmanns angebaut war. Wir alle konnten ihm auch in diesem Advent wieder beim Grillen zuschauen und gierig die Düfte einatmen, bis unsere Mägen zu knurren anfingen.

Muss ich erwähnen, dass alle Edelmann-Kinder hübsch und wohlerzogen waren? Falls sie sich jemals stritten, dann nur hinter verschlossenen Türen und mit Schalldämpfern. Wenn man sie sah, wirkten sie immer fast unnormal harmonisch. Die Kinder, Julian, Jette, Janina und Jonathan, gingen miteinander um wie beste Freunde. Manchmal hörte man alle zusammen musizieren. Nie drang hingegen Geschrei durch die Wände oder Fenster der Edelmanns. Unsere Söhne beschallten manchmal die ganze Straße mit ihrem Kampfgetöse — und ich ließ auch mal den einen oder anderen Brüller los. Alles, was Recht ist: den ganzen Vormittag Arbeit im Büro, den ganzen Nachmittag Teenager bändigen und Haushalt schmeißen — da muss man doch mal Luft ablassen, oder?

Habe ich außerdem schon erwähnt, dass mein Mann zu dieser Zeit immer erst um sieben heimkam und Justus Edelmann trotz eigener Firma um fünf? Dass man ihn und seine Frau durch die großen Fenster oft schmusen sehen konnte?

Man darf sich von so etwas nicht verunsichern lassen und eigentlich tat ich das auch nicht und sowieso hatte ich für Grübeleien gerade keine Zeit. Moritz musste zum Fußball, Alex zum Handball. Und ihre beste Freunde Jake und Jim nahm ich auch mit, denn deren Eltern besaßen kein Auto. Schultermine standen an, dann sollte ich Oma besuchen, Opa zum Arzt begleiten, im Büro eine kranke Kollegin vertreten und so weiter und so fort. Am kältesten Tag im Dezember fiel die Heizung aus, kurz darauf die Waschmaschine — und ich hielt die Handwerker mit Kaffee und Keksen bei Laune. Dann noch ein riesiger Großeinkauf, eine Runde Last-minute-Bestellungen bei diversen Versandhäusern, ein Eiltelefonat mit meiner Bank, um den Dispo zu erhöhen, eine Nacht hindurch Päckchen packen, ein halbherziger Großputz und schon war wieder Heiligabend, heiliger Bimbam! Die Großeltern würden kommen — sie liebten Sauerbraten mit selbst gemachten Klößen. Wer das zubereiten würde? Na, ich.

Wenn mein Mann auch nur die kleinste Bemerkung losließe über das Traumkleid, in dem Lavinia durch ihr Wohnzimmer schwebte und aussah wie die jüngere Schwester von Cindy Crawford, dann würde ich explodieren. Ich geb’s ja zu, ich hätte mich schon ein bisschen mehr herausputzen können zum Fest der Liebe. Zur Bescherung selbst schaute ich auch meist ganz passabel aus. Doch vorher fehlte die Zeit. Da rannte ich den ganzen Tag in Jogginghose, T-Shirt und mit Pferdeschwanz herum, damit kein Haar in die Bratensauce fiel und kein Fettfleck mein Lieblingskleid ruinierte.

Lavinia hatte derweil gut lachen. Sie machte sich an Heiligabend die Finger nicht schmutzig. Ihre Familie erledigte alles, bei dem man sich die Kleidung verdrecken und Fingernägel abbrechen konnte.

Woher ich das so genau wusste? Na gut, ich oute mich: Ich habe da eine kleine Macke. Eigentlich stecke ich meine Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten. Doch an Heiligabend und was die Edelmanns angeht, machte ich eine Ausnahme. Was für andere das Weihnachtsprogramm im Fernsehen ist, war für mich das Beobachten meiner Nachbarn. Diese demonstrative Idylle! Dieses Piep-piep-piep-wir-haben-uns-alle-lieb live und in Farbe als Dauerwerbesendung!

Morgens: Alle frühstückten im Wohn-Ess-Zimmer, die Kinder trugen auf, die Eltern durften sitzen bleiben. Hinterher verschwanden sie irgendwo, die Jungen räumten auf. Meine schnarchten zu der Zeit noch in ihren Betten.

Vormittags: Justus Edelmann stellte eine wohlgeformte Blaufichte ins Wohnzimmer, die Kinder dekorierten sie, jedes Jahr in einer anderen Farbe und mit echten Kerzen. Mein Gatte holte derweil die Schnäppchen-Tanne ins Haus, rief nach den Jungs, die aber nicht kamen, sodass ich mich irgendwann erbarmte. Das mit den Glaskugeln hatten wir zu jener Zeit längst aufgegeben, zu viele Schnittwunden. Und was die Farben anging … also, für mich passten rosa Filzherzen, blaugrüne Plastikzapfen und rote Miniweihnachtsmänner perfekt zusammen.

Mittags: Der Herr des Hauses stellte sich auf die Terrasse und grillte. Irgendwann trat Lavinia zu ihm nach draußen und küsste ihn wie Angelina ihren Brad — ob die das vor dem Spiegel übten? Ich hingegen versuchte, halbwegs so zu wischen und abzustauben, wie meine Großmutter das erwartete, und polierte zur Feier des Tages das Besteck. Mein Mann war inzwischen im Supermarkt — irgendwas hatten wir immer vergessen.

Nachmittags: Besuch bei Edelmanns! Gut angezogene Menschen, die ich sonst noch nirgends in der Stadt gesehen hatte, strömten ins Wohnzimmer unserer Nachbarn, aßen Lavinias Plätzchen, tranken Justus’ Wein und lauschten der Hausmusik der Kinder. Meine Söhne zeterten zur selben Zeit vor dem Fernseher darüber, wer die Fernbedienung haben durfte, und Oma und Opa hatten sich auch schon wieder in den Haaren.

Später Nachmittag: Alle Edelmanns gingen in die Kirche, da war der große Sohn Organist und die Töchter leiteten das Krippenspiel. In der Kirche wurde übrigens oft und viel über die Edelmanns geredet, nur Gutes. Und natürlich sang niemals einer aus der Familie auch nur einen falschen Ton.


Ich hingegen bewegte seit Jahren nur noch die Lippen — ich habe eine Singstimme wie Dieter Bohlen mit Kehlkopfentzündung. Meine Männer taten nicht mal so, als ob. Dafür schmetterte Opa lauthals mit … was uns stets böse Blicke der Umstehenden einbrachte, denn leider war er es, von dem ich die Stimme geerbt hatte.

Abends, nach Krippenspiel und Nachbarschaftsschwätzchen, waren die Edelmanns in der Regel nicht mehr zu sehen, die Rollläden verdeckten alles. Beruhigend — ich mochte nämlich gar nicht daran teilhaben, wie nett die Kinder mit ihren ökologisch korrekten, pädagogisch wertvollen neuen Sachen spielten und die Teenager weiterhin friedlich musizierten, während sich meine Jungs mit der so heiß ersehnten Wii abschossen. Ich wollte auch nicht Zeugin sein, wie Lavinia Glitzerdiamanten auspackte.

Mein Mann und ich, wir schenkten uns seit Jahren nichts. Das erleichterte das Weihnachtsmanagement. Immerhin konnten wir alle Jahre wieder über Oma lachen, die ständig ihr Hörgerät verlor, oder Opa, der nach dem ersten Glas Bier auf dem Sofa wegnickte, laut schnarchend. Meistens schauten wir irgendwann einträchtig Stirb langsam, bis wir die richtige Bettschwere erreicht hatten. Dann fühlte ich doch noch eine Art Weihnachtsfrieden … Wieder mal Heiligabend überlebt! Oh, du fröhliche.

So war es bisher immer gewesen. Aber in diesem einen Jahr war der 24. Dezember plötzlich da und alles lief anders. Ich stand in der Küche, widmete mich der wichtigen Aufgabe, die Sauerbratensoße zu binden, und linste zwischendurch mit meinem Fernglas in Richtung Edelmanns — welche Farbe Lavinia wohl heute trug? Welche ihr Baum? Doch von Lavinia und den Kindern war nichts zu sehen. Dabei war es doch schon zehn! Die werden doch nicht in den Weihnachtsurlaub gefahren sein?, dachte ich und schwankte zwischen Angst um mein geliebtes Weihnachtsritual und bodenlosem Neid.

Die Fenster, fiel mir auf, waren viel weniger dekoriert als in den vergangenen Jahren. Sonst gab’s da so angesprühte Schneeflockenbilder und glitzernde Sternchen, die im Dunkeln leuchteten und die Farbe wechselten. Vor einem der Fenster stand üblicherweise ein großer Strauß voller üppig dekorierter Tannenzweige. Jedes Jahr — nur diesmal nicht!

Halb elf. Zeit zum Formen der Knödel und bei den Nachbarn nach dem Rechten zu sehen. Oh, doch kein Urlaub. Eines der Kinder schlurfte im Wohnzimmer umher. Schlurfte? Julian Edelmann schlurfte, statt würdevoll zu schreiten? Das musste ich mir genauer ansehen! Aber in diesem Moment, als ich das Fernglas ansetzte, schlappte er wieder aus dem Bild und schloss die Tür hinter sich.

Dreiviertel elf: Es war unglaublich. Inzwischen lief auch Janina wie Falschgeld durchs Wohnzimmer, in Schlabberhosen und im Riesen-T-Shirt. Sie hatte keine Frisur, nur so ein ungemachtes Nest auf dem Kopf. Bei genauem Betrachten fiel mir ihre rote Nase auf. Das erklärte natürlich alles: Die Edelmann-Kinder waren krank! An Weihnachten. Na, das war aber nicht schön.

Zwölf Uhr: Kein Justus Edelmann auf der Terrasse. Dafür meine Großeltern vor der Tür, hungrig. Kaum im Gang, wischte Oma mit der Hand über den Schuhschrank — und zeigte mir frohlockend ihre grauen Fingerkuppen. »Staub!«, schrie sie. »Sag ich’s dir doch, Kind, du arbeitest zu viel. Wenn du zu Hause bleiben würdest, wie wir früher, dann …«

»Dann würden sich deine Urenkel in einer engen Wohnung die Köpfe einschlagen«, antwortete ich, müde, denn diesen Dialog hatten wir schon allzu oft geführt.

»Du hättest halt doch den Oskar nehmen sollen, den mit seinen vielen Grundstücken«, mischte Opa sich ein, sehr lautstark — beide waren seit Jahren schwerhörig.

»Dann wäre die Familienplanung ausgefallen«, rief ich zurück, »den hätte ich nicht mal mit der Kneifzange angefasst!«

Worauf Oma erst zusammenzuckte, dann das Hemd ihres Gatten inspizierte und sich am Kragen zu schaffen machte, womit ich aus der Schusslinie war. Puh!

Endlich gingen wir zu Tisch. Es folgte gefräßiges Schweigen.

»Der Jonathan war gestern nicht im Sport«, erzählte mein Großer nebenbei. »Schade, keine Pralinen.«

»Ich glaube, die haben die Grippe«, warf ich ein.

Mein Mann ging in die Küche, schaute aus dem Fenster, kehrte zurück und nickte. »Sie müssen krank sein. Kein Christbaum weit und breit.«

»Und keine Lavinia im edlen Schlauchkleid«, neckte ich ihn.

»Wer hat einen Bauch im Kleid?«, brüllte Oma.

Zwei Uhr dreißig: Ich schnitt Kuchen auf und wagte einen weiteren Blick ins Wohnzimmer der Edelmanns. Meinen Augen traute ich kaum: Da war Lavinia Edelmann. Aber sie sah so … so anders aus … so … so fertig wie ich. Gut, ihre schwarze Jogginghose war bestimmt drei Größen kleiner als meine, der Pulli ebenfalls. Doch ihr Pferdeschwanz machte auch nicht mehr her als meiner und — ich schnappte mein Fernglas und zoomte ganz nah ran — ihr Gesicht erst recht nicht. Diesen Pandabären-Look kannte ich sonst nur vom Blick in den eigenen Spiegel. Sie tat mir richtig leid.

Vier Uhr: Ich trug inzwischen meinen langen Sonntagsrock und die königsblaue Bluse, die Haare hochgesteckt, und hatte ein leichtes Make-up aufgetragen.

»Hübsch siehst du aus«, lobte mein Mann und umarmte mich. Lange kuscheln war nicht drin, es klingelte Sturm, Besuch. Jake war da, um uns einen Weihnachtsrap vorzuführen.

»Egal, wenn alle sagen,

Weihnachten, voll schwul —

ich find’s ’ne geile Schei…e,

ja, ich find’s voll cool!

YOLO, du Hohlo,

trink mit mir ’nen Punsch!

Auch für das peinlichste Chick

erfüllt sich heut ein Wunsch!«

In dem Stil ging das fünf Minuten. Erst fand ich es furchtbar — dann merkte ich, dass mein Fuß zuckte, und ich musste zugeben: Der Junge hatte ein Händchen für Rhythmus.

»Komm, noch mal, wir machen auch mit«, rief Moritz.

»Echt?«, fragte Jake und strahlte.

Wir nickten. Dann lernten wir den Text und rappten gemeinsam. Sogar mein Mann. Nur Oma guckte uns mit offenem Mund an. Opa ließ sein meckerndes Lachen erklingen, was uns andere ansteckte. Wir gackerten gemeinsam, bis uns die Bäuche wehtaten.

Endlich Kirche. Alles verlief friedlich, doch Thema Nummer eins nach der Messe war natürlich: Wo waren die Edelmanns?

»Ein grippaler Infekt hat sie im Griff«, wusste Käthe Schmölder, die Ersatz-Organistin. »Seit zwei Tagen sind sie ziemlich krank, alle bis auf Jette. Vierzig Fieber. Der Hausarzt war schon da, verschreibt strikte Bettruhe. Die Ärmsten mussten alles abblasen. Und die feine Verwandtschaft, die sonst kommt und sich dort durchfuttert, die bleibt natürlich lieber weit weg, man könnte sich ja anstecken. Na, dann frohes Fest.«

»Wie unangenehm«, pflichtete ich ihr bei.

Es glaubt mir vermutlich keiner, aber ich war nicht schadenfroh. Ich hatte auch nichts gegen Lavinia persönlich — ich wäre ganz einfach gern mehr wie sie gewesen, hätte so gern gewusst, wie sie das alles machte … Und nun war sie hilflos und schwach. An Weihnachten. Ich schätzte, gerade brauchte sie deutlich mehr als vier Stunden Schlaf die Nacht.

»Wir sollten ihnen Hilfe anbieten«, platzte es auf dem Rückweg aus mir heraus.

»Wem?«

»Na, den Edelmanns! Die liegen seit Tagen flach. Bestimmt haben sie kaum was im Kühlschrank.«

»Wir haben gerade mal genug Essen für uns im Haus und das muss jetzt für drei Tage reichen«, betonte mein Mann.

»Ach was, wir können doch auch mal essen gehen.«

»Yep! Zu McDoof«, schlug Alex vor.

»Oder ’n Pizzataxi rufen«, warf Moritz ein.

Da gab sich Paul geschlagen. Schließlich ist Weihnachten das Fest der Liebe.

Daheim packte ich Sauerbraten und Klöße in Tupperdosen, Stollen in Alufolie und nach kurzer Überlegung noch drei Saftflaschen dazu. Vitamine braucht es schließlich auch für ein frohes Fest.

»Wir kommen mit«, riefen die Jungs. »Das ist dann wie bei den Heiligen Drei Königen.«

Dass es eigentlich Zeit war, die Geschenke zu öffnen, hatten sie ganz vergessen.

Mit großen Augen stand Jette Edelmann in der Tür, im pinkfarbenen Jogginganzug mit Hochwasser-Beinen. »Ist was passiert?«, fragte sie.

»Nein, aber in der Kirche sagen alle, ihr seid krank«, antwortete ich. »Und da dachten wir uns, wir haben so viel gutes Essen, wir geben euch was ab.«

Jettes Stirn legte sich kurz in Falten, wurde wieder glatt, dann fingen ihre Augen an zu strahlen, schließlich lächelte sie uns an.

»Ist das lieb«, antwortete sie. »Wo ich doch so einen Hunger habe. Die vom Pizzataxi haben uns nämlich gerade gesagt, es dauert heute Abend mindestens zwei Stunden.«

»Ihr könnt in zehn Minuten essen. Wenn ihr eine Mikrowelle habt, in zwei«, erklärte ich. »Das heißt, falls ihr Sauerbraten mögt.«

»Klar«, erwiderte Jette. Dann rief sie laut nach hinten: »Mama, Papa, guckt mal, wir haben ein Weihnachtsessen! Die Nachbarn haben uns ein richtiges Weihnachtsessen gebracht.«

Das war der Anfang. Nicht, dass ich das am Heiligabend schon gewusst hätte — da fühlte ich mich einfach nur dankbar, selbst gesund zu sein und anderen etwas geben zu können.

Auch am ersten Weihnachtsfeiertag ahnte ich noch nichts. Aber am zweiten zeichnete sich etwas ab: Die Edelmanns luden uns für den Silvesterabend zu sich ein. Und Jette und Julian, der auch wieder gesund war, radelten mit meinen Kindern zu McDoof, da tatsächlich kaum mehr Essbares im Haus war und sie sowieso lieber Pommes als Gans oder Ente mochten.

Dann kam der Silvesterabend. Unsere Gläser stießen klirrend gegen die von Justus und Lavinia.

»Ab heute per Du, in Ordnung?«, schlug Justus vor.

»Gern«, antwortete ich.

Die Jugend flüchtete in den Keller und bereitete eine Show für die Großen vor. Kurz darauf durften wir das Ergebnis sehen: Meine Jungs rappten, die Edelmann-Kinder spielten etwas von Schubert. Wir Erwachsenen tauschten Lebensgeschichten aus. Dabei zeigte sich, dass auch die Edelmanns an Heiligabend Stirb langsam anschauten — wer hätte das gedacht! Überhaupt guckten sie gern mal fern. Und hingen träge herum. Und Lavinia führte mir vor, wie sie mit Schminke die Augenringe kaschierte, die sie ihrer Schlafstörungen wegen hatte. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Kurz vor Mitternacht meinte plötzlich Jette zu mir: »Unser Weihnachten war diesmal ganz anders als sonst. Aber irgendwie auch … chillig. Ja, eigentlich war es das entspannteste Weihnachten, an das ich mich erinnere.«

»Stimmt«, fand Julian. »Abgesehen vom dicken Kopf und vom Halsweh hab ich das total genossen. Kein Dekostress, keine Besucher, viel Rumhängen … Könnten wir wieder mal so machen.«

»Ihr«, pflichtete Lavinia bei und nickte in meine Richtung, »habt alle Jahre wieder im Advent die Ruhe weg. Wie ich das bewundere! Öfter mal das Pizzataxi oder den Döner-Roller rufen … Doch drei von uns sind gegen Weizen und Milchprodukte allergisch, darum mache ich meistens alles selbst. Ich würde auch gern einfach mal Geschenke im Internet bestellen. Aber meine Verwandtschaft findet das stillos. Sie erwartet jedes Jahr ausschließlich Selbstgemachtes, das hat bei uns Tradition. Immer diese Trüffel, diese Fotobüchlein — wenn ich nur andeute, ich könnte doch auch mal was kaufen, schauen sie so enttäuscht.«

»Und ich dachte immer, du machst das so furchtbar gern«, ließ ich sie wissen.

Lavinia grinste schräg. »Na ja, und dazu kommt natürlich, dass wir sparen müssen. Justus sind ein paar Großkunden weggebrochen und meine Aufträge werden auch spärlicher, seitdem ich über vierzig bin. Da passt es ganz gut, wenn wir bei den Geschenken selbst Hand anlegen.«

»Aber dieses Jahr?«, fragte ich.

Lavinia zuckte mit den Achseln. »Die einen bekamen, was schon fertig war, bevor der Infekt mich erwischte. Die anderen kriegten Gutscheine. Pralinen kann man auch im Februar essen.«

»Solche selbst geschriebenen Gutscheine sind super«, warf Paul ein. »An Weihnachten selbst freuen sich alle, hinterher verlieren die meisten ihre Gutscheine oder vergessen, dass sie je welche hatten. Der Schenkende spart sich so Arbeit und Geld. Ich selbst hatte leider noch nie gute Ideen, was meinen Lieben Freude machen könnte. Darum schenken wir beide uns nie etwas.«

»Auch nicht? Justus und ich machen das genauso!«

Darauf mussten wir unbedingt anstoßen.

»Dieses Jahr habe ich gemerkt, dass man an Heiligabend auch mal ausschlafen kann, ohne kaputtzugehen«, erklärte Justus trocken und zwinkerte mir zu.


»Und die Kirche fällt auch nicht um, wenn man mal einen Gottesdienst oder ein Krippenspiel verpasst. Das sag ich Mama seit Jahren, aber sie hat es mir nie geglaubt«, stichelte Jette.

»So ein Weihnachtsburger mit Pommes schmeckt total lecker«, platzte Julian heraus. »Gegen den bin ich zum Glück nicht allergisch.«

»Vielleicht«, sagte da Justus, »haben wir uns bisher einfach zu viel Stress gemacht. Nächstes Jahr sind wir schlauer. Auf jeden Fall hat mir diese Weihnacht zwei besondere Geschenke beschert: Ich bin froh, wieder gesund zu sein. Und ich habe euch, meine lieben Nachbarn, näher kennengelernt. Wir haben unverhofft neue Freunde gefunden.«

Dem war nichts hinzuzufügen.

Oh Schreck, du fröhliche!

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