Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 18

Das Attentat 1

Оглавление

Als der Winter vor dem Frühling immer höher in die Berge zurückwich, stieg Schamil den Pfad hinab zu den Muriden. Groß war ihre Überraschung, den Totgeglaubten lebend wiederzusehen, und neugierig bedrängten sie ihn mit Fragen.

„Wie ist dir die Flucht gelungen?“

„Warst du verwundet?“

„Wo hast du dich die ganze Zeit über versteckt gehalten?“

„Was ist mit Fatimat? Niemand mehr hat sie gesehen, seit du verschwunden bist.“

„Fragt nicht so viel“, wich er ihnen aus. „Ich bin zurückgekommen, das muss euch genügen. Allah ist groß.“

Beharrlich schwieg er sich über die letzten Monate in der Hirtenhütte aus, teils weil er sich seiner Schwäche schämte, teils aus Berechnung. Je weniger die Tatsachen bekannt wurden, desto üppiger gediehen die Gerüchte. Wer, von allen für tot gehalten, plötzlich mitten unter die Lebenden tritt, war der nicht ein Auserwählter Allahs? Und wenn dieser Auserwählte von übernatürlichen Kräften und mit göttlicher Hilfe gerettet worden war, dann nur weil Allah Großes mit ihm plante. Auf einen Mann wie Schamil, der schon als Zwanzigjähriger für seine Heldentaten gerühmt wurde, traf das umso eher zu, da schon seit einiger Zeit Legenden über seine göttliche Sendung in Umlauf waren.

Genesen von seinen schweren Wunden stieß Schamil mit einigen Hundert Anhängern zur Streitmacht Hamsat Begs. Selbstlos, ohne persönlichen Ehrgeiz stellte er sich dem zweiten Imam von Dagestan für den heiligen Krieg zur Verfügung. Gemeinsam zogen sie durchs Land, riefen die Stämme auf, sich zum wahren Glauben zu bekennen und dem schwarzen Banner des Muridismus zu folgen, und scharten überall kampfwillige Männer um sich, die sich verschworen, die russischen Eindringlinge mit Waffengewalt aus ihrer Heimat zu vertreiben.

Durch die wieder erstarkten Kräfte des Muridismus fühlte sich Pachu-Bike, die Khanin von Awarien, erneut bedroht, zumal die Bevölkerung ohnehin dazu neigte, sich Hamsat Beg anzuschließen. Bereits früher bei der Belagerung von Chunsach durch Kasi Mullah hatten die Awaren mit fliegenden Fahnen zu den Muriden überlaufen wollen und waren daran nur durch das energische Einschreiten der Khanin gehindert worden. Ob ihr als Frau das bei einem neuerlichen Ansturm nochmals gelingen würde, darauf wollte sich Pachu-Bike nicht ohne weiteres einlassen. Mit russischer Unterstützung konnte sie zweifellos dem Angriff der Fanatiker besser standhalten.

Die Zeit drängte, eine Entscheidung musste fallen – so oder so. Zunächst setzte sie auf Widerstand und schickte ihren zweiten Sohn, den jungen Khan Omar, nach Tiflis, um von ihrem russischen Verbündeten Hilfe zu erbitten.

Als Omar, begleitet von seinem Milchbruder Hadschi Murat, nach einem zügigen Ritt im Hauptquartier des Oberbefehlshabers eintraf und ihn zu sprechen wünschte, wurden die beiden Abgesandten mit der Bemerkung abgespeist, Baron Rosen habe leider keine Zeit für sie.

„Wenn er uns heute nicht empfangen kann, wann dann?“, fragte Khan Omar einen der geschniegelten Adjutanten, die der Oberbefehlshaber zu ihnen hinausgeschickt hatte.

„Das lässt sich im Augenblick schwer voraussagen. Wenn es so weit ist, werden Sie es schon erfahren. Bis dahin, meine Herren“, fuhr der Adjutant betont liebenswürdig fort, „werden wir, meine Kameraden und ich, Ihnen die Zeit schon vertreiben helfen.“

„Können Sie Karten spielen?“, wandte sich ein anderer an die beiden Kaukasier.

Omar sah ihn verständnislos an. „Was meinen Sie damit?“

„Nun, macht nichts, wir bringen es Ihnen schon bei.“

„Aber Wein kennen Sie bestimmt“, fiel der erste Adjutant lachend ein. „Und gegen Frauen“, meinte er augenzwinkernd, „haben Sie ganz gewiss nichts einzuwenden.“

Nur allzu leicht ließ sich der junge Omar umgarnen und war bald, vom Wein benebelt, schon drauf und dran, sogar Pferd und Säbel zu verspielen, hätte ihm Hadschi Murat nicht ins Gewissen geredet.

„Merkst du denn nicht, dass die Russen uns zum Narren halten? Keine Zeit! Wer soll das glauben! Baron Rosen will uns nicht empfangen. Um uns hinzuhalten, schickt er uns diese Etappenhengste auf den Hals, und die machen sich einen Jux daraus, uns auszunehmen, das heißt dich, Bruder, nur dich allein. Denn ich habe die List des Generals längst durchschaut. Wach auf, Omar, komm endlich zur Besinnung! Warum lässt du dich von diesen Laffen so erniedrigen, warum wirst du plötzlich so windelweich, wenn sie dich mit Glücksspiel locken, mit Wein und Weibern, ausgerechnet du, Bruder, ein Mann, der sonst so stark ist wie ein Bulle und so mutig wie ein Löwe! Noch heute Nacht reiten wir ab. Wenn du dich weigerst, lass ich dich allein zurück. Dann kannst du selbst sehen, wie du hier zurechtkommst.“

Nur noch den einen und den anderen schwachen Einwand brachte Omar vor, aber es war mehr ein Rückzugsgefecht als echter Widerstand, um vor dem Bruder das Gesicht zu wahren. Im Inneren sah er längst ein, dass er sich wie ein Dummkopf benommen hatte.

Verbittert über die Gleichgültigkeit, ja sogar Herablassung, mit der sie in Tiflis behandelt worden waren, rieten die beiden jungen Männer nach ihrer Rückkehr der Khanin, sich nicht länger den Muriden zu widersetzen.

„So springt man nicht mit seinem Verbündeten um“, äußerte Hadschi Murat immer noch aufgebracht. „Uns draußen vor der Tür stehen zu lassen, als seien wir Lakaien! Nein, von den Russen ist keine Hilfe zu erwarten. Die lassen uns im Stich, das haben sie uns deutlich genug gezeigt. Statt mit uns zu kämpfen, Seite an Seite, schauen sie lieber zu, wie wir Kaukasier uns gegenseitig die Köpfe einschlagen. Nutznießer sind sie in jedem Fall. Wir stehen allein da, und je eher wir das erkennen und danach handeln, desto besser!“

Inzwischen hatten sich weitere Stammesführer mit ihren Kriegern Hamsat Beg angeschlossen, der im Frühling 1834 mit zwölftausend Reitern vor dem awarischen Aul Gotsak haltmachte, wenige Kilometer vor Pachu-Bikes Residenzstadt Chunsach. Dort wartete er auf zusätzliche Verstärkungen, um dann endlich die Niederlage Kasi Mullahs „gegen das Weib“ zu rächen. Was jedem drohte, der sich ihm in den Weg stellte, zeigten die Spuren, die Hamsat Beg schon auf seinem Zug dorthin hinterlassen hatte: Die Felder waren verwüstet, die Weinberge kahlgeschlagen, die Dörfer niedergebrannt. Wer nicht rechtzeitig in die Bergwälder geflohen war, den hatten die „Rächer“ erbarmungslos mit dem Dolch abgeschlachtet, Männer, Frauen und Kinder.

So wütete der zweite Imam von Dagestan auch, als er nach einer Marschpause weiter auf Chunsach vorrückte. Pachu-Bike, die nur allzu gut wusste, welches Schicksal der Stadt bevorstand, sandte ihm ihre Ältesten mit der Botschaft entgegen, der Imam möge ihnen einen Gelehrten schicken, der sie im Muridismus unterweise, damit sie dann aus eigener Überzeugung die neue Lehre übernehmen und sich sogar dem heiligen Krieg anschließen könnten.

Hamsat Beg lachte höhnisch auf, als er das hörte.

„So, so, ihr wollt also erst noch überzeugt werden? Wie lange dürfte das wohl dauern, bis eure Khanin zur Überzeugung gelangt ist, dass Allah auf unserer Seite steht? Narren seid ihr, wenn ihr meint, ich würde darauf hereinfallen, Narren, die sich von einem Weib an der Nase herumführen lassen, und damit jedermann in Chunsach erkennt, was ihr für Narren seid, werde ich Narren aus euch machen.“

Auf seinen Befehl hin wurden die Ältesten von Soldaten gepackt und so festgehalten, dass sie sich nicht wehren konnten. Dann ließ er ihnen die Bärte abschneiden, die Nasenflügel durchbohren und Backwerk daran hängen. So sandte er sie nach Chunsach zurück mit der Antwort:

„Gut, ich werde euch einen Scheich schicken, der euch mit den Grundsätzen des heiligen Krieges bekannt macht. Aber vorher muss Pachu-Bike mir ihren jüngsten Sohn Bulatsch als Geisel stellen. Das ist meine Bedingung. Ist das klar?“

Die Ältesten nickten, wobei das Backwerk an ihren Nasen hin und her baumelte und sie zum Gespött von Hamsat Begs Leuten machte.

„Ich brauche eine Geisel, um sicher zu sein, dass Pachu-Bike nicht auf dumme Gedanken kommt“, fügte der Imam mit hinterhältiger Miene hinzu. „Ein Weib wie sie führt immer was im Schilde.“

Der Anblick ihrer so entwürdigend zugerichteten Boten empörte die Khanin, aber als klar denkende Frau erkannte sie auch die Gefahr, die von ihrem eigenen Volk ausging, wenn sie ihm noch länger verbieten würde, dem sich im ganzen Land immer weiter ausbreitenden Muridismus zu folgen. Also bekannte sie sich zur neuen Lehre, lehnte es jedoch ausdrücklich ab, sich am heiligen Krieg zu beteiligen. Mochte Baron Rosen in Tiflis ihre beiden Bittsteller auch vor den Kopf gestoßen haben, so fühlte sie sich trotzdem immer noch an ihr Bündnis mit den Russen gebunden und wollte nicht die Waffen gegen sie erheben. An dieser Einstellung hielt sie unerschütterlich fest, sosehr Omar und Hadschi Murat auch auf die einredeten.

Um Hamsat Beg von ihrer Aufrichtigkeit zu überzeugen, schickte sie ihm, wie gefordert, ihren achtjährigen Sohn Bulatsch als Geisel ins Lager. Doch nun erklärte der Imam, mit dem jungen Fürsten allein könne er sich nicht zufrieden geben. Er habe es sich inzwischen anders überlegt: Die Khanin solle noch ihre älteren Söhne Abunnuzal Khan und Omar Khan zu ihm senden, mit denen er dann einen Vertrag aushandeln wolle.

„Warum gleich wir beide?“, wandte Abunnuzal, der älteste ihrer Söhne ein, als Pachu-Bike ihnen die neue Forderung des Imam mitteilte. „Bulatsch ist schon bei ihm. Wenn Omar und ich auch noch gehen, dann hat er uns alle drei in der Hand.“

„Er will verhandeln, sagt er. Das kann er nur mit Männern. Bulatsch ist noch zu klein.“

„Verhandeln – ja, so sagt er, aber er meint etwas anderes. Hamsat Beg ist ein falscher Hund. Ich kenne ihn, und du, Mutter, kennst ihn auch.“

„Ich kenne dich, Abunnuzal!“, tadelte ihn die Khanin. „Du witterst hinter allem eine Gefahr und willst dich nur drücken.“

„Verlange erst Geiseln von ihm, Männer, die für den Imam den gleichen Wert haben wie wir für dich, dann bin ich bereit, zu ihm ins Lager zu reiten.“

Fragend blickte Pachu-Bike ihren zweiten Sohn an.

„Und du, Omar, denkst du genauso wie dein Bruder?“

„Ich reite allein!“, erklärte er entschlossen. „Ich glaube an den Muridismus, und daher glaube ich auch an den Imam.“

Das waren die letzten Worte, die Pachu-Bike von Omar hören sollte, der Abschied für immer. Weder die Mutter noch der Sohn ahnte, welches Schicksal ihn erwartete. Der junge Omar Khan, der sich für seine Schwäche in Tiflis schämte, wollte die Scharte wieder auswetzen und sich als Mann bewähren.

So ritt Omar allein ins Lager des Imams.

Der Löwe vom Kaukasus

Подняться наверх