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2.4 Informeller Sport

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Unterwegs auf dem Kiteboard, mit dem Fahrrad, auf Inlineskates oder in der selbstorganisierten Laufgruppe – ein Blick in Parks und Freiflächen zeigt die Vielfalt des informellen Sporttreibens. Unabhängigkeit, Flexibilität und Individualität sind Stichworte, die mit diesem Bewegungsphänomen zwar oft in Verbindung gebracht werden, eine eindeutige Definition ist jedoch aufgrund der Komplexität kaum möglich. Dies zeigt auch die Vielfalt an Begrifflichkeiten, die synonym zu informellem Sporttreiben verwendet werden. Es finden sich Bezeichnungen wie selbstorganisiertes Sporttreiben, freier Sport, vereinsungebundener Sport oder alternativer Sport. Im englischsprachigen Raum wird informelles Sporttreiben unter Alternative Sports (Rinehart, 2000) eingeordnet, der auch mit Trendsport gleichgesetzt wird. Trotz unterschiedlicher Begrifflichkeiten lassen sich Merkmale feststellen, die dem informellen Sport wenn auch keine trennscharfe Definition, aber doch ein klareres Bild geben. Findet der Vereinssport und auch der kommerzielle Sport in einem organisierten Rahmen statt, so fokussiert informelles Sporttreiben sportliche Aktivitäten außerhalb organisierter Einrichtungen wie Schule, Studio oder Verein (Balz & Kuhlmann, 2004, S. 7). Dies kann jedoch nicht als alleiniges Charakteristikum aufgeführt werden. Bindel hat aus einer Vielzahl sportwissenschaftlicher Ausführungen bestimmte Bedingungen und Charakteristika informellen Sports zusammengetragen, die zu einem besseren Verständnis beitragen. Informelles Sporttreiben wird demnach dadurch charakterisiert, dass es von den Aktiven selbst ausgeht, außerhalb von Organisationen stattfindet, sich meist keinem Regelwerk unterwirft, eine große Variationsbreite besitzt, die Erschließung neuer Sporträume ermöglicht, die Ausübung im Freien mit vorfindbaren Gegebenheiten stattfindet und sich meist an spezifischen Szenen ausrichtet (Bindel, 2008, S. 21ff). Daraus folgt, dass sich informeller Sport vom Traditionellen und Konventionellen abhebt. Dies schließt Sportarten, die dem Trendsport zugeordnet werden (Downhill, Kiten, Slacklining, Skateboarding) oder postmoderne Spielideen wie Crossboccia oder Headis ein. Jedoch können auch traditionelle Sportarten wie Laufen, Fußball oder Schwimmen durch die Eigenorganisation und die Realisierung nach eigenen Vorstellungen der aktiv Sporttreibenden einen informellen Charakter bekommen (Bindel, 2017, S. 419).

Dem informellen Sporttreiben wurde, im Vergleich zu Erhebungen im Vereins- und Schulsport, bislang wenig Beachtung geschenkt. In den vorliegenden Forschungen wird v. a. die Gruppe der Kinder und Jugendlichen betrachtet. Wie viele Menschen sich dem informellen Sport in Deutschland tatsächlich widmen, ist demnach nur schwer zu beantworten. Laut den aktuellen Daten zur Sportwirtschaft (BMWi & BISp, 2019) findet jedoch der überwiegende Teil der Sportausübung selbstorganisiert statt. Unter der Gruppe der aktiven Sportlerinnen und Sportler gehen demnach 72 % informellem Sporttreiben nach. Besonders im Jugendalter gilt informelles Sporttreiben als besonders attraktiv. Deshalb wird auf diese Altersgruppe im Folgenden näher eingegangen.

Schon seit einigen Jahren wird von einer »versportlichten Jugendkultur« (Baur & Burrmann, 2004, S. 17; vgl. auch Brinkhoff, 1998) gesprochen, was u. a. auf hohe Beteiligungsquoten, die Ausdifferenzierung der sportlichen Landschaft und auf eine gewachsene Erlebnisorientierung zurückzuführen ist. Die Auswirkungen zeigen sich auch im Bereich des informellen Sporttreibens (Bindel, 2008). Auch Brinkhoff erkannte schon 1998, dass die Nachfrage nach »sozial entpflichtenden Organisationsformen« wächst (Brinkhoff, 1998, S. 257). Die sportbezogene Kindheits- und Jugendforschung, gebündelt in den Deutschen Kinder- und Jugendsportberichten, schreibt dem informellen Sporttreiben nach wie vor einen hohen Stellenwert neben dem Vereinssport und der Nutzung kommerzieller Anbieter, v. a. ab dem Jugendalter, zu (Schmidt, 2015, S. 207). Laut der Shell-Jugendstudie (2015) bleibt der Anteil der Jugendlichen, die selbstorganisiert Sport treiben, mit ca. einem Drittel relativ stabil (Deutsche Shell Holding GmbH, 2015, 113f). Daten der MediKus-Studie geben an, dass 19,5 % der 9- bis 12-jährigen, 26,5 % der 13- bis 17-jährigen und 36,5 % der 18- bis 24-jährigen aktiven Sportlerinnen und Sportler ausschließlich selbstorganisiertem Sporttreiben nachgehen (Züchner, 2016, 106f). Gleichzeitig wird beobachtet, dass die Bedeutung informeller Spiel- und Bewegungsengagements besonders im Kleinkind- und Grundschulalter abgenommen hat. Restriktionen im Wohnumfeld, eine Zunahme des Autoverkehrs, der Ausbau von Ganztagsschulen, institutionalisierte Kindheiten und Veränderungen im Erziehungsverhalten sind einige der Gründe dafür (Burrmann, 2008, S. 391ff; Schmidt, 2015, S. 203f).

Welche Sportarten im informellen Sektor besondere Beachtung erfahren, wie und wo diese ausgeübt werden, steht immer in Abhängigkeit zu vorhandenen Bewegungsräumen sowie zeitlichen, materiellen und sozialen Ressourcen der Akteure und Akteurinnen. Vorwiegend im Freien und urbanen Stadtraum stattfindende, alltagstaugliche, d. h. in dem Wohnumfeld leicht zugängliche, traditionelle Sportarten wie Fußball spielen, Fahrrad fahren, Joggen oder Schwimmen sind vorrangig und werden durch Risiko-, Fun- und Trendsportarten, wie Le Parkour, Klettern, Slacklining, Skateboarding, BMX oder Inlineskating ergänzt (Baur & Burrmann, 2004, S. 19f; Schmidt, 2015, S. 207f; Züchner, 2016, S. 121). So vielfältig wie die Sportarten selbst, so sind auch die Orte, an denen selbstorganisiert Sport getrieben wird. Öffentliche Räume wie naturnahe Areale werden von Jugendlichen durch die Nutzung der Straße erweitert. Darunter fallen Fußgängerzonen, Einkaufspassagen, Parkplätze, Bürgersteige, Baunischen etc. Diese Räume fungieren als eine »Bühne der Selbstdarstellung« (Müller, 2018, S. 22), auf der die jungen Menschen nicht nur Sporttreibende, sondern gleichzeitig auch Zuschauende sein können. Dabei nicht an feste Termine gebunden zu sein und nach eigenen Regeln oder in Neuschöpfungen spielen zu können, sagt Jugendlichen zu. Grundideen klassischer Sportspiele wie Fußball werden von den Jugendlichen übernommen, an äußere Bedingungen wie Spielfeldgröße, Teilnehmendenzahl u. a. angepasst und mit eigenen Regelvariationen ergänzt (Bindel, 2017, S. 419; Brettschneider & Kleine, 2002, S. 125). Auch können Jugendliche im selbstorganisierten Sporttreiben ihr Bedürfnis nach Risiko, Spannung oder körperlichen Grenzerfahrungen in Trend- und Extremsportarten und eigenen Adaptionen befriedigen (Neumann, 2004, S. 186; Schmidt, 2015, S. 209). In diesen Situationen ist Sport gleichzeitig Kreativitätserfahrung, wobei die eigene Phantasie und der Körper zur Lösung von Problemen eingesetzt werden und die jungen Menschen sich nicht ausschließlich als Sporttreibende, sondern vielmehr als Skater, Freeclimber oder Traceur mit jeweils spezifischer Sprache, eigenen Symbolen, Handlungsmustern und Kleidungsstilen sehen (Schwier, 1998, S. 10).

Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass Tendenzen zu einer Abkehr von spielerisch-kreativen Aktivitäten hin zu funktionalen Formen des Sporttreibens zu beobachten sind. Bindel vermutet, dass informelles Sporttreiben v. a. im jungen Erwachsenenalter vermehrt Fitnesspraktiken (Freelatics, Crossfit) mit Motiven der Körperästhetik annehmen wird. Aktuell existieren »kommerziell-informelle Sporthybride« (Bindel, 2017, S. 423f), wenn beispielsweise professionell geleitete Kurse im öffentlichen Raum (Yoga im Park, Lauftreffs, Boot-Camps) angeboten werden. Hier sieht Bindel die Gefahr, dass das Eigentliche, was den informellen Sport ausmacht – nämlich das von den Akteuren und Akteurinnen selbst Ausgehende – durch Lenkung kommerzieller Interessen verloren geht, und plädiert dafür »junge Menschen dazu zu befähigen, der Fitness-Bewegung kritisch oder zumindest wählerisch gegenüberzutreten« (ebd., S. 424). Bindel macht auch darauf aufmerksam, dass informelles Sporttreiben nicht für jeden Jugendlichen gleichermaßen zugänglich ist. Vor allem hätten diejenigen einen gelingenden Zugang, die kooperativ, kreativ, gut vernetzt und mit sportmotorischen Grundfertigkeiten ausgestattet sind. Demnach sei die informelle Sportszene kaum eine Freizeitoption für junge Menschen, denen man aus sozialpädagogischer Sicht gerne einen Zugang verschaffen würde. Anstelle von baulichen Maßnahmen wie Skateanlagen oder Outdoorfitness sollte eher auf sozialpädagogische Methoden wie Empowerment gesetzt werden, um eigenes Sporttreiben anzuregen (ebd.). Für die Sportsozialarbeit bieten sich hier wichtige Anknüpfungspunkte, z. B. im Rahmen der aufsuchenden Jugendarbeit und des Streetwork.

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