Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 17
3
ОглавлениеMonate waren vergangen, seitdem Schamil mit einem gewaltigen Satz über die Mauer des zerstörten Gimri den Russen entkommen war.
Nach den Verwundungen, die er im Kampf erlitten hatte, dem Sprung in die Tiefe und dem Gewehrfeuer, das die Soldaten dem von der Dunkelheit verschluckten Feind hinterherjagten, schien sein Tod so gut wie sicher. Aber Schamil gab sich nicht auf. Zäh wie er war, schleppte er sich bis zu dem Pfad, der an den Steinhütten der Hirten vorbei steil zu den Berggipfeln um seinen Geburtsort Gimri führte. Niemand traute sich dort hinauf außer Schamil. Als Knabe war er oft den halsbrecherischen Pfad emporgestiegen, sogar bei Nacht, um in aller Frühe von irgendeiner Plattform, einem mit Geröll bedeckten Platz, über dem ständig Wolken und Nebelschwaden hingen, den Aufgang der Sonne zu beobachten.
An diesem Pfad fand ein Hirte den völlig Entkräfteten. Von weitem hatte er ihn dort liegen sehen und war sofort zu ihm geeilt.
„Du bist doch Schamil!“, stieß er überrascht hervor, als er ihm ins Gesicht blickte. „Ich kenne dich noch von früher. Als Junge habe ich dich oft hier gesehen.“
„Ich dich auch“, antwortete der Verwundete mit schwacher Stimme.
„Du blutest ja! Bist du verletzt?“
„Ich brauche Hilfe. Dringend! Lange halte ich es nicht mehr aus.“
„Wir sorgen schon für dich, ich und meine Kameraden. Aber iss erst mal was und trink!“
Aus seiner Schaffelltasche holte der Hirte ein Stück Ziegenkäse und reichte es Schamil zusammen mit einem ledernen Wasserbeutel. Gierig trank der Verwundete und biss dann ein Stück Käse ab, das er, erschöpft und kraftlos wie er war, nur mühsam kauen konnte.
„Bleib ruhig hier liegen“, sagte ihm der Hirte. „Ich hole einen Kameraden. Dann bringen wir dich in Sicherheit.“
Geraume Zeit verstrich, bis sie zu zweit zurückkamen und Schamil hinauf zu ihren Hütten auf den Bergkämmen oberhalb Gimris trugen. In einer dieser dürftigen Behausungen aus unbehauenen und lose übereinander geschichteten Steinen, deren Fugen noch nicht einmal mit Lehm verschmiert waren, legten sie ihn auf ein Lager aus Schaffellen und pflegten ihn, so gut sie es mit ihren unzureichenden Mitteln vermochten. Doch da die Hirten erkannten, dass ihre geringen Kenntnisse in der Heilkunst nicht genügten, um Schamils Leben zu retten, holten sie seinen Schwiegervater, den berühmten Arzt Abdul Asis, und seine junge Frau Fatimat. Schamil hatte im Kampf um Gimri und beim Sprung in die Tiefe schwere Verletzungen erlitten: Zwei Kugeln, die seine Lunge durchlöchert hatten, steckten noch im Körper, einige Rippen waren gebrochen, und mehrere Fleischwunden, von Säbelhieben geschlagen, eiterten.
Die Behandlung des Chirurgen verlief erfolgreich, und bald konnte Abdul Asis von der Berghütte wieder nach Hause zurückkehren und den Genesenden Fatimats Pflege überlassen. „Das Weib ist das Kamel, das dem Mann durch die Wüste des Lebens hindurchhilf“, so steht es im Koran geschrieben. In diesen Monaten, abgeschieden von jedem Aul und seinen Bewohnern, von Kämpfen mit den Russen und allen Verpflichtungen, die ihm als Murschide auferlegt waren, durfte Schamil mit seiner jungen Frau in Ruhe und Frieden das Liebesglück genießen. Es sollte die einzige Zeit bleiben, in der sie so lange ungestört nur füreinander da sein und leben konnten.
Schamils Schicksal blieb ebenso geheim wie sein Unterschlupf in der Steinhütte in den Bergen hoch über Gimri. Weder die Hirten noch sein Schwiegervater ließen darüber ein Wort verlauten.
Bei den Russen, die ihn anfangs für tot gehalten hatten, regten sich jedoch nach und nach Zweifel, ob Schamil tatsächlich unter den Trümmern des Auls verschüttet sei. Denn wie die Hirten erfuhren, hatten die Ungläubigen ein Kopfgeld von dreihundert Rubeln ausgesetzt. Bei diesem Betrag, so hofften sie, werde jeder schwach werden, der den Verschollenen versteckt hielte, falls Schamil tatsächlich noch lebte. Die Hirten aber verrieten ihn nicht, und die Suche, hier und da von anderen aufgenommen, wurde bald ergebnislos eingestellt.
„Was soll all die Mühe?“, hieß es unter den Offizieren im russischen Heeresstab. „Eine Nadel im Heuhaufen ist leichter zu finden als einer von diesen Tatarenteufeln in seinen Bergen.“
„Er ist tot, wie ich schon immer gesagt habe“, meinte ein anderer, „und inzwischen längst von den Geiern oder Bären gefressen worden.“
„Sollte er wirklich noch leben, dann werden wir das noch früh genug erfahren und kurzen Prozess mit ihm machen. Vergessen wir das Ganze jetzt! Wir haben Wichtigeres zu tun, als einen Vermissten zu suchen: Dörfer stürmen, Widerstandsnester ausheben, Provinzen besetzen und Befestigungen anlegen.“
„Sehr richtig!“
An die paar armseligen Unterkünfte der Hirten auf den Bergkämmen oberhalb Gimris dachte niemand. Wer sollte auch schon den mühseligen Aufstieg zu den wackligen Steinhütten auf sich nehmen? In diesen Elendsquartieren, deren Dächer notdürftig mit Ruten und Zweigen gedeckt waren, mit Mauern, durch deren Ritzen der Wind pfiff und der Regen hineinsickerte, konnten zur Not höchstens ein paar wetterfeste Hirten mit ihren alten Frauen hausen. Wer je in die Nähe solcher Saklias gekommen war, der sah nachts den Schein der Feuerstelle durch die Spalten schimmern und den Rauch zwischen den Steinen hervorquellen.
Ratsamer aber war es, sich überhaupt nicht in diese verwunschene Gegend zu wagen und sich nicht darum zu kümmern, was dort oben vor sich ging. Wenn die Hirten etwas brauchten, kamen sie schon in die Auls hinunter. Doch das geschah selten, etwa um ihre Waffen wieder instand setzen zu lassen und Tabak, eine Flöte oder eine neue Burka, einen weiten Umhang aus Ziegenfell, zu erstehen. Solche Luxusartikel leisteten sie sich nur gelegentlich, denn was sie für ihr anspruchsloses Leben benötigten, fanden sie in ihrem kalten Hochland selbst vor, einer phantastischen Landschaft aus Felsen und Steinen, Geröll und Klippen, gekrönt von schneebedeckten Gipfeln und Gletschern, unter deren Eispanzer jedes Leben erstarrte. Nur wenige struppige Büsche duckten sich sturmzerzaust in der kargen Einöde, hier und da wie verloren zwischen Gesteinsbrocken und Gras, das der Wind kräuselte, doch kein Baum konnte sich dort noch festklammern. Aus der Schafwolle, die ihre Frauen spannen und zu rauen Stoffen webten, stellten sie ihre Kleidung her, und ihre Schuhe nähten sie aus schlecht gegerbtem Wildleder. Ihre Hauptnahrung bestand aus grobem Hirsebrot sowie aus Sauermilch und Ziegenkäse, den sie zu großen radrunden Stücken auf den Dächern trockneten – genauso wie die flachen Fladen aus Kuhmist, Stroh und Wasser, die sie, lange genug gelagert und in Luft und Sonne gedörrt, als Brennmaterial verwendeten.
Wenn auch die schäbige, rauchgeschwärzte Saklia des Hirten außer Strohbündeln und ein paar Schaffellen keinerlei Bequemlichkeit zu bieten hatte, fühlten sich Schamil und Fatimat dennoch darin geborgen wie im Paradies.
„Ich war noch nie so glücklich“, gestand sie ihm eines Nachts, als sie beieinander lagen.
„Gern würde ich dir mehr Bequemlichkeiten bieten, wie wir sie von unserem Haus in Gimri her gewohnt sind.“
Liebevoll schmiegte sie sich an ihn.
„Ich brauche keine Teppiche, Kissen und all die anderen Annehmlichkeiten, wenn ich nur dich habe.“
„Und ich dich!“
Eine Weile hielt er sie eng umschlungen. Dann glitt seine Hand zärtlich über ihre Brust hinunter zum Bauch.“
„Wenn mich nicht alles täuscht“, flüsterte er erwartungsvoll“, dann hast du mir etwas zu sagen.“
„Ja“, bestätigte sie, „ja, es wird ein Junge.“
„Bist du ganz sicher?“
Sie nickte. „Ja, ich bin schwanger.“
„Dann kann es natürlich nur ein Junge sein“, rief er freudig und drückte sie zärtlich an sich. „Ich habe auch schon einen Namen für ihn. Er soll Dshemal-Edin heißen.“
Stundenlang lag Schamil wach und wagte sich kaum zu rühren, als er bemerkte, dass Fatimat schließlich eingeschlafen war.
Von dieser Zeit an vermissten sie beide in ihrer armseligen Behausung hoch oben in den Bergen die sonst gewohnte Einrichtung und Behaglichkeit noch weniger als zuvor: Sie hatten sich selbst, Tag und Nacht, ein Rausch wie in den Flitterwochen. In dieser entlegenen Steinhütte durften sie sich endlich einmal nur sich selber und ihrer Liebe überlassen, und das war mehr Glück, als sie je zu hoffen gewagt hatten.
Doch dieses Glück zerbrach, als Schamils Schwester das Liebespaar bei einbrechender Dunkelheit in seinem Schlupfwinkel überraschte.
„Hier also habt ihr euch verkrochen und lebt zufrieden in den Tag hinein, als gäbe es ringsum nicht Not und Elend“, keifte sie.
Schamil, der mit einem Fieberanfall auf einem Bündel Stroh lag, blickte sie erstaunt an.
„Wie hast du uns gefunden?“
„Wenn du als Mann es nicht für nötig hältst, dich um mich und deine Familie zu kümmern, dann muss ich es wohl tun.“
„Haben dir die Hirten verraten, wo ich bin?“
„Nein. Ich habe mir viel Mühe geben müssen, bis mir ihr Vater endlich euer Versteck genannt hat.“ Zorn sprühte aus ihren Augen, als sie dabei Fatimat ansah, die neben Schamils Lager hockte. „Und jetzt bin ich hier. Genügt das nicht?“
„Was willst du?“, fragte er mit einer Stimme, die nur mühsam die Erregung unterdrückte.
„Alle Welt glaubt, du seist tot, gefallen für Allah und den Glauben. Aber was sehe ich hier wirklich? Du bist munter wie ein Fisch und genießt das Leben in vollen Zügen.“
„Ich war schwer verwundet.“
„Tatsächlich?“
„Die Wunden sind jetzt noch nicht völlig verheilt.“
„Du spielst wohl gern den Kranken, nur um mit Fatimat zusammen zu sein.“
Neid sprach aus ihrem Blick, als sie auf seine schlanke und anmutige junge Frau hinabschaute, mit der sie sich an Schönheit nicht messen konnte. Auch ohne das enge Korsett, in das man nach altem Brauch die schmalen Körper der kaukasischen Mädchen im Alter von etwa acht Jahren bis zu ihrer Hochzeit einschnürte, hätte Fatimat durch ihren gazellenhaften Wuchs schon von Natur aus jede andere Frau an Liebreiz, Zauber und Geschmeidigkeit ausgestochen. Schamils Schwester malte sich aus, wie ihr Bruder damals in der Hochzeitsnacht fiebernd vor Verlangen die Nähte an Fatimats Korsett mit dem Dolch aufgeschlitzt hatte, ein Vorrecht, das dem Bräutigam zustand.
„Fatimat ist meine Frau. Sie hat mich gepflegt, wie kein anderer Mensch mich hätte pflegen können.“
„Und aus einem Krankenlager ein Liebesnest gemacht“, fügte sie giftig hinzu.
„Schweig!“, herrschte Schamil seine Schwester an. „Du hast kein Recht, so zu sprechen.“
„Und ob ich das habe! Kasi Mullah hätte sich an deiner Stelle nicht den Freuden der Liebe hingegeben, um Allah nicht durch Fleischeslust zu erzürnen.“
„Entsagung kann nicht Gottes Wille sein. Wozu hätte er sonst Mann und Frau erschaffen? Steht nicht im Koran: `Das Weib ist dein Feld, gehe hin und bestelle es.´ Heißt es nicht so?“
„Wie kannst du es wagen, deine Begierden durch den Koran zu rechtfertigen! Hast du vergessen, dass ich, unsere ganze Familie und alle Überlebenden von Gimri im Elend schmachten, während du hier dein Leben genießt? Solange unser Aul in Schutt und Asche liegt und seine Bewohner in Erdlöchern und Höhlen hausen, solltest du nicht besser gebettet sein als sie. Muss ich, deine Schwester, dich an deine Pflicht erinnern?“
„Ich kenne meine Pflichten“, erklärte er mit versteinerter Miene, „und werde sie erfüllen, wenn die Zeit gekommen ist.“
„Wenn deine Frau genug hat von dir und deiner Liebe und dich endlich freigibt“, höhnte sie. „Das meinst du doch – oder?“
Trotz ihrer Raserei, bei der sie so wild mit den Armen fuchtelte, dass ihre Armbänder klirrten, und, wie es Brauch war, ihren Schleier zerriss, entging ihr nicht, dass Fatimats rechte Hand nach dem Dolch zuckte, den sie an ihrer Hüfte trug. Solch eine fein geschmiedete Klinge, deren Griff mit Gold und Elfenbein eingelegt war, galt bei den Frauen in dieser Gegend nicht nur als Schmuck, sondern auch als Waffe, die jede zu nutzen wusste, um sich zu verteidigen oder anzugreifen. Doch ohne den Dolch berührt zu haben, zog sie ihre Hand wieder zurück. Bis dahin hatte sie während des ganzen unwürdigen Auftritts ihrer Schwägerin geschwiegen, und auch jetzt hielt sie es für besser, sich nicht einzumischen oder gar zu einer unbedachten Tat hinreißen zu lassen. Sie war Schamils Frau, und ihr Mann war kein gewöhnlicher Mensch, sondern der Auserwählte Allahs. Was er auch entscheiden mochte, sie würde ihm gehorchen und folgen, wohin er befahl.
Erst der Widerschein des Herdfeuers, der sich im gehämmerten Gold und den geschliffenen Edelsteinen der Armringe spiegelte, ließ Schamil aufmerken, dass seine Schwester mit Geschmeide reichlich behangen war.
„Du sprichst vom Elend, in dem ihr lebt“, fuhr er sie an, „und dabei schämst du dich nicht, dich zu schmücken wie eine Braut.“
„Es sind die einzige Schätze, die ich bei der Flucht aus Gimri gerettet habe, und ich finde es nicht unpassend, sie jetzt zu tragen. Warum auch nicht? Würde ich sie vor den Augen der anderen verbergen, könnte das die Not des Volkes lindern, das Ausmaß unserer Niederlage verringern und die Macht der Russen brechen? Nein“, rief sie beschwörend, „das kannst nur du! Du, Schamil, und die Muriden, Männer, die bereit sind, für Allah und seinen Glauben zu kämpfen, statt bei ihren Weibern zu liegen!“
So redete die Schwester noch eine ganze Weile auf ihren Bruder ein, dessen Gesicht bei ihren Vorwürfen und Schmähungen immer mehr erstarrte. Er fühlte, wie das Fieber stieg und sein geschwächter Körper glühte.
Wie es um ihn stand, konnte auch die Schwester nicht länger übersehen, und so ließ sie sich schließlich überreden, die Hütte zu verlassen. Stunden später erlitt Schamil einen Rückfall, und seine Wunden brachen wieder auf.