Читать книгу Der Löwe vom Kaukasus - Helmut Höfling - Страница 20
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ОглавлениеSchneller als erwartet blies der Wind Hamsat Beg ins Gesicht. Nicht die Russen setzten ihm zu, die Blutrache seiner Landsleute sollte ihm zum Verhängnis werden.
Mord an einem Angehörigen wurde blutig gerächt, und wer der Blutrache zum Opfer gefallen war, durfte sicher sein, dass auch sein Tod wiederum gesühnt wurde. Generationen lang herrschte zwischen den verfeindeten Sippen dieses Gesetz, manchmal aber auch wurden in Kämpfen von nur wenigen Tagen und Nächten sämtliche Männer und Knaben niedergemacht und damit ganze Familien ausgerottet.
Im Kaukasus, dessen Bewohner sich alle zur Blutrache bekannten, durfte der Mord an Pachu-Bike und ihren Söhnen nicht ungesühnt bleiben. Als Vollstrecker fühlten sich Hadschi Murat, der bei der Ermordung der Fürstensöhne Zeuge gewesen war, und sein älterer Bruder Osman aufgerufen. Beide hatten in ihrer Jugend eine Zeitlang im Palast des Khans von Chunsach gelebt und den Söhnen Pachu-Bikes sehr nahegestanden. Als Kinder hatten sie oft miteinander gespielt. Außerdem war ihr eigener Vater nach dem Tode von Achmet Khan zum Stiefvater des jungen Fürsten Omar gewählt worden, ein Brauch, wie es bei den Kaukasiern üblich war. Darüber hinaus bestand zwischen ihnen noch eine engere, familienähnliche Bindung. Der ermordete Omar war ein Milchbruder von Osman und Hadschi Murat, da deren Mutter auch ihn genährt hatte. Das rührte von einer Gepflogenheit her, nach der Söhne kaukasischer Fürsten meist, außer von ihrer leiblichen Mutter, auch noch von Frauen der Edelleute gestillt wurden, um so eine symbolhafte Verwandtschaft herzustellen. Seine enge Verbundenheit mit der Fürstenfamilie von Chunsach bestimmte von nun an Hadschi Murats Weg. Er und Osman zettelten eine Verschwörung an. Einige Dutzend Muriden, die schon seit einiger Zeit mit ihrem Imam unzufrieden waren, da Hamsat Beg nicht die geheiligte Persönlichkeit war, wie sie einst erhofft hatten, schlossen sich ihnen an. Um der Sache des Muridismus durch sein Verhalten nicht länger zu schaden, hielten sie es für ratsam, ihn möglichst bald loszuwerden, am besten durch einen Märtyrertod.
Der Plan der Verschwörer blieb nicht geheim. Einer von ihnen, ein Vetter Osmans und Hadschi Murats, warnte Hamsat Beg vor dem Anschlag. Doch der Imam unternahm keinen Gegenzug.
„Wer kann die Todesengel abwenden, wenn sie kommen, um meine Seele zu holen?“, meinte er schicksalergeben. „Was Allah beschlossen hat, muss sich vollziehen.“
Tags darauf um die Mittagszeit, es war ein Freitag, rief der Muezzin vom Turm der Moschee die Gläubigen zum Gebet. Wie immer an diesem Wochentag, dem Gebetstag der Muslime, nahm auch Hamsat Beg, der Imam, mit seinem Gefolge an diesem Gottesdienst teil. Von Kopf bis Fuß in ihre Burkas gehüllt, die zottigen Schaffellkappen tief in die Stirn gezogen, gingen sie gemächlichen Schrittes auf die Moschee von Chunsach zu, einem niedrigen Gebäude aus grauen Steinen, das in seiner Schlichtheit und Anspruchslosigkeit das harte, karge Leben im Kaukasus widerspiegelte. An diesem Freitag im September, an dem sich die Berggipfel hinter tief hängenden Wolken verbargen, lastete eine ungewöhnliche Stille in den verlassenen Straßen der Stadt.
Lautlos wie sie auf ihren weichen Lederschuhen über das Kopfsteinpflaster geschritten waren, trat der Imam mit seinen Muriden in die Moschee, wo erst wenige Gläubige auf den Teppichen knieten. Hamsat Beg ging durch den kahlen und nur spärlich beleuchteten Raum zu seinem Platz und begann zu beten, umringt von seinem Gefolge.
Plötzlich entstand Unruhe im Hintergrund der Moschee. Die Männer, die dort im Schummerlicht wie im Gebet versunken auf den Teppichen gekauert hatten, schnellten plötzlich auf ein Zeichen hoch und huschten, Schatten gleich, zwischen den Säulen auf den Imam zu, angeführt von Osman und Hadschi Murat. Noch im Lauf schlugen die beiden Brüder ihre Mäntel zurück, zogen ihre Pistolen, die sie darunter versteckt hatten, schossen auf den aufspringenden Hamsat Beg und stießen ihm zudem ihre Dolche in die Brust, als er schon getroffen zu Boden sank.
In der ersten Überraschung hatte sich keiner vom Gefolge schützend vor den Imam werfen können, doch dann stürzte sich einer von ihnen auf Osman und tötete ihn. Hamsat Begs Anhänger feuerten nun aus Flinten und Pistolen und schlugen mit ihren Säbeln auf die Verschwörer ein. In den erbitterten Kampf, in den beide Parteien sich rasch verwickelten, griff nun auch die Bevölkerung ein, die plötzlich scharenweise von draußen in die Moschee drängte, um an dem Gemetzel teilzunehmen. Der Mord an Pachu-Bike und ihren Söhnen forderte ganz Chunsach zur Rache auf.
Durch den Waffenlärm alarmiert, stürmten weitere Muriden zur Moschee und stürzten sich ins Kampfgetümmel. So verzweifelt sie sich auch schlugen, der Übermacht der Awaren waren sie nicht gewachsen. Die meisten wurden niedergemacht, nur eine Schar von dreißig Mann rettete sich in eine hölzerne Befestigung, die bald in Flammen aufging.
Die Verschwörer hatten gründlich abgerechnet. Tote bedeckten den Boden der Moschee, die Gebetsteppiche waren blutdurchtränkt und die Mauern und Säulen von Einschüssen durchlöchert.
Hadschi Murat, einer der beiden Anführer der Verschwörung, hatte das Blutbad überlebt. Mit einem Sprung aus dem Fenster war er entkommen.