Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 11
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Оглавление„Was soll nur aus uns werden?“
Immer wieder stellten sich die Russen in der fast ausgestorbenen Stadt diese Frage. Ausharren und sich verteidigen oder fliehen? Was man ursprünglich nur als Andenken an den Aufenthalt im Kaukasus gekauft hatte, bereitete man nun als Waffe zu: die Schneiden kunstvoll geschmiedeter Dolche wurden geschliffen und mit Silber eingelegte Pistolen scharf geladen. Im Übrigen konnte man nichts tun als warten und warten und hin und wieder die Furcht in Sekt und Wodka ertränken.
Die Geschichten über die Grausamkeit einzelner Stämme, die man sich früher genüsslich schaudernd erzählt hatte, erschienen nun, da sie zur Wirklichkeit an ihnen allen zu werden drohten, plötzlich in einem ganz anderen Licht.
„Wissen Sie, was die Lesgier mit ihren Gefangenen machen?“
„Sie lassen sie bei lebendigem Leib in Gruben verfaulen.“
„Nein, das machen die Tschetschenen. Die Lesgier dagegen ziehen den Gefangenen Pferdehaare durch die Fersen, damit den armen Teufeln jeder Schritt zur Qual wird.“
„Und wehe, wenn diesen Wilden eine Frau in die Hände fällt!“
„Man hört da so allerhand… unvorstellbar!“
„Besser, man denkt nicht darüber nach. Man könnte sonst noch den Verstand verlieren.“
„Vielleicht ist es gut so.“
„Was?“
„Dass wir nicht mehr rechtzeitig fliehen konnten. Jetzt ist es zu spät. Die Halsabschneider sind überall. Wer sich aus der Stadt heraus wagt, der läuft ihnen direkt in die Arme, und was ihm dann blüht, wissen wir alle nur zu gut. Hier aber können wir uns immer noch eine Zeitlang verteidigen, bis Hilfe kommt.“
„Wenn sie überhaupt rechtzeitig kommt.“
„Was wissen wir schon Genaues? Nichts, wenn wir ehrlich sind, nur das eine, dass Kasi Mullah noch nicht vor Wladikawkas steht. Wo ist er überhaupt?“
Das fragten sich nicht nur die wenigen Stabsoffiziere, die vergebens auf eine Nachricht von der Armeeführung warteten, sondern auch die „Gräfin“, wie sie allgemein genannt wurde, eine frühere Hofdame der Zarin, die, obwohl schon ein wenig in die Jahre gekommen, dem starken Geschlecht noch immer verfallen war.
„Wieso sind Sie hier, Gräfin?“, wunderte sich der Statthalter, als sie zu seiner Überraschung in der Residenz auftauchte. „Was tun Sie noch in Wladikawkas?“
„Was ich immer getan habe: warten“, antwortete sie spitz.
„Auf was?“
„Sie sollten lieber fragen: auf wen?“
„Ich kann nicht glauben, dass das Ihr Ernst ist, Gräfin.“
„Mein voller Ernst sogar.“
„Da hätten Sie besser in Pjatigorsk bleiben sollen, statt sich hierher zu wagen, so nahe an die Front.“
Die Gräfin lachte spöttisch auf.
„Pjatigorsk! Was heißt das schon anderes als Langeweile von morgens bis abends – und vor allem nachts.“
„Die Petersburger Gesellschaft, die sich im Kurbad dem Müßiggang hingibt, denkt genau das Gegenteil. Sie findet dort alles, was sie für exotisch und gewagt hält.“
„Ach, und was ist dort exotisch?“
„Der ewige Schnee auf den Bergen, die tropische Vegetation im Tal und die romantischen Ruinen.“
„Hm, und was hält man in Pjatigorsk für gewagt?“
Der Statthalten räusperte sich verlegen.
„Nun, sprechen Sie es ruhig aus“, ermunterte ihn die Gräfin.
„Ich meine die verwegenen, gut aussehenden Offiziere und Fürsten.“
„Gewiss doch, gewiss, Offiziere und Fürsten sind dort reichlich vorhanden, und keiner von diesen Möchtegern-Don-Juans lässt auch nur eine Gelegenheit aus, sich einer Dame von Welt zu nähern.“
„Das sage ich doch!“, beeilte sich der Statthalter zu bestätigen.
„Zugegeben, die russischen Offiziere, die sich dort von ihren Verwundungen erholen und bleich und unwiderstehlich verführerisch in ihrer Männlichkeit durch die Eukalyptusalleen schlendern, stehen bei gewissen Damen hoch im Kurs.“
„Das sage ich doch!“, bekräftigte der Gouverneur erneut.
„Bei gewissen Damen, habe ich gesagt, das heißt bei solchen, die gezwungen sind, sich zu begnügen.“
„Aber die Fürsten, was ist mit denen?“
„Die Schwefelquellen in Pjatigorsk und anderswo gelten als besonders wirksam gegen die Verheerungen der Syphilis“, sagte die Gräfin und sah dem Statthalter dabei ironisch ins Gesicht. „Das müssten Sie als Kavalier doch wissen.“
„Natürlich“, stammelte er errötend und bedauerte zutiefst, sich auf ein Gespräch mit der als scharfzüngig gefürchteten Gräfin eingelassen zu haben. „Natürlich weiß ich das, aber doch nicht alle Fürsten halten sich deshalb in Pjatigorsk oder Kislowodsk auf.“
„Bei unserer degenerierten Aristokratie ist alles möglich. Vom Petersburger Sumpf ins kaukasische Schwefelbad, wie gefällt Ihnen das?“
„Jetzt gehen Sie aber entschieden zu weit, Gräfin!“
„Wie dem auch sei, ich stecke nicht in der Haut dieser Leute. Doch um auf Ihre verwegenen, gut aussehenden Offiziere und Fürsten zurückzukommen: Weswegen die Damen eigentlich nach Pjatigorsk und Kislowodsk gekommen sind, wonach es sie wirklich gelüstet, das ist ein einheimischer Adliger, ein Schamkal, Emir oder Khan; ja selbst ein einfacher Bergbewohner, ein rechtloser Lesgier oder auch ein Räuber würde ihnen schon genügen.“
„Das glaube ich nie und nimmer!“, rief der Gouverneur abwehrend.
„Da kennen Sie aber die Frauenherzen schlecht. Ich weiß da besser Bescheid. Haben Sie noch nie von der russischen Dame gehört, die von den Lesgiern entführt und später unter großen Schwierigkeiten von unseren Truppen gerettet worden ist?“
„Es dürfte wohl der schönste Tag in ihrem Leben gewesen sein.“
„Im Gegenteil! Kaum weilte sie wieder bei ihrem müden Ehemann, als sie auch schon erneut ins Gebirge flüchtete, diesmal freiwillig – aus lauter Sehnsucht, weil sie unter den Männern in den Bergen so galante Liebhaber gefunden hatte.“
„Das ist mal wieder typisch für die Launenhaftigkeit und Maßlosigkeit unter unseren russischen Frauen.“
„Nur unter den Frauen?“
„Nehmen Sie etwa die Gräfin Saltikow, die ihren Lieblingsfriseur in einen Käfig einsperren ließ, damit er nicht in Versuchung kommen sollte, für andere zu arbeiten.“
„Da haben sich die Männer aber ganz andere Sachen geleistet, wie Iwan der Schreckliche, der den italienischen Architekten blenden ließ, nachdem er die Kirche Vasilij Balgennoje vollendet hatte; sie sollte einmalig bleiben. Oder die Grundbesitzer, die gelegentlich die Frauen ihrer Leibeigenen dazu zwangen, statt ihrer Säuglinge reinrassige Windhunde zu stillen.“
Unwirsch winkte der Statthalter ab. „Wir sind vom Thema abgekommen, Gräfin. Ich habe Sie vorhin gefragt, was Sie noch hier in Wladikawkas tun.“
„Und ich habe geantwortet: ich warte.“
„Auf was?“
„Auf wen – müssen Sie fragen, das habe ich Ihnen auch schon gesagt.“
Im ersten Augenblick schien der Gouverneur sprachlos zu sein, doch dann fasste er sich wieder und fragte ungläubig:
„Sie wollen doch nicht etwa behaupten, dass Sie auf Kasi Mullah und seine Horden warten?“
„Was meinen Sie wohl, warum ich nach Wladikawkas gekommen bin? An Kasi Mullah habe ich zwar nicht gedacht, aber auch ich träume nun mal den heimlichen Traum einer jeden Frau.“
„Und was ist das?“
„Irgendwann, möglichst schon in der nächsten Nacht, von einem dunklen Kaukasier überwältigt, auf den Sattel eines reinrassigen Kabardahengstes gezerrt und gezwungen zu werden, sich dem Willen dieses Wilden zu beugen.“
„Ist das Ihr Ernst?“
„Mit der Leidenschaft scherzt man nicht.“
„Und wenn Sie dort sind, ich meine in den Bergen, in der Gewalt dieser Tataren, was dann?“
„Die Liebe genießen, was sonst?“
„Sie, eine Gräfin, mit einem Räuber! Als Frau haben Sie dort keine Rechte, und wenn Ihr Entführer fällt im Kampf gegen uns oder gegen verfeindete Stämme…“
„Dann bin ich Witwe“, fiel sie ein.
„Richtig! Wissen Sie auch, was das heißt? Bei einigen Stämmen ist es Brauch, dass sich jede unverheiratete oder verwitwete Frau nachts mit verschleiertem Gesicht auf ihre Schwelle legen kann, und der Mann, der dieser Einladung Folge leistet, erfüllt eine heilige Pflicht.“
„Einem solchen Brauch wären die russischen Männer sicherlich nicht abgeneigt. Sie sind doch nur neidisch – oder?“
„Um ein Kind aus einer solchen Verbindung hat sich das ganze Dorf zu kümmern, denn die Bergvölker brauchen nun mal Söhne, Söhne und nochmals Söhne. Wollen Sie ein solches Schicksal auch auf sich nehmen, Gräfin?“
„Was ich will und was nicht, überlassen Sie getrost mir. Um meine Tugend ist mir nicht bange. Ich bleibe hier in Wladikawkas und warte.“
Drei Tage waren bereits verstrichen, als man den Entschluss fasste, Kundschafter auszusenden. Unter den einheimischen Osseten, deren Stamm sich neutral verhielt, erklärten sich einige gegen eine beträchtliche Goldsumme zu diesem Wagnis bereit. In der Abenddämmerung ritten sie los und kehrten am nächsten Morgen mit der erfreulichen Meldung zurück:
„Nasran ist noch nicht gefallen.“
„Wie lange kann die Garnison dort nach eurer Meinung noch standhalten?“, fragte ein Stabsoffizier die Kundschafter.
„Niemand weiß, was Kasi Mullah im Schilde führt, aber es sieht gut aus für Nasran. Kasi Mullah schien die Schlacht schon gewonnen zu haben, als ihm plötzlich der Feind in den Rücken fiel und schwere Verluste beibrachte.“
„Russen?“
„Nein, Inguschen. Sie haben die Muriden zum Rückzug gezwungen. Ob sie sich sammeln und erneut angreifen, bleibt abzuwarten.“
Doch Kasi Mullahs Streitmacht war so geschwächt, dass er keinen weiteren Angriff auf die Festung Nasran wagte. Die Inguschen, ein ihm feindlich gesinnter Gebirgsstamm, hatten fürchterlich unter den Muriden gewütet und sogar die wehrlosen Verwundeten niedergemetzelt. Kasi Mullah hatte auf dem überhasteten Rückzug sogar seine Toten zurücklassen müssen und damit in den Augen der Kaukasier ein heiliges Gesetz verletzt.