Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 7
Niederlage durch eine Frau 1
ОглавлениеAn Mut fehlte es Schamil nicht, aber er war kein Heißsporn wie Kasi Mullah, der blindlings drauflosschlug, ohne vorher Erfolg und Niederlage sorgfältig abzuwägen. Gegen das disziplinierte Heer der Russen zu Felde zu ziehen, hielt er nach wie vor für verfrüht. Ungeachtet der Vorwürfe hatte er seinem enttäuschten Jugendfreund eine Absage erteilt und war grübelnd in Gimri, hoch oben in den Bergen, zurückgeblieben.
Doch schon bald begann er, seine theologischen Studien zu vernachlässigen, um die Muriden bei ihren tollkühnen Unternehmungen zu begleiten und sich an ihren Gefechten zu beteiligen.
Auch auf Kasi Mullah war die Unterredung nicht ohne Wirkung geblieben. Zwar brannte er darauf, den heiligen Krieg zu beginnen, aber wenn er ihn jetzt noch nicht gegen die Ungläubigen, die Armee des Zaren, führen konnte, dann wenigstens gegen die Wankelmütigen sowie gegen die Stämme, die ihren Vorteil bei den Russen suchten. Wer nicht geschlossen hinter dem Banner des Propheten stand, der musste bekehrt werden – wenn nicht durch den Glauben, dann durch Feuer und Schwert.
Sein erster Schlag richtete sich gegen Pachu-Bike, die Khanin von Awarien, die Witwe des verstorbenen Herrschers. Nachdem ihr Mann einige Jahre zuvor sein Land an Russland abgetreten hatte, verwaltete sie es nun als Lehen und regierte anstelle ihrer drei unmündigen Söhne.
Durch die finanzielle Unterstützung der Russen entwickelte sich die Hauptstadt Chunsach, ein großer Aul mit mehr als siebenhundert Häusern, zu einer der wohlhabendsten Gemeinden im Kaukasus. Wie alle Bergorte drängte sich auch Chunsach hoch oben auf einer Felsplatte zusammen, stark befestigt gegen Überfälle plündernder Stämme und von Schluchten und Flussläufen in fünfzehnhundert Meter Tiefe umgeben. Von den Wachttürmen aus, die den Blick weit in die Ferne öffneten, konnten die Bewohner jeden anrückenden Feind erspähen. Chunsach glich einer Festung, düster und drohend, und nur die terrassenförmig angelegten Gärten an den Südhängen, wo Rebstöcke und Obstbäume sich bis dicht an die steilen Abgründe klammerten und auch Seidenraupenzucht betrieben wurde, wiesen darauf hin, dass hier keine Soldaten hausten, sondern kaukasische Dorfbewohner.
Wenn überhaupt, dann war Chunsach nur durch den Einsatz von Kanonen zu bezwingen, so wie die Russen sie jetzt mit sich führten. Von ihnen und ihren Geschützen aber hatten die Bewohner nichts zu befürchten, und deshalb hielt die Khanin von Awarien ihre Hauptstadt für uneinnehmbar durch feindliche Bergstämme. Ihrer Stärke sicher wies Pachu-Bike schroff die Boten ab, die Kasi Mullah zu ihr gesandt hatte.
„Sagt eurem Imam, dass er mit mir nicht umspringen kann wie mit einer Sklavin“, sagte sie selbstbewusst.
„Sie weigern sich also, Khanin, seiner Forderung nachzukommen?“
„Forderung?“
„Ihn gegen die eindringenden Ungläubigen zu unterstützen.“
„Wie kann dieser hergelaufene Fanatiker es wagen, mir, der Khanin von Awarien, überhaupt eine Forderung zu stellen! Ich bin mit dem Weißen Zaren verbündet und will mit eurem Imam nichts zu schaffen haben. Geht und richtet ihm das aus. Und lasst euch nicht wieder hier blicken!“
In ihrer Haltung blieb Pachu-Bike hart und ließ sich weder durch Drohungen noch Verdammungen einschüchtern. Zwar hatte sich bereits ein großer Teil Awariens, entflammt von religiöser Leidenschaft, Kasi Mullah angeschlossen, aber die Khanin selbst stand treu zum Vertrag ihres verstorbenen Mannes mit dem Zaren. Auch die Einwohner von Chunsach, die unter der russischen Herrschaft ein bequemes Leben führten und vom Seelenheil, wie der Fanatiker Kasi Mullah es im Lande predigte, nichts wissen wollte, ließen sich vom Muridismus nicht verführen, den einige sogar als ketzerisch verwarfen. Die zahlreichen Flüchtlinge unter ihnen, die, von Stammesrichtern verurteilt, ihrer Heimat glücklich entkommen waren, fühlten sich an ihrem Zufluchtsort, wo sie von den Russen anerkannt und geschützt wurden, vor Rache sicher.
Der Hochmut, mit dem die Hauptstadt ihm trotzte, erzürnte Kasi Mullah umso mehr, da man ihn zum ersten Imam von Dagestan berufen hatte. Diese Ehre hätte eigentlich Mullah Mahommed zugestanden, dem wortgewaltigen Prediger in Jaragl. Da er aber nie an den Kämpfen teilnahm – er gehörte zu den Muriden, die Gewalt verabscheuten und zum Rückzug in die Verinnerlichung rieten – übertrug man die Führung Kasi Mullah, der fanatisch für den heiligen Krieg eintrat und damit für die einzig richtige Auslegung der Lehre des Propheten. Eine solche Haltung sprach das Lebensgefühl der kriegerischen Stämme mehr an.
Mit der Gelassenheit, mit der Chunsach den weiteren Verlauf des Geschehens abwartete, war es plötzlich dahin, als im Mai 1830 ein Heer von achttausend Mann auf die Hauptstadt vorrückte. Allein schon der Anblick der beiden Abteilungen tief unten in der Schlucht, die eine angeführt durch Kasi Mullah, die andere von seinem Freund Schamil, der sich zu diesem Strafzug hatte überreden lassen, rief bei den Bewohnern eine Welle von Angst und Kleinmut hervor.
Noch hatte der Angriff nicht begonnen, aber mit jedem Schritt, mit dem sich die langen Kolonnen der Felspfade zum Aul hinaufwanden, schwand auch bei jenen, die bisher noch standhaft geblieben waren, mehr und mehr das Gefühl der Sicherheit in der Bergfestung. Ihr Mut sank dahin, als aus der Tiefe herauf der Schlachtruf der Muriden, schaurig wie Totenklagen, von den Felsen widerhallte. Ganz Chunsach wurde von Panik ergriffen, und die Verteidiger fanden es klüger, die Waffen niederzulegen und sich Kasi Mullahs Bedingungen zu beugen. Jetzt war es noch Zeit, ohne Blutvergießen auf seine Seite zu treten.
Pachu-Bike aber dachte anders. Entschlossen, den Vertrag mit dem Zaren einzuhalten, eilte sie durch die Befestigungsanlagen und rüttelte das Volk auf.
„Warum habt ihr Angst?“, rief sie. „Kämpft, wenn ihr Männer seid. Verteidigt Chunsach bis zum Letzten! Allah ist mit uns, nicht mit Kasi Mullah.“
Ihre Anfeuerung zeigte kaum Wirkung, denn schon beim ersten Ansturm der Muriden zogen sich die Verteidiger auf die zweite Befestigungslinie zurück, und auch diese Stellung geriet bereits ins Wanken. Als die Führer sich unterwerfen wollten, griff die Khanin selbst zum Säbel und trieb sie erneut ins Gefecht.
„Feiglinge!“, schrie sie ihnen verächtlich zu. „Wenn ihr schon beim ersten Angriff die Hosen voll habt, dann zieht euch Weiberröcke an. Was“, höhnte sie, „ihr wollt Männer sein? Memmen seid ihr, Jammerlappen, faules Pack ohne Saft und Kraft! Wenn ihr Angst habt vor dem Feind, dann gebt uns Frauen eure Säbel und verkriecht euch hinter unseren Röcken, während wir wie Männer kämpfen!“
Eine solche Beleidigung wollten die Soldaten nicht auf sich sitzen lassen. Sie waren Männer, und das wollten sie ihrer Khanin schon zeigen! Angespornt von Pachu-Bikes Worten stürzten sie sich auf die Angreifer, verbissen und rücksichtslos gegen sich selbst. Sie hatten alles zu verlieren – und alles zu gewinnen. Die Muriden, die bei der Erstürmung der Außenbezirke von Chunsach schon mit ihrem völligen Sieg gerechnet hatten, wurden böse überrascht und unter starken Verlusten zurückgeworfen. Die Stadt, die ihnen eben noch als leichte Beute zuzufallen schien, war ihnen so völlig unerwartet aus den Händen geglitten.
Was die Muriden und die kaukasischen Stämme, die sich ihnen angeschlossen hatten, jedoch am meisten verwirrte, war ihre Niederlage durch eine Frau, eine Schmach, die sie tief demütigte. Der Ruf der unbesiegbaren Krieger war schwer angeschlagen. Sie hatten nicht nur viele Gefangene zurücklassen müssen, noch mehr Tote säumten ihren Fluchtweg durch die Schluchten.
Geschlagen zog sich Kasi Mullah nach Gimri zurück, ebenso Schamil, der die zweite Abteilung geführt hatte und bei dem Gemetzel dem Tod nur knapp entronnen war. Nach außen hin zeigten sie sich einig und stellten öffentlich ihre Schlappe als Strafe Allahs dar, der das vergnügungssüchtige Volk für seinen mangelnden Glauben züchtigen wollte. Sobald sie jedoch allein in der weiß gekalkten Zelle der Medrese, der theologischen Schule der Moschee, miteinander redeten, brach ihr Streit untereinander offen aus.
„Wir waren zu voreilig“, sagte Schamil. „Die Stunde, die Allah für seinen Kampf bestimmt hat, ist noch nicht gekommen.“
„Im Gegenteil“, widersprach ihm Kasi Mullah. „Wir haben schon zu lange gezögert. Deshalb hat Allah uns bestraft.“
„Nein, er hat uns ein Zeichen gegeben. Immer wieder habe ich dich gewarnt, zunächst die Stämme zu einigen, und dann erst die große Schlacht zu wagen.“
„Ging es beim Angriff auf Chunsach nicht darum, die Khanin auf unsere Seite zu ziehen? Und hast du dabei nicht mitgemacht?“, hielt ihm Kasi Mullah vor.
„Ja, ich habe mich dazu überreden lassen – gegen meine Überzeugung. Pachu-Bike und ihr Volk sind zwar Kaukasier wie wir, aber sie sind auch Verbündete der Ungläubigen. Wenn schon die Bewohner von Chunsach uns so schmachvoll besiegen können, wie willst du dann erst mit dem russischen Heer fertig werden?
„Mit Allahs Hilfe!“
„Wir sind noch zu schwach. Begreif das doch endlich! Erst wenn der ganze Kaukasus für den Glauben kämpft, werden wir auch siegen. Unsere Stämme sind untereinander zerstritten, das war schon immer so, und die Ungläubigen nutzen das aus, um sie zu bestechen und so für ihre Ziele gefügig zu machen. Wer sich den Russen um vermeintlicher Vorteile willen unterwirft, der gibt sich auf und geht unter. Gegen dieses schleichende Gift hilft nur der Islam, der die Stämme aufruft, mit religiöser Begeisterung die Ungläubigen aus unserem Land zu jagen.“
„Es geht um unsere Freiheit, unsere Unabhängigkeit, das ist richtig“, stimmte ihm Kasi Mullah zu, „aber auch um unseren Glauben.“
„Und dieser Glaube allein ist es, der die widerstreitenden Interessen der Stämme zurückdrängen und sie ihr gemeinsames Ziel erkennen lassen kann: den Krieg gegen die Ungläubigen. Nur wenn er im Namen Allahs für den Islam, genauer unter dem Banner des Muridismus geführt wird, dann belohnt Allah uns mit dem Sieg. Solange jeder Kaukasier um sein Seelenheil und seine Heimat kämpft, sind wir unschlagbar. Das Paradies liegt im Schatten unserer Säbel!“