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ERSTER TEIL Triumphzug eines Geschlagenen
ОглавлениеAm dritten September 1859 verließ Schamil in einer neuen Tscherkesska, die ihm der russische Uniformschneider auf höheren Befehl hin angefertigt hatte, sein so geliebtes und nun verlorenes Dagestan für immer, begleitet von seinem Sohn Kasi Mahommed, einigen Nahibs und Dienern sowie einem Dolmetscher und Adjutanten. Der zaristische Oberkommandierende im Kaukasus, der ihn feierlich verabschiedete, hatte ihm für die erste Wegstrecke seinen eigenen Wagen zur Verfügung gestellt.
Schwer wurde es Schamil ums Herz, wann immer er die Gipfel der Berge, die ihm von Jugend auf vertraut waren, auftauchen und entschwinden sah, ohne die Hoffnung zu haben, sich je wieder an ihrem Anblick erfreuen zu können. Kein einziges Mal brachte er es über sich, den Blick zurückzuwenden. Was er aus den Augen verlor, gehörte der Vergangenheit an. Er aber fuhr der Zukunft entgegen, und das hieß dem Untergang, so glaubte er, wenn er den kleinen Taschenkompass hervorholte und die Nadel nach Osten ausschlug – dorthin, wo Sibirien lag und der Leidensweg so vieler Gegner des Zaren endete.
Von solchen düsteren Gedanken gepeinigt, erschien ihm das, was er unterwegs erlebte, anfangs so unwirklich wie ein Traum. Und dennoch träumte er nicht! Wo immer die Pferde gewechselt wurden, warteten schon Scharen von Menschen auf ihn, die ihn bewundernd umringten und noch ein letztes Mal sehen wollten. Von Posten zu Posten eilte ihm die Nachricht über seine baldige Ankunft voraus und ließ die Gebirgsbewohner zu Tausenden von den Felsenhöhen des Kaukasus herabströmen, und wenn er, umgeben von berittenen Kosaken, schon wieder weiterfuhr, liefen seine Landsleute noch immer scharenweise neben und hinter ihm her, riefen seinen Namen und versuchten seine Hand oder wenigstens den Ärmel seiner Tscherkesska zu küssen.
Aber auch die Frauen der Besatzung einer russischen Festung, darunter Witwen, deren Männer im Kampf gegen die Muriden gefallen waren, begrüßten ihn nun mit Girlanden und bekränzten ihn mit Lorbeer. Wo immer er hinkam, empfingen ihn Soldaten und Offiziere, einst seine erbitterten Feinde, wie einen Helden, bestaunten ihn ehrerbietig und gaben ihm zu Ehren Festgelage.
Schon drei Monate vor der Kapitulation hatte Feldmarschall Barjatinski, fest überzeugt von seinem baldigen Sieg und im Voraus besorgt um das Wohlergehen seines künftigen Gefangenen, im Posthof von Tscherwelenaja einen bequemen, geschlossenen Reisewagen für Schamil bereitstellen lassen.
Als der Imam sich dem Terek näherte, kamen ihm Wagen und Reiter entgegen und geleiteten ihn nach Mosdok, wo in den Straßen die ganze Stadt auf den Beinen war und ihm zujubelte. Nicht anders empfingen ihn Tage später, weiter nördlich im Gebiet der Kubankosaken, die Einwohner von Stawropol, wo ein Chor einen eigens für ihn komponierten Lobgesang anstimmte, ihm zu Ehren der Park festlich beleuchtet wurde und ein Feuerwerk den Himmel verzauberte, während man auf dem Ball im Bahnhof den hohen Gast feierte.
Die unverhoffte Welle der Begeisterung, die ihrem Imam, dem geschlagenen Feind, überall entgegenschlug, und die vielen neuen Eindrücke verwirrten Kasi Mahommed und die Nahibs, die letzten Truppenführer, die noch zu dem Besiegten hielten. Im Gegensatz dazu gab sich Schamil betont zurückhaltend, ohne jedoch seine innere Bewegung und Dankbarkeit zu verbergen. Statt des befürchteten Spießrutenlaufens war seine Fahrt zum Triumphzug geworden, und gerade deshalb kam ihn das alles so zerbrechlich vor wie ein Traum, dass er immer noch überzeugt war, es werde mit einem bösen Erwachen auf dem Richtblock enden. Am zehnten Reisetag trafen sie in Charkow ein, wo sie bereits ein Adjutant des Zaren erwartete.
„Im Namen Seiner Majestät habe ich die Ehre, Sie alle willkommen zu heißen“, sagte er zu Schamil und den Nahibs gewandt. „Seine Majestät möchte gern diesen Gruß mit dem Wunsch verbinden, Sie möglichst noch in dieser Stunde persönlich kennenzulernen.“
„Ist der Weiße Zar denn hier?“, fragte Schamil überrascht.
„Ja, ganz in der Nähe bei einem Truppenmanöver. Falls die lange Fahrt hierher Sie nicht zu sehr ermüdet hat, wäre es äußerst entgegenkommend von Ihnen, wenn Sie mir sogleich folgen würden.“
„Gern“, erwiderte Schamil, verwundert über die ausgesuchte Höflichkeit des Adjutanten. „Der Weiße Zar hat mich besiegt, ich bin sein Gefangener.“
„Nicht sein Gefangener, Imam, sein Ehrengast. Deshalb wünscht Seine Majestät auch, dass Sie in seiner Gegenwart all Ihre Waffen tragen.“
Wie verstört schauten Kasi Mahommed und die Nahibs drein, und auch Schamil glaubte, sich verhört zu haben. Sie, die Besiegten, sollten mit ihren Waffen vor den Weißen Zaren treten, mit dem sie dreißig Jahre lang auf Leben und Tod gekämpft hatten?
Der Adjutant schien zu ahnen, was in diesen Männern aus dem Gebirge vorging, und beeilte sich, ihnen taktvoll verständlich zu machen:
„Unser christlicher Glaube verpflichtet uns, unseren Feinden zu vergeben und den Nächsten zu lieben wie uns selbst. Ich hoffe sehr, Imam, dass Sie und die Herren Offiziere in Ihrer Begleitung Seiner Majestät die Gelegenheit geben werden, seiner Pflicht nachzukommen.“
Aufmerksam hatte Schamil ihm zugehört und gab durch ein leichtes Nicken zu verstehen, dass er einverstanden war.
„Aber ich möchte dem Weißen Zaren im Sattel begegnen, nicht im Reisewagen wie ein alter Mann.“
„Das ist auch der Wunsch Seiner Majestät. Vor dem Manövergelände stehen für Sie und Ihre Begleiter Pferde bereit.“
Die Begegnung zwischen Zar und Imam fand anlässlich der Ehrenparade statt, als unter schmetternder Marschmusik der Militärkapelle die Ulanen mit wehenden Bannern an ihrem obersten Kriegsherrn vorbeizogen. Die Staubwolke von den Hufen der Kosakenpferde kündigte schon von weitem Schamils Ankunft an. Eindrucksvoll wie immer in seiner langen weißen Tscherkesska mit der hohen Tschalma auf dem Kopf kam Schamil stolz und gefasst auf den Mann zugeritten, der ihn besiegt hatte.
Zar Alexander wandte sich ihm zu und empfing ihn, noch im Sattel sitzend, mit den Worten:
„Ich bin glücklich, Sie hier in Russland zu sehen. Schade, dass es nicht früher möglich war.“
Als der Imam sah, wie der Zar vom Pferd stieg, folgte er seinem Beispiel, blieb aber unschlüssig stehen, als Alexander freundlich lächelnd auf ihn zutrat und bekräftigte:
„Wirklich schade! Dafür freue ich mich umso mehr, dass Sie wenigstens jetzt hier sind. Sie werden es nicht bereuen. Ich selbst kümmere mich um Sie, und ich bin sicher, wir werden Freunde sein.“
Als Alexander ihn bei den letzten Worten umarmte, wich Schamil nicht, wie er es früher getan hätte, vor der Berührung durch einen Ungläubigen zurück. All seine Befürchtungen schwanden in diesem Augenblick dahin. Er war gerührt von dieser großzügigen Geste des Siegers, der alles vermied, was ihn, den Besiegten, erniedrigen könnte.
Seite an Seite stehend, nahmen sie das Ende der Ehrenparade ab, und sie blieben auch die folgende Zeit über beisammen, denn Alexander bestand darauf, dass Schamil ihn bei der Musterung der Kavallerie begleitete.
„Ich lege großen Wert darauf, gerade Sie als anerkannten Pferdekenner und kühnen Reiter bei mir zu haben“, erklärte ihm der Zar. „Und gern würde ich auch Ihre Meinung über die Manöver hören. Wann habe ich schon einmal das Glück, einem so ruhmreichen Soldaten wie Sie, Imam, um Rat fragen zu dürfen.“
Anfangs blieb Schamil noch wortkarg, aber als sich im Laufe des Tages das bittere Gefühl der Niederlage immer mehr abschwächte, lebte er auf und genoss jede Stunde, die ihm der Zar widmete.
„Schade, dass der Tag so schnell vorübergegangen ist“, gestand ihm der Zar beim Abschied. „Es gibt noch so vieles, was ich gern mit Ihnen besprochen hätte, aber Sie bleiben ja jetzt bei uns, und da wird es sicher mal wieder eine Gelegenheit geben.“
„Wo werde ich bleiben?“, fragte ihn Schamil.
„Das ist noch nicht ganz geklärt, wir werden sehen, irgendwo in der Provinz, denke ich. Doch zunächst einmal reisen Sie nach Moskau und Petersburg. Ich möchte, dass Sie diese Städte besuchen und dort das Leben, die öffentlichen Einrichtungen und nicht zuletzt auch meinen Hof kennenlernen. Genießen Sie diese Wochen und Monate und seien Sie überzeugt, dass das Wohlwollen, das man Ihnen überall entgegenbringt, so echt und aufrichtig ist wie meine eigenen Gefühle Ihnen gegenüber. Sie waren mein Gegner im Krieg, aber Sie sind nicht mein persönlicher Feind, sondern ein großer, heldenhafter Führer, den ich achte.“
Achtung, Begeisterung und ungekünstelte Freude schlugen Schamil auch weiterhin entgegen, als er auf seiner Fahrt nach Norden wie ein Held überall gefeiert wurde. Diese Sympathie war nicht nur auf den Befehl Alexanders zurückzuführen, der Imam sei auf seiner Reise durch Russland mit äußerstem Respekt zu behandeln und allen Befehlshabern, Adligen sowie der hohen Geistlichkeit vorzustellen, vielmehr waren es Wärme und Zuneigung, die ihm aus den Herzen aller Schichten der Bevölkerung entgegenströmten.
„Endlich habe ich Gelegenheit, Sie zu sehen, Imam, den Mann, den ich mir am liebsten als Gegner gewünscht hätte“, gestand ihm der alte General Jermolow, als Schamil ihn in seiner Moskauer Wohnung aufsuchte. „Aber leider war ich schon längst abgetreten, als Sie auf den Plan traten.“
„Auch ich freue mich über unsere Begegnung, General. Sie wissen vielleicht, dass ich schon einige Tage hier in Moskau bin und manches gesehen habe, den Kreml, die Kronjuwelen und vieles andere mehr.“
„Und? Wie ist Ihr Eindruck?“
„Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt. Mit einem Wort: überwältigend! Aber mein Besuch bei Ihnen ist, Sie dürfen es mir glauben, der Höhepunkt meines Aufenthalts in Moskau“
Der sonst so brummelige Jermolow strahlte.
„Kommen Sie, setzen Sie sich! Lassen Sie uns von früheren Zeiten sprechen. Sie trinken doch einen Wodka?“
„Nein, danke, General“, wehrte Schamil höflich lächelnd ab. „Sie sind mir hoffentlich nicht böse, aber ich -“
„Richtig! Wie konnte ich nur vergessen, dass Sie als Muslim ein Feind des Alkohols sind. Soviel ich weiß, sind Sie in der Beziehung auch streng gegen Ihre Soldaten gewesen.“
„Nicht nur darin.“
„Hatten Sie nicht sogar die Musik in den Auls verboten?“
„Ja, obwohl ich selbst ein Freund der Musik bin.“
„Warum dann dieses Verbot, dieses karge Leben ohne Freude?“
„Weil ich so wenig Muriden hatte, ich meine Soldaten, verglichen mit Ihren Millionen in Russland. Deshalb habe ich auch Tabak, Wein und Tanz verboten, nicht weil ich es für eine Sünde hielt, sondern weil ich die Wirkung auf meine Truppen fürchtete. Sonst hätten meine Männer die Nächte lieber in den Armen einer Frau als auf Wache zugebracht und das Lied der Schlachten über dem Gesang ihrer Geliebten vergessen.“
„Umso erstaunlicher, dass sie Ihnen so lange gefolgt sind. Wie man weiß, sind Ihre Krieger auch sonst nicht gerade verwöhnt worden.“
„Da haben Sie recht, General. Als ich neulich eine russische Kaserne besichtigen durfte, war ich überrascht über so viel Luxus für die Soldaten.“
„Luxus?“
„Ja, aber die Decken und Kissen, über Sauberkeit und Ordnung. In solch einer Umgebung wären meine Soldaten erstickt. Doch auch mit dem besten Willen wäre es mir nicht möglich gewesen, sie so zu verwöhnen. Ich war arm und konnte ihnen nur wenig bieten. Sie kamen als Gäste zu mir, um an meiner Seite zu kämpfen, und ich gab ihnen, was ich konnte.“
„Und jetzt sind Sie mein Gast“, sagte der alte General mit Nachdruck. „Wenn Sie schon meinen Wodka ausschlagen, hoffe ich, dass Sie wenigstens nichts gegen einen Tee einzuwenden haben.“
„Im Gegenteil, ich würde gern eine Tasse Tee mit Ihnen trinken, General.“
Jermolow bediente selbst den Samowar und reichte seinem Gast die Tasse. Er war noch immer ein großer, bärenstarker Mann, auch wenn das Alter schon unverkennbar tiefe Spuren hinterlassen hatte.
„Hm, wenn ich Sie so betrachte, Imam, dann könnte ich Sie mir gut als Sohn vorstellen, dem Alter nach, meine ich.“
„Ich bin schon dreiundsechzig“, wandte Schamil ein, „und mehrfacher Großvater.“
Jermolow schmunzelte. „Genau wie ich sagte, ich könnte Ihr Vater sein. Denn immerhin habe ich schon fast zwanzig Jährchen mehr auf dem Buckel.“
„Das hätte ich nicht gedacht“, gestand ihm Schamil überrascht. „Zehn Jahre vielleicht, aber nicht das Doppelte.“
„Der Altersunterschied ist wohl auch der Grund, warum wir uns im Kaukasus nie begegnet sind. Zu meiner Zeit hatten wir es noch mit Ihrem Vorgänger zu tun, mit Kasi Mullah.“
„Er war nicht mein Vorgänger.“
„Aber Sie waren sein Stellvertreter.“
„Und dennoch nicht sein Nachfolger.“
„Ja, richtig, dazwischen gab es noch einen gewissen Hamsat Beg. Sie galten damals als verschollen. Die meisten hielten Sie sogar für tot.“
„Die meisten wären an denselben Verwundungen sicher gestorben.“
„Ja, Imam, Sie waren immer ein harter Mann: hart gegen sich selbst wie gegen Ihre Feinde.“
„Genau wie Sie, General.“
„Wenn man stets vorher wüsste, wie alles endet, würde man vielleicht anders handeln.“
„Kommt diese Einsicht nicht immer erst dann, wenn es schon zu spät ist?“
„Wir alle wissen das, besonders wir Alten, aber die Jungen hören nicht auf uns. Sie wollen jedes Mal die Welt selbst erobern und neu gestalten. Erst wenn sie weise geworden sind, merken sie, was für einen Scherbenhaufen sie hinterlassen haben.“
„Und so geht es immer weiter.“
„Überlassen wir das lieber den Philosophen, die verstehen sich besser darauf. Wir beide sind alte Haudegen, und deshalb kann ich Ihre Leistung besonders würdigen. Ich habe großen Respekt vor Ihnen, Imam, und Ihren Soldaten. Wie haben Sie es eigentlich fertiggebracht, uns so lange die Stirn zu bieten – eine Handvoll gegen unsere Übermacht?“
„Das ist eine lange Geschichte, General, verbunden mit vielen Gründen.“
„Wir haben noch den ganzen Abend vor uns, Imam. Lassen Sie uns von früheren Zeiten sprechen, von Siegen und Niederlagen, vom Glanz vergangener Tage.“