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Der Tigersprung über die Mauer 1

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Ein Feuer ganz anderer Art als die Freuden der Liebe verzehrte Kasi Mullah, den ersten Imam von Dagestan. Weder Frau noch Kind vermochten ihn auch nur für kurze Zeit von seiner fanatischen Sendung abzulenken.

Das Gerücht, das bei den Russen umlief, Kasi Mullah sei bei Tschumkesskent gefallen, erwies sich als trügerisch. Denn im Frühjahr 1832 tauchte er wieder auf, bedrohlicher als je zuvor und von seiner wachsenden Anhängerschaft bedrängt, möglichst rasch loszuschlagen. Zunächst marschierte er mit seinen Muriden nach Norden auf die russische Grenze zu, lieferte sich einige Gefechte mit den Kosaken und entschloss sich danach, die Festung Nasran zu belagern, um damit auch die weiter südlich gelegene Garnisonstadt Wladikawkas am Oberlauf des Terek zu gefährden.

Beide Orte lagen in dem Gebiet, das Russland erst kürzlich erworben hatte. Nasran, eine kleine Stadt mit wenigen Einwohnern, aber von großer strategischer Bedeutung, war das Tor zum Kaukasus, und die Russen fühlten sich dort als Herr der Lage sicher. Wer Nasran beherrschte, kontrollierte damit auch die einzige Straße nach Südosten, die berühmte Georgische Heerstraße, die von Wladikawkas durch Schluchten und Hohlwege, an Festungen und verfallenen Schlössern vorbei, entlang der reißenden Strömung des Terek und über die Passhöhe von Krestowaja nach Tiflis führte, der Hauptstadt im reichen Flachland von Georgien. Ihren Bau hatte General Jermolow fünf Jahre lang selber geleitet, ohne Rücksicht auf die gewaltigen Kosten und hohen Verluste an Menschenleben, und an ihrem höchsten Punkt hatte er ein riesiges Kreuz aufstellen lassen als trotzige Herausforderung gegen den Halbmond der en Gebirgsstämme.

Wladikawkas, einst vom Fürsten Potemkin, dem Geliebten und Berater der Zarin Katharina II., als Militärstützpunkt und Handelsniederlassung auf dem Weg von Nordrussland über den Kaukasus zu den Provinzen jenseits des Kaspischen Meeres gegründet, war von einem asiatischen Dorf zu einer Kleinstadt mit europäischem Anstrich aufgeblüht, mit einer jüngst gebauten Bank, einem Postamt und einem stilvollen Park, in dem abends eine Militärkapelle spielte. Im Basar hielten die Händler ihr reiches Angebot an Waren feil: Teppiche kaukasischer Nomadenstämme, Dolche und Säbel mit Einlegearbeiten aus Silber und Elfenbein, Felle von Bergschafen, Seide aus Persien, verzierte Sättel und eine Fülle von Gewürzen. Kamele und edle Kabardahengste drängten sich durch den Menschenstrom in den engen Gassen und auf den Straßen, die, von Bäumen beschattet, geometrisch genau in alle vier Himmelsrichtungen verliefen, vorbei an russischen und persischen Dampfbädern, an der orthodoxen Kirche und den Moscheen der Tataren, den einfachen Gaststätten und dem Klubhaus der Kaufleute. Unter den wohlhabenden Besuchern aus St. Petersburg, die sich mit ihrer Dienerschaft und Habe vorübergehend in den neuen einstöckigen Häusern niederließen und müßig in den Tag hineinlebten, gab es auch verblühende Schönheiten und ehrgeizige Mütter, die unter den jungen Offizieren, teils aus besten Adelsfamilien, eifrig Ausschau hielten, um sich selbst oder ihre Töchter an den Mann zu bringen. Denn in Wladikawkas glaubten sie die Konkurrenz weniger fürchten zu müssen als in den vornehmeren Kurorten Pjatigorsk und Kislowodsk weiter nördlich an der Grenzlinie der Kubankosaken.

Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens war das Haus des Gouverneurs oberhalb der Stadt. Hier, wo auch die Militärs verkehrten, schürte jede neue Meldung über den Aufruhr der Bergstämme den Hass gegen die Muslime.

Dieser Hass schlug um in Angst, als eines Tages zwei Kosaken den Berghang hinauf zum Sitz des Gouverneurs galoppierten mit der Schreckensnachricht:

„Kasi Mullah marschiert mit einer großen Streitmacht auf Wladikawkas zu! Unterwegs haben die Aufständischen unsere Truppen bereits in Scharmützel verwickelt.“

„Was für eine Unverfrorenheit!“, entrüstete sich der Gouverneur. „Schrecken diese Banditen denn vor nichts zurück?“

Von der Residenz des Statthalters fegte die Hiobsbotschaft schnell wie der Wind bergab durch die Straßen der Stadt und scheuchte die Bewohner aus ihrem Müßiggang auf. Vorbei war es mit dem geruhsamen Leben in der romantischen Landschaft, den Ausflügen an die lieblichen Ufer des Terek, wo man sich bei georgischen Weinen und Früchten, bei Wild und Geflügel mit Klatsch und Geplauder die Zeit vertrieb. Von Unruhe erfasst rüsteten sie sich eiligst zum Aufbruch, denn von der Garnison, die nur repräsentativen Zwecken diente und daher schwach besetzt und knapp an Vorräten war, erhofften sie sich keinen Schutz. Wenn „sie“, wie die Russen in einer Mischung aus Furcht und Bewunderung die Kaukasier zu nennen pflegten, auf Wladikawkas vorrückten, dann war es höchste Zeit, Kisten und Koffer zu packen, Hutschachteln und Bettzeug, Möbel und Samowar, ohne den kein Russe, ob Arm oder Reich, auf Reisen ging, auf Wagen zu laden, die Pferde einzuspannen oder zu satteln und sein Heil in der Flucht zu suchen.

Weitere Nachrichten trafen nicht mehr in der Stadt ein, und auch die ausgesandten Kundschafter wussten kaum Neues zu berichten, wenn sie überhaupt das Glück hatten, mit heiler Haut zurückzukehren. Erst am dritten Tag zerriss ferner Gefechtslärm die bedrückende Stille, doch nichts regte sich, nichts war zu sehen außerdem dem dichten weißen Dunst, der über die Vorgebirge kroch und die schneegekrönten Gipfel verhüllte.

„Wer weiß, was jetzt in Nasran los ist.“

„Ob die Garnison die Festung halten kann?“

„Sie haben weder genug Soldaten dort noch ausreichend Vorräte.“

„Ohne Verstärkung kann sich Nasran nicht halten.“

„Ob man überhaupt Entsatztruppen in Marsch gesetzt hat? Und wenn ja, sind sie dort angekommen oder schon unterwegs geschlagen worden?“

„Wenn Nasran fällt, sind auch wir hier verloren.“

Solch düstere Gedanken bewegten die wenigen Einwohner, die noch in Wladikawkas zurückgeblieben waren: die Bevölkerung aus der Nordstadt, die keine Pferde und Fuhrwerke mehr gefunden hatte, und die paar Stabsoffiziere sowie einige Kranke, die nicht transportierfähig waren. Gerissene Bauern nutzten die Notlage aus und verkauften zu Wucherpreisen nicht zugerittene Pferde an verzweifelte Städter, die noch nie ein Pferd gesattelt und darauf gesessen hatten. Die Wildpferde, nicht daran gewöhnt, im engen Stall eingepfercht zu sein, stießen mit den Hufen die Tür auf und sprengten zurück in die Freiheit.

Der Löwe vom Kaukasus

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